Neuntes Kapitel (5. Gegenstand).

Die Ernennung des obersten Ratgebers und des Hauspriesters.

[12] EinheimischA1, von guter Herkunft, zügelbar,1 kunstgeübt, mit wirklichem Auge begabt,2 einsichtig, ausdauernd,3 geschickt, beredt, zuversichtlich, in jeder Lage sich zu helfen wissend, ausgestattet mit Willenskraft und Wirkenstüchtigkeit, Mühsalen gewachsen, lauter, freundlich, treu in der hingebenden Liebe, ausgerüstet mit gutem Charakter, Körperkraft, Gesundheit und mutig festem Wesen, frei von Aufgeblasenheit4 und Flattersinn, liebenswürdig im Umgang und kein Erreger von Feindschaften – das ist ein vollkommener Minister;5 wer ein Viertel dieser Tugenden weniger hat, ein mittelmäßiger, wer die Hälfte, ein schlechter.

Was diese Eigenschaften betrifft, so soll der Fürst die Landesherkunft und die Zügelbarkeit von vertrauten Bekannten (des Betreffenden) erforschen; von solchen, die die gleichen Wissenschaften pflegen, die Kunst und das wissenschaftlich geschulte Auge;6 bei der Inangriffnahme von Geschäften [12] Einsicht, Ausdauer und Geschicklichkeit; in der Unterhaltung Beredsamkeit, Zuversichtlichkeit und Mutterwitz;7 im Unglück Willenskraft, Wirkenstüchtigkeit8 und die Fähigkeit Mühsale zu ertragen; aus dem täglichen Verkehr Lauterkeit, Freundlichkeit und treue Ergebenheit; von denen, die mit ihm zusammenwohnen, Charakter, Körperkraft, Gesundheit und mutig festes Wesen, sowie die Freiheit von Aufgeblasenheit und Flattersinn; durch die unmittelbare Wahrnehmung Liebenswürdigkeit im Umgang und verträgliche Gemütsart.

Die Tätigkeit eines Fürsten gründet sich nämlich auf drei Dinge: das von ihm unmittelbar Wahrgenommene, das seiner Wahrnehmung Entzogene und das Erschlossene. Was man selber gesehen (durch die Sinne wahrgenommen hat), ist das unmittelbar Wahrgenommene. Was Andere einem mitgeteilt haben, ist das der unmittelbaren Wahrnehmung Entzogene. Wenn man beim Handeln mit Hilfe des Geschehenen das noch nicht Geschehene erwägend schaut, so ist dies das Erschlossene.9

Damit aber infolge der Gleichzeitigkeit der Geschäfte und ihrer Mannigfaltigkeit und verschiedenen Örtlichkeit der richtige Ort und die richtige Zeit nicht versäumt werde, möge er das seiner unmittelbaren Wahrnehmung Entzogene durch Genossen besorgen lassen. Das ist der Genossen Amt.10

Zum Hauspriester soll er einen machen, der hoch, hoch emporragt an Familie und Charakter,11 gründlich geschult ist im Yeda und seinen sechs Hilfswissenschaften, in Götterzeichen,12 Vorbedeutungen und Staatskunde, und [13] der imstande ist, von Göttern und Menschen kommendem Unheil mit Zaubersprüchen und Abwehrmitteln entgegenzuarbeiten. Ihm soll er folgen wie dem Lehrer der Schüler, wie dem Vater der Sohn und wie der Diener dem Herrn.

Wenn die Kriegerschaft13 vom Brahmanen gefördert und vom Rate der Ratgeber beraten wird,14 so siegt sie, selber immerdar unbesiegt,15 folgt sie nur der Lehre, auch ohne Wehre.

Fußnoten

1 Avagraha bedeutet bei Kauṭ. Weghaltung, Niederhaltung, Duckung, Unterdrückung, zu Boden drücken, Abtun (273, 16; 274, 8; 307, 8; 316, 2 usw.); anavagraha der nicht zurückgehalten werden kann, keine Vernunft annimmt, eigenwillig, unzügelbar (28, 8; 324, 9). Svavagraha ist also einer, der sich leicht zurückhalten läßt, vernünftigen Vorstellungen usw. zugänglich ist, zügelbar. Wir haben kein gutes Wort dafür, während im Englischen sowohl restrainable als amenable (to reason etc.) gute Dienste täte. »Einflußreich« ist ganz falsch, »leicht lenkbar« bedenklich. Nachträglich sehe ich, daß Çaṅk. zu Kām. IV, 94 meine Auffassung bestätigt.


2 Wie gleich aus dem folgenden hervorgeht, ist das Auge im eigentlichsten Sinne des Wortes gemeint, d.h. das çāstra oder Lehrbuch, die Wissenschaft, hier natürlich vor allem die Staatsweisheit. Vgl. Raghuv. IV, 13.


3 Dhārayishṇu hat dem Anschein nach schon Kām. in dem Sinn: »mit gutem Gedächtnis begabt« aufgefaßt; denn er bietet in der Parallelstelle (IV, 29) dhāraṇānvita dafür. Auch dhārayishṇutā bei ihm (IV, 33; I, 23) wird von Çaṅk. ebenso ausgelegt. Aber die Bildungsweise deutet eher auf »Geduld«, wie es, obschon zweifelnd, B. wiedergibt. Auch sachlich paßt wohl »ausdauernd« besser, obgleich ja das gute Gedächtnis bei Geschäften sehr wichtig ist.


