Allgemeine Frage, wie ist Erkenntnis aus reiner Vernunft möglich?
§ 5

[136] Wir haben oben den mächtigen Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile gesehen. Die Möglichkeit analytischer Sätze konnte sehr leicht begriffen werden; denn sie gründet sich lediglich auf dem Satze des Widerspruchs. Die Möglichkeit synthetischer Sätze a posteriori, d.i. solcher, welche aus der Erfahrung geschöpfet werden, bedarf auch keiner besondern Erklärung; denn Erfahrung ist selbst nichts anders, als eine kontinuierliche Zusammenfügung (Synthesis) der Wahrnehmungen. Es bleiben uns also nur synthetische Sätze a priori übrig, deren Möglichkeit gesucht oder untersucht werden muß, weil sie auf anderen Prinzipien, als dem Satze des Widerspruchs, beruhen muß.

Wir dürfen aber die Möglichkeit solcher Sätze hier nicht zuerst suchen, d.i. fragen, ob sie möglich sein. Denn es sind deren gnug, und zwar mit unstreitiger Gewißheit wirklich gegeben, und, da die Methode, die wir jetzt befolgen, analytisch sein soll, so werden wir davon anfangen: daß dergleichen synthetische, aber reine Vernunfterkenntnis wirklich sei; aber alsdenn müssen wir den Grund dieser Möglichkeit dennoch untersuchen, und fragen, wie diese Erkenntnis möglich sei, damit wir aus den Prinzipien ihrer Möglichkeit die Bedingungen ihres Gebrauchs, den Umfang und die Grenzen desselben zu bestimmen in Stand gesetzt werden. Die eigentliche mit schulgerechter Präzision ausgedruckte Aufgabe, auf die alles ankömmt, ist also:

Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?

Ich habe sie oben, der Popularität zu Gefallen, etwas anders, nämlich als eine Frage nach dem Erkenntnis aus reiner Vernunft, ausgedruckt, welches ich dieses mal ohne Nachteil der gesuchten Einsicht wohl tun konnte, weil, da es hier[136] doch lediglich um die Metaphysik und deren Quellen zu tun ist, man, nach den vorher gemachten Erinnerungen, sich, wie ich hoffe, jederzeit erinnern wird: daß, wenn wir hier von Erkenntnis aus reiner Vernunft reden, niemals von der analytischen, sondern lediglich der synthetischen die Rede sei.3

Auf die Auflösung dieser Aufgabe nun kommt das Stehen oder Fallen der Metaphysik, und also ihre Existenz gänzlich an. Es mag jemand seine Behauptungen in derselben mit noch so großem Schein vortragen, Schlüsse auf Schlüsse bis zum Erdrücken aufhäufen, wenn er nicht vorher jene Frage hat gnugtuend beantworten können, so habe ich Recht zu sagen: es ist alles eitele grundlose Philosophie und falsche Weisheit. Du sprichst durch reine Vernunft, und maßest dir an, a priori Erkenntnisse gleichsam zu erschaffen, indem du nicht bloßgegebene Begriffe zergliederst, sondern neue Verknüpfungen vorgibst, die nicht auf dem Satze des Widerspruchs beruhen, und die du doch so ganz unabhängig von aller Erfahrung einzusehen vermeinest; wie kommst du nun hiezu, und wie willst du dich wegen solcher Anmaßungen rechtfertigen? Dich auf Beistimmung der allgemeinen Menschenvernunft zu berufen, kann dir nicht gestattet werden; denn das ist ein Zeuge, dessen Ansehen nur auf dem öffentlichen Gerüchte beruht.[137]

Quodcunque ostendis mihi sic, incredulus odi. Horat.

