Zehntes Kapitel (116. Gegenstand).

Übereinkunft um Land zu erlangen.

[452] »Du und ich wollen beide Land gewinnen«, das ist ein Übereinkommen (Bündnis) um Land.

Wer von den zweien, wenn die Sache an ihn herangetreten ist,1 ein reichgesegnetes Land erlangt, der hat den Vorteil. Wenn der Gewinn an gesegnetem Land gleich ist, so hat der, der ein Land bekommt, indem er einen starken Feind niedertritt, das beste Teil erwählt. Denn er erringt Gewinn an Land, Schwächung des Feindes und Herrscherglanz (Prestige, pratāpa). Gewinnt man einem Schwachen Land ab, so ist es eine unschöne Sache: schwach nur ist einerseits der Gewinn an Land und andererseits wird der Grenznachbar dieses Landes aus einem Freunde zum Feind.2

[452] Wo die Stärke (der niedergeworfenen Feinde) die gleiche ist, da ist der im Vorteil, der einen Feind, welcher (in seiner Burg) einen festen Stand hat, vernichtet und so das Land gewinnt. Denn die Einnahme der Burg dient zum Schutz des eigenen Landes und zur Abwehr der Freunde und Waldstämme.3

Erlangt man Land von einem beweglichen (d.h. burgenlosen) Feinde, so kommt von dem, das leicht handhabbare4 Nachbarn hat, der größte Gewinn. Denn hat es schwache Nachbarfürsten, dann ist es rasch zu Gedeihen und Wohlfahrt zu bringen. Entgegengesetzt verhält es sich mit dem, das starke Nachbarfürsten hat. Dies wird zu einem schlechten Lande, dadurch daß es Schatz und Heer zugrunde richtet.5

Was ist besser: ein reich gesegnetes Land mit ständigen Feinden oder eins von geringen Vorzügen, aber mit nur vorübergehenden Feinden?

»Das reich gesegnete Land mit den ständigen Feinden ist das bessere Land; denn das reichgesegnete bringt einen Schatz und ein Heer hervor. Und diese beiden schlagen die Feinde zurück«. So die Lehrer.

Nein, also Kauṭilya. In dem Gewinn eines Landes mit ständigen Feinden liegt nur ein größerer Gewinn an Feinden. Und ein ständiger Hasser bleibt ein Hasser, ob man ihm nun Liebes oder Leides zufügt. Ein nur vorübergehender Feind aber wird dadurch friedlich, daß man ihm Gutes tut oder doch nichts Böses. Ein Land nämlich, dessen Grenze viele Burgen (wohl: der Landesfeinde) hat und niemals frei ist von Räuberbanden oder Mleccha-Waldstämmen, das ist eins mit ständigen Feinden. Ist das Gegenteil der Fall, dann eins mit vorübergehenden Feinden.

Ist besser ein kleines und in der Nähe befindliches oder ein großes und weitentferntes Land? Ein kleines in der Nähe ist besser; denn es ist leicht zu erobern, zu bewahren und zur Hilfe zu rufen. Gegenteilig verhält es sich bei dem entfernten.

[453] Ob nun, weit entfernt oder nahe, welches ist besser: das durch ein Heer in Ordnung gehaltene oder das, das sich selber in Ordnung hält? Das, das sich selber in Ordnung hält, ist besser; denn es wird mit dem aus ihm selber stammenden Schatz und Heer in Ordnung gehalten. Gegenteilig verhält es sich bei dem, das durch ein Heer in Ordnung gehalten wird; das ist (nur) Anlaß zu Militär.6

Ist besser Gewinn an Land, das von einem Dummkopf kommt, oder von einem Klugen? Gewinn an Land von einem Dummkopf ist besser. Denn es ist leicht zu bekommen und zu schützen und braucht nicht wieder zurückgegeben zu werden. Gegenteilig verhält es sich mit dem von einem Klugen; das ist (seinem früheren Herrn) treu ergeben.

Handelt es sich um einen, der nur drangsaliert werden und einen, der ausgetilgt werden kann, so ist Landgewinn, der von einem Auszutilgenden kommt, besser. Denn der Austilgbare hat keinen Rückhalt oder doch nur einen schwachen Rückhalt, und wird er angegriffen und will mit Schatz und Heer entweichen, so wird er von seinen Untertanen verlassen. Nicht aber der nur Drangsalierbare; der ist gestützt durch Freund und Burg.

