Fünftes Kapitel (176. Gegenstand).

Friedigung des Eroberten.

[635] Zwiefach ist des Eroberers Unternehmungstätigkeit: gerichtet auf Waldwildnis, gerichtet auf bloßes Kulturland.1 Und dreifach ist der Besitz, den er erlangtA1: neu, wieder erobert, und vom Vater her ererbt.

Nachdem er ein neues Gebiet erlangt hat, soll er die Fehler des (besiegten) Feindes mit seinen eigenen Vorzügen verdecken, (d.h. überstrahlen), dessen Vorzüge mit einem Doppelmaß von Vorzügen. Durch Erfüllung seiner eigenen besonderen Pflichten und durch die Erteilung von Gnaden (Unterstützungen), Abgabenbefreiungen, Schenkungen und Ehren soll er dem nachstreben, was den Untertanen lieb und heilsam ist. Wie verabredet worden ist, soll er die vom Feinde zu ihm Übergegangenen mit Gnaden bedenken und noch mehr den, der sich für ihn angestrengt hat.2 Denn wer sein Versprechen nicht erfüllt, wird ein Gegenstand des Argwohns für die Seinen und die Fremden; ebenso wer eine Verfahrens- und Lebensweise hat, die den Untertanen widerwärtig ist. Deshalb soll er dieselbe Wesensart (çīla), Tracht, [635] Sprache und Lebensweise annehmen (die sie haben). Und er soll es ihnen in ihrer frommen und treuen Hingebung an die Lokalgottheiten religiösen Jahrmärkte (oder Zusammenkünfte, samāja), Feste und Vergnügungen nachtun.3 Unter den führenden Männern des Landes, der Dörfer, der Kasten und der Verbände sollen seine Spione beständig auf des Feindes Übeltaten hinweisen, sowie auf ihres Herrn hohe Vortrefflichkeit und dessen liebevollen Eifer für sie und auf die vorfallenden Ehrungen durch ihren Herrn. Und er soll sie regieren und nutznießen, indem er für die ihnen gebührenden und altvertrauten Genüsse, Abgabenbefreiungen und Schutzvorrichtungen sorgt, und er soll dahin wirken, daß alle Gottheiten und all die (von der Religion vorgeschriebenen) vier Lebensstufen in Ehren gehalten, daß den an Wissen, Redekunst oder Frömmigkeit hervorragenden Männern Land- und Güterschenkungen und Exemptionen gewährt, daß alle Gefangenen (in dem neueroberten Land) befreit und die Elenden, Schutzlosen und Kranken unterstützt, und daß immer beim Beginn einer Jahreszeit von vier Monaten (cāturmāsyeshu) einen halben Monat lang, zur Zeit des Vollmonds vier Tage lang und zur Zeit der Konstellation des Landes oder des Königs einen Tag lang keine lebenden Wesen getötet werden. Den Mord der weiblichen Kinder4 und die Entmannung soll er verbieten. Und von welchem Brauch er glaubt, daß er verderblich für Schatz und Heer oder unrecht sei, den soll er abschaffen und dafür die rechte Verfahrensweise einführen.

Seine Räuber- und Diebesuntertanen und seine Mlecchastämme5 soll er zu einem Wohnortswechsel, der sie nie an einem Orte bleiben läßt, zwingen. Ebenso die Hauptleute in den befestigten Städten draußen im Reich und im Heer (die unter dem früheren Herrscher gedient haben). Und Ratgeber, Hauspriester usw., die vom Feinde Gnaden empfangen haben, soll er an wechselnden Orten an den Grenzen des (früheren) Feindes(landes) wohnen machen. Leute, die fähig sind ihm Leids zuzufügen, und solche, die den Untergang [636] ihres (früheren) Herrn rächen wollen,6 soll er durch die »stille Strafgewalt« zur Ruhe bringen. Entweder Männer aus seinem eigenen Lande oder solche (vom eroberten Gebiet), die vom Feinde gekränkt worden sind, setze er an die Stelle der also Entfernten. Und wenn ein Prätendent aus der Familie (des getöteten Feindes) da ist, der stark genug ist, schwer haltbares Gebiet (pratyādeya) wieder zu erobern oder, in den Wildnissen der Grenze wohnend, ein Edler, der imstande ist, Drangsal zu verursachen,7 dann soll er ihm ein wertloses Land geben; oder (soll ihm Land geben) indem er den vierten Teil aller Erzeugnisse eines wertvollen als Abgabe an Schatz und Heer auferlegt, so daß er, indem er ihm (dem Herrscher) selber Vorteil bringt, die Stadtbürger und die Landleute (jener Gegend) aufrührerisch mache.8 Durch diese Aufrührerischen soll er ihn dann (ruhig) töten lassen. Gegen wen die Untertanen bellen, den soll er ganz wegtun oder ihn in eine mörderische Gegend versetzen.

In dem wiedereroberten Gebiet soll er den Fehler der Reichsfaktoren, durch den es verloren gegangen ist, überdecken,9 und den Vorzug, durch den es ihm wieder zugefallen ist, steigern.

In dem vom Vater ererbten GebietA2 möge er die Fehler des Vaters überdecken und die Vorzüge hervorleuchten lassen.10

Einen sittlich guten Brauch, der bisher (von seinen Untertanen) nicht geübt, aber von anderen geübt worden ist,11 bringe er in Aufnahme; und er bringe keinen sittlich schlechten in Aufnahme, und wird ein solcher von anderen geübt, dann bringe er ihn in Abnahme.