So unentbehrlich aber die Beantwortung dieser Frage ist, so schwer ist sie doch zugleich, und, obzwar die vornehmste Ursache, weswegen man sie nicht schon längst zu beantworten gesucht hat, darin liegt, daß man sich nicht einmal hat einfallen lassen, daß so etwas gefragt werden könne, so ist doch eine zweite Ursache diese, daß eine gnugtuende Beantwortung dieser einen Frage ein weit anhaltenderes, tieferes, und mühsameres Nachdenken erfordert, als jemals das weitläuftigste Werk der Metaphysik, das bei der ersten Erscheinung seinem Verfasser Unsterblichkeit versprach. Auch muß ein jeder einsehender Leser, wenn er diese Aufgabe nach ihrer Federung sorgfältig überdenkt, anfangs durch ihre Schwierigkeit erschreckt, sie vor unauflöslich, und, gäbe es nicht wirklich dergleichen reine synthetische Erkenntnisse a priori, sie ganz und gar vor unmöglich halten, welches dem David Hume wirklich begegnete, ob er sich zwar die Frage bei weitem nicht in solcher Allgemeinheit vorstellete, als es hier geschieht und geschehen muß, wenn die Beantwortung vor die ganze Metaphysik entscheidend werden soll. Denn, wie ist es möglich, sagte der scharfsinnige Mann: daß, wenn mir ein Begriff gegeben ist, ich über denselben hinausgehen, und einen andern damit verknüpfen kann, der in jenem gar nicht enthalten ist, und zwar so, als wenn dieser notwendig zu jenem gehöre? Nur Erfahrung kann uns solche Verknüpfungen an die Hand geben (so schloß er aus jener Schwierigkeit, die er vor Unmöglichkeit hielt), und alle jene vermeintliche Notwendigkeit, oder, welches einerlei ist, davor gehaltene Erkenntnis a priori, ist nichts als eine lange Gewohnheit, etwas wahr zu finden, und daher die subjektive Notwendigkeit vor objektiv zu halten.

Wenn der Leser sich über Beschwerde und Mühe beklagt, die ich ihm durch die Auflösung dieser Aufgabe machen werde, so darf er nur den Versuch anstellen, sie auf leichtere Art selbst aufzulösen. Vielleicht wird er sich alsdenn demjenigen verbunden halten, der eine Arbeit von so tiefer[138] Nachforschung für ihn übernommen hat, und wohl eher über die Leichtigkeit, die nach Beschaffenheit der Sache der Auflösung noch hat gegeben werden können, einige Verwunderung merken lassen, auch hat es Jahre lang Bemühung gekostet, um diese Aufgabe in ihrer ganzen Allgemeinheit (in dem Verstande, wie die Mathematiker dieses Wort nehmen, nämlich hinreichend vor alle Fälle) aufzulösen, und sie auch endlich in analytischer Gestalt, wie der Leser sie hier antreffen wird, darstellen zu können.

Alle Metaphysiker sind demnach von ihren Geschäften feierlich und gesetzmäßig so lange suspendiert, bis sie die Frage: Wie sind synthetische Erkenntnisse a priori möglich? gnugtuend werden beantwortet haben. Denn in dieser Beantwortung allein besteht das Kreditiv, welches sie vorzeigen mußten, wenn sie im Namen der reinen Vernunft etwas bei uns anzubringen haben; in Ermangelung desselben aber können sie nichts anders erwarten, als von Vernünftigen, die so oft schon hintergangen worden, ohne alle weitere Untersuchung ihres Anbringens, abgewiesen zu werden.

Wollten sie dagegen ihr Geschäfte nicht als Wissenschaft, sondern als eine Kunst heilsamer und dem allgemeinen Menschenverstande anpassender Überredungen, treiben, so kann ihnen dieses Gewerbe nach Billigkeit nicht verwehrt werden. Sie werden alsdenn die bescheidene Sprache eines vernünftigen Glaubens führen, sie werden gestehen, daß es ihnen nicht erlaubt sei, über das, was jenseit der Grenzen aller möglichen Erfahrung hinausliegt, auch nur einmal zu mutmaßen, geschweige etwas zu wissen, sondern nur etwas (nicht zum spekulativen Gebrauche, denn auf den müssen sie Verzicht tun, sondern lediglich zum praktischen) anzunehmen, was zur Leitung des Verstandes und Willens im Leben möglich und sogar unentbehrlich ist. So allein werden sie den Namen nützlicher und weiser Männer führen können, um desto mehr, je mehr sie auf den der Metaphysiker Verzicht tun; denn diese wollen spekulative Philosophen sein, und da, wenn es um Urteile a priori zu tun ist, man es auf schale Wahrscheinlichkeiten nicht[139] aussetzen kann (denn was dem Vorgeben nach a priori erkannt wird, wird eben dadurch als notwendig angekündigt), so kann es ihnen nicht erlaubt sein, mit Mutmaßungen zu spielen, sondern ihre Behauptung muß Wissenschaft sein, oder sie ist überall gar nichts.