Handelt es sich um zwei Burggestützte und hat der eine eine Landburg und der andere eine Flußburg, so ist Landgewinn von dem mit der Landburg vorzuziehen. Denn die Landburg ist leicht zu belagern, niederzubrechen und zu ersteigen, und der (belagernde und bestürmende) Feind kann da nicht mit Wasser überschwemmt werden. Die Wasserburg aber verursacht doppelte Mühsal, und das Wasser gibt dem (belagerten) Widersacher zu trinken und schafft ihm Lebensunterhalt.7

Hat der eine eine Flußburg und der andere eine Bergburg, so ist Landgewinn von dem mit der Flußburg vorzuziehen. Denn der Flußburg kann man durch Elefanten, Stege aus Baumstämmen,8 Brückenbauten und Boote beikommen, sie hat nicht beständig tiefes Wasser, und das Wasser kann [454] abgeleitet werden. Die Bergburg aber ist leicht zu verteidigen,9 schwer (durch den Belagerer) abzusperren, schwierig zu ersteigen, und ist eine Befestigung gebrochen, so sind doch nicht alle zerstört, und man kann Felsstücke und Bäume auf die schlimmen Bedränger hinabwerfen.

Kämpfen die einen im Tiefland (in morastiger, wasserreicher Gegend) und die anderen auf hochgelegenem Land, so ist Landgewinn von den im Tiefland Kämpfenden vorzuziehen. Denn die Kämpfer im Tiefland sind behindert, was Ort und Zeit anlangt; die Kämpfer auf hochgelegenem Land aber können an allen Orten und zu jeder Zeit kämpfen.

Handelt es sich um solche, die in Gräben und solche, die aus freier Luft kämpfen, so ist Landgewinn von den in Gräben Kämpfenden vorzuziehen. Denn die Grabenkämpfer brauchen beides zum Kampf: Graben und Waffe, nur die Waffe aber die Freiluftkämpfer.10

Wenn der Kenner der Staatsweisheit (des Arthaçāstra) von solchen Leuten Land erlangt, dann bringt er es zu einer seine Verbündeten und seine Feinde überragenden Stellung.

Fußnoten

1 D. h. wenn er so etwas nötig hat. Oder: »wenn er an die Sache herangetreten ist«, d.h. sie unternimmt, was etwas müßig wäre. Wie das Folgende und 293 15, zeigen, muß man pratyupasthitārthaḥ saṃpannām lesen.


2 Nach indischer Lehre ist ja der Nachbarfürst selber ein Feind, der Nachbarfürst des Nachbarfürsten aber als dessen Feind ein Freund des »Eroberers«. Ich lese saty asaundaryaṃ statt satyaṃ saundaryam: »Wenn Gewinn von Land (wirklich) da ist, ergibt sich eine Unschönheit (etwas Unschönes)«. Sati ist in gedrungenem Stil etwas auffällig, aber wir haben es, durch die Sache selber weniger gerechtfertigt als hier, auch 162, 1, da allerdings im Vers, und 317, 8. Auch satyam asaundaryam gäbe einen guten Sinn: »ist in Wahrheit eine unschöne Sache«. Die Lesart satyaṃ saukaryaṃ bhavati »ist zwar eine leichte Sache«, empfiehlt sich nicht, schon weil dann tu nicht fehlen dürfte, das auch Kauṭ. sonst nach satyam (»in Wahrheit, zwar«) gebraucht. Es statt ca einzusetzen geht auch deshalb nicht, weil dann das ca – ca »sowohl – als auch« zerstört würde.A1


3 Wohl des Besiegten. Nicht unmöglich aber auch des Siegers. Denn auch, vor den eigenen Freunden, von den Waldstämmen des Reiches ganz zu schweigen, gilt es auf der Hut zu sein. Aber der Zusatz ist eigentlich unnötig und mit amitra »zur Abwehr der Widersacher und der Waldstämme«A2 würde das noch schlimmer. Er mag unrichtig sein. Lies sthitaṃ und vgl. 300, 5.


4 Çakya easy to handle, easy to manage, dann besiegbar.


5 Oder nach der Lesart – āvacchedanī ca bhūmir bhavati: »Gegenteilig geartet ist das Land, das mächtige Nachbarn hat und das Schatz und Heer auffrißt«.


6 Oder: »Standort für Militär«? Nach dem Muster des vorhergehenden und des folgenden Abschnittchens muß man wohl daṇḍadhāraṇā daṇḍasthānam lesen. Sonst: »das gegenteilige ist nur Anlaß (Standort) für Militär, das Land in Ordnung zu halten«.


7 Der Fluß liefert Fische und andere Nahrung und mit dem Wasser kann man auch Bodenerzeugnisse bewässern. – Der Sprung, daß zuerst çatru der Belagerer, dann amitra der Belagerte sein soll, bräche der im Text gegebenen Übertragung nicht den Hals (vgl. auch mahāpakārin 293, 1–2). Aber es wird doch, wie ich glaube, besser sein aniḥsrāviçatruA3 zu lesen: »und der Feind kann da nicht hinausschlüpfen«, d.h. er wird bei der Eroberung der Burg mitgefangen, oder auch: er ist viel besser abgeschnitten von aller Verbindung mit der Außenwelt. Da wäre, wie schon das gleich folgende apasrāvin »abfließen machend« zeigt, niḥsravin besser, wohl aber kaum notwendig. Vgl. das schon besprochene apasravati.


8 Stambhasaṃkrama. Vielleicht sind damit einfach entästete Baumstämme gemeint, die ins Wasser geworfen und einer vor den anderen geschoben werden, so daß ein Verbindungsstrang entsteht.


9 Weniger wahrscheinlich: »ist durch sich selber geschützt« (svārakshya).


10 Oder: »können mit Graben und Waffe bekämpft werden, nur mit der Waffe aber die Luftkämpfer«. Auf die in Gräben Kämpfenden kann man ja selber Gräben und durch diese Wasser hinführen. Eine herrliche Gelegenheit wäre hier für indische Patrioten zu zeigen, daß schon Altindien den Schützengrabenkampf und die Luftflotte und die großen Vorteile der letztgenannten kannte. Aber die im Kauṭ. öfters erwähnten Luftkämpfer sind jedenfalls nur solche, die von hohen Posten verschiedener Art herabschießen. Wahrscheinlich aber nicht einmal das. Ākāçe heißt ja nicht nur »in der Luft«, sondern noch häufiger »im Freien« »auf freiem, weitem Orte«. Also wohl besser: »Kämpfer in freiem (ungeschütztem) Gelände« »auf offenem Feld«.


A1 Der Gedanke kehrt zum Teile wieder in einem scheußlichen Prunkstück der altind. Poesie, in Kirāt. XV, 14:


Na nonanunno; nunnono nā 'nā, nānānanā, nanu!

Nunno 'nunno nanunneno; nānenā nunnanunnanut.


Ich übersetze: »Nicht ein Mann ist der von einem Geringeren in die Flucht Gedrängte. (Und) nicht wahr, ihr mit den verschiedenartigen Gesichtern, ein Mann, der einen Geringeren bedrängt, ist ein Unmann! Ein in die Flucht Gedrängter ist (in Wirklichkeit) kein in die Flucht Gedrängter, solange sein Herr nicht in die Flucht gedrängt ist. Und schuldlos ist der Mann, der einen, welcher einen Bedrängten bedrängt, (nun seinerseits den Schwachen rettend) in die Flucht drängt.« Das hier angeredete fliehende Gefolge des Skanda ist ja zum großen Teil tiergesichtig. Siehe mein »Weib« S. 419 und MBh. IX, 44, 24ff.; 79ff. Ähnlich Çiçup. II, 61: »Die Staatsweisheit, daß man gegen den im Unglück befindlichen Feind ziehen solle – das gereicht dem Stolzen zur Scham. Wie der Mond dem (Mondverschlinger) Rāhu, so bereitet (nur) der Vollkräftige ihm ein Fest.«


A2 Gaṇ. hat amitra. Am Ende geht dies doch.


A3 Gaṇ. hat aniḥsrāviçatru. Also »und der Feind (in der Burg) kann da nicht hinausschlüpfen« statt: »und der (belagernde) Feind kann da nicht mit Wasser überschwemmt werden«. Wegen der verschiedenen Arten von Burgen oder Festungen ihres Wesens und des Vorzugs der einen vor der anderen vgl. M. VII, 70–76; Vish. III, 6; MBh. XII, 56, 35f.; 86, 3ff.; Kām. IV, 55ff.; Çukran. IV, 6, 2ff.; Nītiv. 79, 6ff.

Quelle:
Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthaçāstra des Kauṭilya. Leipzig 1926, S. 452-455.
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