Fußnoten

1 Wörtlich: »seinen Anfang, seine Grundlage darin habend«. Nach der gewöhnlichen Bedeutung freilich eher: »auf Waldwildnis usw. bezüglich, auf ein einziges Dorf usw. bezüglich«. Aber was soll da »usw.« Weitere Einwände habe ich schon früher genannt. Besonders hier, wo doch die Eroberung von Burgen behandelt wird, scheint »ein einzelnes Dorf« oder einzelne »Dörfer des Feindes« so gar nicht zu passen.


2 Oder: »und noch reichlicher (als ausgemacht ist), wenn sie sich für ihn angestrengt haben«.


3 Wohl kaum nur: »soll sie darin gewähren lassen«. Vgl. den vorhergehenden Satz und 406, 18–19.


4 Yonibāla »Vulvakind« wäre wohl am natürlichsten eine weibliche Geburt, ein Mädchen. Freilich auch »Uteruskind« wäre denkbar, also Kind im Mutterleib. Doch dann stünde höchst wahrscheinlich das bekannte garbhavadha. Am fernsten liegt wohl »der Mord von Frauen und Kindern« für yonibālavadha, denn Frauenmord gilt den Indern als Greuel aller Greuel, und das eroberte Gebiet ist nach allem, was wir sehen können, Arierland. Die kleinen Mädchen aber bildeten da bekanntlich eine Ausnahme; sie waren ja auch keine Frauen.A3


5 Oder: »alle, die eine Diebesnatur haben (coraprakṛiti) und die von der Art der Barbaren sind (mlecchajātīya)«? »Räuber- und Diebesuntertanen« ist für Indien ganz natürlich; denn auch die Räuber und die Diebe sind eine vollkommen selbstverständliche Bevölkerungsklasse, deren eigene Gesetze, Sitten und Lebensbetätigungen nicht angetastet werden dürfen. Der Verbrecher hat ein heiliges Recht, zu rauben, zu stehlen und – gepfählt zu werden.


6 Wörtlicher: »den Untergang nachtragen«. Lies anukshipato und vgl. 239, 17.


7 Oder ist abhijāta gebraucht wie MBh. K XII, 138, 72 im Sinne von »geeignet«? Dann: »Der fähig ist, schwer haltbares Gebiet wieder zu erobern oder, wenn er in den Wildnissen an der Grenze wohnt (wohnen muß), dazu angetan, Drangsal zu bereiten«.


8 So wahrscheinlicher als: »soll er ihm ein wertloses Land geben oder das Viertel von einem wertvollen, damit er dort durch Festsetzung von (schweren) Abgaben für Schatz und Heer« usw. Auch die naheliegende Änderung von upakurvāṇah in apakurvāṇaḥ »indem er ihnen Schaden zufügt« (durch die Besteuerung und die Grausamkeiten, die zur Eintreibung nötig sind) unterbleibt besser. Der Sieg der Staatskunst wäre da weniger glänzend, nicht so diabolisch.


9 D. h. in Vergessenheit bringen, wegwischen, abtun (chādayet). Vgl. 408, 3; 406, 17; 318, 18.


10 Wessen Vorzüge? Der Satzkonstruktion, dem prakāçayed »ins Licht stellen, verkünden« und wohl auch dem gleichlaufenden Abschnittchen nach, das unmittelbar vorhergeht, die des Vaters. Vielleicht aber doch die eigenen.


11 Näher läge: »einen (vorher überhaupt) nicht geübten und einen von anderen geübten sittlich und religiös guten Brauch.« Aber Bräuche (caritra, dharma) sind etwas schon Bestehendes. Neuer Brauch bedeutet einen Widerspruch in sich selber, besonders in Indien, ja eine Gottlosigkeit und ein Verbrechen schlimmster Art. Vgl. auch 376, 18. So scheint es mir, daß die oben gegebene Auffassung weniger Bedenken ausgesetzt ist. Ich finde sie bei Sham. wieder.


A1 Nach Gaṇ.'s Erklärung müßte es heißen: Die Eroberung bezieht sich auf dreierlei: 1. auf Neues (vorher nie Inngehabtes), 2. auf Wiedererobertes, das unter dem jetzigen König verloren gegangen war, 3. auf etwas, was schon unter seinem Vater verloren gegangen war. – Vgl. Nītiv. 120, 6; zum ganzen Kap. M. VII, 201–203; Y. I, 342; Vish. III, 42–49; Nītiv. 126, 13; Çukran. IV, 7, 751–55; 801–809; 4, 111.


A2 Nach Gaṇ. also: »in dem schon unter seinem Vater verloren gegangenen Gebiet.« Zu Z. 18–19 vgl. Raghuv. IV, 9; Çukran. III, 486.


A3 Gaṇ. sagt, yonibāla seien junge weibliche Tiere wie z.B. Hennen. Dann ginge auch das Verbot der Entmannung nur auf die Tiere. Aber mir scheint diese Auffassung verkehrt zu sein. Yoni allein schon bedeutet übrigens Weib, Frau (z.B. in Vas. I, 33).

Quelle:
Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthaçāstra des Kauṭilya. Leipzig 1926, S. 635-637.
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