Man kann sagen, daß die ganze Transzendentalphilosophie, die vor aller Metaphysik notwendig vorhergeht, selbst nichts anders, als bloß die vollständige Auflösung der hier vorgelegten Frage sei, nur in systematischer Ordnung und Ausführlichkeit, und man habe also bis jetzt keine Transzendentalphilosophie: Denn, was den Namen davon führt, ist eigentlich ein Teil der Metaphysik; jene Wissenschaft soll aber die Möglichkeit der letzteren zuerst ausmachen, und muß also vor aller Metaphysik vorhergehen. Man darf sich also auch nicht wundern, da eine ganze und zwar aller Beihülfe aus andern beraubte, mithin an sich ganz neue Wissenschaft nötig ist, um nur eine einzige Frage hinreichend zu beantworten, wenn die Auflösung derselben mit Mühe und Schwierigkeit, ja sogar mit einiger Dunkelheit verbunden ist.

Indem wir jetzt zu dieser Auflösung schreiten, und zwar nach analytischer Methode, in welcher wir voraussetzen, daß solche Erkenntnisse aus reiner Vernunft wirklich sein: so können wir uns nur auf zwei Wissenschaften der theoretischen Erkenntnis (als von der allein hier die Rede ist) berufen, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft, denn nur diese können uns die Gegenstände in der Anschauung darstellen, mithin, wenn etwa in ihnen ein Erkenntnis a priori vorkäme, die Wahrheit, oder Übereinstimmung derselben mit dem Objekte, in concreto, d.i. ihre Wirklichkeit zeigen, von der alsdenn zu dem Grunde ihrer Möglichkeit auf dem analytischen Wege fortgegangen werden könnte. Dies erleichtert das Geschäfte sehr, in welchem die allgemeine Betrachtungen nicht allein auf Facta angewandt werden, sondern sogar von ihnen ausgehen, anstatt daß sie in synthetischem Verfahren gänzlich in abstracto aus Begriffen abgeleitet werden müssen.[140]

Um aber von diesen wirklichen und zugleich gegründeten reinen Erkenntnissen a priori zu einer möglichen, die wir suchen, nämlich einer Metaphysik, als Wissenschaft, aufzusteigen, haben wir nötig, das, was sie veranlaßt, und als bloß natürlich gegebene, obgleich wegen ihrer Wahrheit nicht unverdächtige, Erkenntnis a priori jener zum Grunde liegt, deren Bearbeitung ohne alle kritische Untersuchung ihrer Möglichkeit gewöhnlicher maßen schon Metaphysik genannt wird, mit einem Worte die Naturanlage zu einer solchen Wissenschaft unter unserer Hauptfrage mit zu begreifen, und so wird die transzendentale Hauptfrage in vier andere Fragen zerteilt nach und nach beantwortet werden.

1) Wie ist reine Mathematik möglich?

2) Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?

3) Wie ist Metaphysik überhaupt möglich?

4) Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?

Man siehet, daß, wenn gleich die Auflösung dieser Aufgaben hauptsächlich den wesentlichen Inhalt der Kritik darstellen soll, sie dennoch auch etwas Eigentümliches habe, welches auch vor sich allein der Aufmerksamkeit würdig ist, nämlich zu gegebenen Wissenschaften die Quellen in der Vernunft selbst zu suchen, um dadurch dieser ihr Vermögen, etwas a priori zu erkennen, vermittelst der Tat selbst zu erforschen und auszumessen; wodurch denn diese Wissenschaften selbst, wenn gleich nicht in Ansehung ihres Inhalts, doch, was ihren richtigen Gebrauch betrifft, gewinnen, und, indem sie einer höheren Frage, wegen ihres gemeinschaftlichen Ursprungs, Licht verschaffen, zugleich Anlaß geben, ihre eigene Natur besser aufzuklären.[141]

3

Es ist unmöglich zu verhüten, daß, wenn die Erkenntnis nach und nach weiter fortrückt, nicht gewisse schon klassisch gewordne Ausdrücke, die noch von dem Kindheitsalter der Wissenschaft her sind, in der Folge sollten unzureichend und übel anpassend gefunden werden, und ein gewisser neuer und mehr angemessener Gebrauch mit dem alten in einige Gefahr der Verwechselung geraten sollte. Analytische Methode, sofern sie der synthetischen entgegengesetzt ist, ist ganz was anderes, als ein Inbegriff analytischer Sätze: sie bedeutet nur, daß man von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich. In dieser Lehrart bedienet man sich öfters lauter synthetischer Sätze, wie die mathematische Analysis davon ein Beispiel gibt, und sie könnte besser die regressive Lehrart, zum Unterschiede von der synthetischen oder progressiven, heißen. Noch kommt der Name Analytik auch als ein Hauptteil der Logik vor, und da ist es die Logik der Wahrheit, und wird der Dialektik entgegengesetzt, ohne eigentlich darauf zu sehen, ob die zu jener gehörige Erkenntnisse analytisch oder synthetisch sein.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977, S. 136-142.
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