4 Stambha Starrheit, Steifheit, Unbeweglichkeit, wie es Sham. und Jolly fassen, liegt hier wegen cāpala sehr nahe, nur wird es, ebenso wie Kāmandakas stabdhatā (IV, 39) meines Wissens nur von körperlicher Starrheit und von geistiger Aufgeblasenheit gebraucht.


5 Wörtl.: »das ist die Vollkommenheit (oder: die Vollzahl der Eigenschaften) bei einem Minister«. Sampad bedeutet Vollzahl, Fülle, Gesamtheit, Gesamtdarstellung, (erschöpfende) Aufzählung oder Charakterisierung, Charakteristika, Erfordernisse, Befähigung, Tüchtigkeit, Vollkommenheit (28, 16; 29, 7; 68, 2; 347, 13 usw.). Mit dem Tugendverzeichnis des amātya vgl. Kām. IV, 24ff.; XVI, 31; Manu VII, 54ff.


6 Das klingt freilich etwas neuzeitlich europäisch. Çāstracakshushmant ist einer, dessen Auge das çāstra, hier im besonderen das arthaçāstra oder die Staatslehre, ist. Ohne dasLehrbuch ist der Mensch blind, grade wie ein Heer ohne Führer (335, 11). Es ist also hier die Rede von theoretischem Wissen, und so wird çilpa (vgl. kṛitaçilpa, Z. 2) ebenfalls auf die Ausbildung gehen. Nur ist es nicht ganz klar, ob hier die Regierungskunst gemeint ist (kṛitaçilpa = der sein Handwerk gelernt hat) oder die Künste überhaupt, die zu einem gebildeten Manne gehören.


7 Pratibhānavant ist einer, dem gleich etwas einfällt, der überall das Richtige trifft, daher auch geistesgegenwärtig, schlagfertig, geistreich usw. Es ist dasselbe wie das vorhergehende pratipattimant »sich in jeder Lage zu helfen wissend« (voll Geistesgegenwart usw.).


8 Prabhāva, gewöhnlich die Herrschenhacht des Fürsten, bedeutet hier und an ein paar anderen Stellen die Kraft, wirklich etwas zu machen, Schaffens- und Wirkenskraft, mit Einschluß der resourcefulness, was dann an pratipatti und pratibhāna streift. Diese meine Vermutung wird durch Çaṅk. zu Kām. VII, 24 gestützt; denn er umschreibt mit svakāryasādhanasāmarthya.


9 Oder wörtlicher: »dessen, was (früher) getan worden ist, das noch nicht Getane«. Es wird sich weniger um analytisches oder intuitives Denken als um die allmächtige Gottheit Präzedenz handeln. Ist doch besonders Indien das gelobte Land des Herkommens. Jolly übersetzt nach Shamasastris Vorgang: »Rückschlüsse bei Handlungen von Geschehenem auf Ungeschehenes sind das Erschließbare«. Im folgenden lies yauga padyāt.


10 Vielleicht eher: »Soviel von der Anstellung von Genossen.«


11 Uditodita kann aber auch heißen: »hervorragend im überlieferten Wissen« (wörtlich in dem Verkündeten, Gelehrten). Da Yājñavalkya den Ausdruck so gebraucht, spricht eine starke Wahrscheinlichkeit für dieselbe Bedeutung an unserer Stelle. Die Übersetzung aber wäre etwas langstielig: »dessen Familie hervorragt an überliefertem Wissen und dessen Charakter und Wandel in hervorragendem Maße mit diesem übereinstimmen«.


12 Daiva. Nach Gaṇ. Astrologie.


13 Oder: das Königtum, die Könige. Über die Minister, den Ratgeber (mantrin), die Ratgeber (es sind deren drei oder vier), das Ratgeberkollegium und die Unterschiede und Aufgaben der einzelnen hat lichtvoll Stein gehandelt (Megasthenes und Kauṭilya 175ff.).


14 Dies schiene hier der natürliche Sinn von abhimantrita zu sein. Nach der gewöhnlichen Bedeutung aber: »geweiht, schützend gefeit wird«, wozu die von Gaṇ. verzeichnete Lesart abhirakshita vorzüglich stimmt.


15 Oder: ersiegt sie unendliches Unersiegtes (d.h. macht sie endlose neue Eroberungen).


A1 Wegen »einheimisch« vgl. Nītiv. 26, 1: »Von allen Parteinahmen ist die für die eigene Heimat die stärkste.«

Quelle:
Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthaçāstra des Kauṭilya. Leipzig 1926, S. 12-14.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Apuleius

Der goldene Esel. Metamorphoses, auch Asinus aureus

Der goldene Esel. Metamorphoses, auch Asinus aureus

Der in einen Esel verwandelte Lucius erzählt von seinen Irrfahrten, die ihn in absonderliche erotische Abenteuer mit einfachen Zofen und vornehmen Mädchen stürzen. Er trifft auf grobe Sadisten und homoerotische Priester, auf Transvestiten und Flagellanten. Verfällt einer adeligen Sodomitin und landet schließlich aus Scham über die öffentliche Kopulation allein am Strand von Korinth wo ihm die Göttin Isis erscheint und seine Rückverwandlung betreibt. Der vielschichtige Roman parodiert die Homer'sche Odyssee in burlesk-komischer Art und Weise.

196 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon