Erstes Kapitel (162. Gegenstand).

Aufgaben des Gesandten.

[594] »Von einem Stärkeren angegriffen, soll sich der Schwache in allen Fällen demütig beugen nach der Art des Rohrs. Denn vor Indra beugt sich, wer sich vor dem Stärkeren beugt«. So Bhāradvāja.A1

»Mit dem ganzen Aufgebot seiner Truppen soll er kämpfen. Denn die Tapferkeit tilgt das Unheil hinweg, und dies ist die ureigene Pflicht des Kriegers: Sieg oder Niederlage in der Schlacht.« So Viçālāksha.

Nein, also Kauṭilya. Wer sich in allen Fällen demütig beugt, der weilt hoffnungslos im Leben wie ein KüstenschafA2. Und wer, nur mit einen kleinen Heere ausgerüstet, kämpft, der geht zugrunde wie einer, der ohne Schiff ins Meer hinausdringt. Aber unter den Schutz eines Königs, der mächtiger ist als jener, oder in eine uneinnehmbare Burg sich flüchtend, möge er sich betätigen.

Dreierlei Angreifer gibt es: den gerechten Eroberer, den habgierigen Eroberer, den teuflischen Eroberer.A3 Von diesen gibt sich der gerechte Eroberer (dharmavijayin) mit der Ergebung zufrieden. Dem möge er sich ergeben. Auch aus Furcht vor anderen. Der habgierige Eroberer (lobhavijayin) gibt sich mit der Wegnahme von Land und Gut zufrieden. Dem ergebe er sich unter Drangabe von Geld und Gut. Nur mit dem Raub von Land, Gut, Söhnen, Frauen und Leben (des Besiegten) gibt sich der teuflische Eroberer (asuravijayin) zufrieden. Den möge er mit Land und Gut gewinnen und so, daß der andere ihn nicht anfassen kann, Gegenmaßregeln ergreifen.2

[594] Wenn sich irgendeiner von diesen dreien (gegen den schwachen Fürsten) erhebt, soll er durch einen Friedensvertrag oder mit Kampf der Staatskunst oder mit Kampf der Hinterlist gegen ihn ausrücken. Die jenem feindliche Partei (d.h. die Untertanen, die dem drohenden Fürsten übel gesinnt sind) möge er mit Freundlichkeit und Geschenken die jenem günstige Partei durch Zwietrachtsäen und Gewaltmittel, Festung, Reichsland oder Heerlager des Feindes mögen seine Geheimdiener mit Waffen, Gift und Feuer in seine Gewalt bringen.3 Von allen Seiten lasse er den Feind im Rücken packen. Oder er lasse durch Waldstämme sein Reich verwüsten oder es ihm durch einen Prätendenten aus seiner Familie oder einen, den er eingekerkert oder gekränkt hat (avaruddha), rauben. Und am Ende solcher Feindseligkeiten schicke er an ihn einen Gesandten. Oder die Vertragung (mit Hilfe eines Gesandten) findet ohne vorhergehende Feindseligkeiten statt. Rückt der Feind trotz allem noch vor, dann bitte er ihn um den Preis von einem Viertel oder mehr seines Schatzes und Heeres um Frieden oder um einen solchen, bei dem es sich um vierundzwanzig Stunden oder mehr handelt.4

[595] Wenn der Feind einen »Heerfrieden« verlangt, dann gebe er ihm die feuerlosen5 Rosse und Elefanten oder die künstlich erregten, denen man Gift beigebracht hat.6

Wenn er einen »Männerfrieden« verlangt, dann gebe er ihm sein Heer von verräterischen Elementen, sowie seine dem Feinde abgenommenen Truppen oder seine Waldstammtruppen, befehligt von seinen Agenten. Er mache es so, daß beide Verderben ereilt (diese seine eigenen ihm gefährlichen Leute und den Feind). Oder er gebe ihm ein Heer von Bravi. (Vom Gegner) verächtlich behandelt, wird es feindlich gegen ihn auftreten. Oder sein Heer von ererbten treuergebenen Soldaten (gebe er ihm), damit es ihm, wenn er in mißlicher Lage ist, Leid zufüge.

Wenn er einen »Schatzfrieden« verlangt, gebe er ihm (aus seinem Schatze) wertvolle Ware, für die er keinen Käufer findet, oder Rohstoffe, die nicht für den Krieg taugen.

Wenn, er einen »Landfrieden« verlangt, dann gebe er ihm Land, das wieder herausgegeben werden muß, oder das ständige Feinde hat, oder das unbeschützt daliegt, oder das nur mit großen Unkosten und Menschenverlusten besiedelt werden kann. Sogar um all das Seine, mit Ausnahme der Residenzstadt, begehre er Frieden von einem Stärkeren.

Er gebe als Mittel der Politik, was ihm der andere doch rauben würde. Sein Leben rette er, nicht sein Gut. Warum sollte er mit dem vergänglichen Gute schonendes Erbarmen haben!A4

Fußnoten

1 Ābalīyasa bedeutet also, wie ich glaube, »auf das bis zum Stärkerwerden bebezüglich« (ā + balīyas + a); hier also wörtlich: »Auf das Biszumstärkerwerden Bezügliches.« Unmöglich wäre freilich die Ableitung von a + balīyas nicht. Dann einfach: »Verhalten des Schwächeren«. Ganz fehl aber geht Sham.'s »Concerning a Powerful Enemy« und Jollys: »Ein übermächtiger Feind«.


2 Vgl. Vallabhas Glosse zu Raghuv. IV, 43 (ed. Shankar Pandit, Bombay Sansk. Ser.).


3 Vgl. 354, 20ff. Grammatisch am einfachsten würde der Satz, wenn man die Geheimdiener als Subjekt des Ganzen betrachtete. Dann hätte freilich Kauṭ. gūḍhā hinter çastrarasāgnibhiḥ stellen sollen, um den Sinn klar zu machen. Aber er liebt solch verschränkte Wortstellungen, und so mag es besser sein zu übersetzen: »Seine Geheimen sollen die jenem feindliche Partei mit schönen Worten und Bestechungen usw.« Doch ist sonst der Fürst selber der Handelnde, wo es sich um die Anwendung der »vier Mittel« handelt, und die gūḍha erscheinen meistens nur als die Werkzeuge, die Gift, Feuer, Waffe usw. unter die Feinde tragen. – Statt çatrupakshasya muß man çatrupaksham asya lesen.


4 Wörtl.: »um einen Friedensschluß, der von einem Viertel des Schatzes und (oder) des Heeres immer um ein Viertel aufsteigt, oder einen solchen, der vom und um den Zeitraum eines Tages und einer Nacht aufsteigt«. Der Angegriffene bietet also zunächst ein Viertel an und erhöht dann sein Angebot nötigenfalls sogar bis zum Ganzen hinauf. Dem entsprechend sollte ahorātrottaram so aufgefaßt werden, daß 24 Stunden die geringste angebotene Frist bildeten. Frist wofür? Für den Abschluß des Friedens, wobei dann der Schwächere auch länger warten und sich zerzausen lassen will, wenn es dem Starken so beliebt? Da wird die grammatische Logik gewahrt, aber nicht recht die verstandesmäßige. Oder die Frist, die Bedingungen auszuführen? In diesem Fall wären 24 Stunden nicht das erste oder niedrigste, sondern das alleräußerste Angebot. Dann: »bei dem 24 Stunden das Äußerste bilden«. Da käme die Vernunft zu ihrem Rechte, nicht aber die Folgerichtigkeit der Sprache. Denn da müßte er ja mit einer viel längeren Zeit anfangen und von dieser aus heruntersteigen. Also wird es wohl doch nur heißen: »dann bitte er ihn, indem er immer ein weiteres Viertel seines Schatzes oder seines Heeres hinzugibt oder indem er immer einen Tag und eine Nacht hinzugibt, um Frieden«. Bei der Zeit freilich ist auch da die Verengerung, nicht die Erweiterung der Erfüllungsfrist gemeint.


5 Vgl. 297, 9ff.; 332, 4 und lies kuṇṭham.


6 Wie wir im 3. Kap. des 7. Buchs gehört haben, ist ein »Heerfriede« ein solcher, bei dem der Unterliegende einen Teil seines Heeres oder das ganze preisgeben muß. Beim »Männerfrieden« muß er den Feldherrn oder den Kronprinzen (zusammen mit Truppen) ausliefern. Diese sind »Männer«, d.h. hervorragende Leute. Unsere Stelle aber stimmt nicht so recht mit jener, denn dort (269, 5) wird ausdrücklich gesagt, bei einem koçasandhi in gewisser Form seien Rosse und Elefanten hinzugeben, und zwar vagurānvitam, was wohl dasselbe bedeuten wird wie unser utsāhitam garayuktaṃ vā. Daß die Kriegsrosse und Kriegselefanten als ein wertvoller Teil des Heeres bei einem »Heerfrieden« nicht mit eingeschlossen würden, ist undenkbar. Will man also jenes hastyaçvam als richtig anerkennen, so wird man darunter Pferde und Elefanten verstehen müssen, die nicht im Kriege Verwendung finden, also aupavāhya, nicht sānnāhya (vgl. z.B. 133, 18). Manchmal kamen freilich die als gewöhnliche Reittiere dienenden Elefanten auch in der Schlacht zur Verwendung (371, 12), ebenso jedenfalls auch die Zugpferde (vgl. die Schlußstrophe von Buch 10, Kap. 4, S. 369, 16f.).


A1 Das Bild vom Rohr und das Beugen vor dem Starken als vor Indra finden wir oft. Siehe z.B. Raghuv. IV, 35; Kirāt. VI, 5 (»er sah das von den Rohrwäldern [in der tosenden Flußströmung] ausgeführte Sichbeugen, das allein einem Stärkeren gegenüber Glück bringt«; von Mall. u. Capeller nicht richtig verstanden); MBh. V, 34, 37; XII, 67, 11; XII, 113 (die Eiche und das Rohr); XV, 6, 18. Hier nur noch Nītiv. 41, 2–5: »Der Kampf mit einem Starken ist für den (Schwachen), der seine eigene Kraft nicht kennt, wie das Wachsen der Flügel bei den Insekten, wenn ihr Ende bevorsteht (sie wachsen ihnen nur, damit sie sich in die Flamme stürzen können). Findet er nicht günstige Gelegenheit, dann verhalte er sich liebreich gegen den, der ihm Leids zufügt. Tragen doch die Menschen das Holz sogar auf dem Haupte, nur um es zu verbrennen! Die Flut des Flusses wäscht den Bäumen am Ufer selbst die Füße und entwurzelt sie so.« Und MBh. XII, 140, 18: »Er trage den Feind auf der Schulter, bis die Zeit sich gewendet hat. Erkennt er aber, daß die günstige Zeit gekommen ist, dann zerschmettere er ihn wie einen irdenen Krug am Stein.«


A2 Statt »Küstenschaf« setze man: »wie ein aus der Herde verlorenes Schaf«. Auch hier liest nämlich Gaṇ. kulaiḍaka. Wie aber die Sache selber und die von ihm mitgeteilte Glosse zeigen, muß man in akul aiḍaka ändern.


A3 Diese dreifache Art des Eroberers wird öfters genannt. Vgl. z.B. Kām. X, 35; Nītiv. 125, 10ff.; MBh. XII, 59, 38f.; und besonders der dharmavijayin erscheint häufig in Büchern und Inschriften. Friedrich der Große freilich meint, der einzige Unterschied zwischen einem Straßenräuber und einem Eroberer sei dieser: der Straßenräuber ist ein unbekannter Schurke, der Eroberer ein berühmter. Antimachiavell, Kap. 6 (S. 140 in der Ausg. von Floerke). Die altindische Staatslehre nun befiehlt in aller Ruhe dem Fürsten das Räuberverfahren (dasyuvṛitti) gegen die anderen (Çukran. IV, 2, 13f.), und in Çukran. V, 67 heißt es: »Könige halten die Beraubung des anderen für ihre höchste Pflicht und Tugend«.


A4 Vgl. Nītiv. 122, 6ff., besonders 13. M. VII, 212f. Hier nur ein paar des MBh. aus dem überreichen Kapitel: Nur sich selber hat und liebt der Mensch, und sich selber soll er, vor allem der Fürst, erhalten mit Drangabe, ja mit Abschlachtung von allen anderen: I, 140, 72f.; IX, 4, 42; XII, 8; 10, 6; 15, 20–22; 89, 13; 66–68; 131, 8; 138, 108; 113; 137–161; 178–181; 140. Der Satz: »Du hast nur dich selber« wird dann freilich auch in großartig sittlicher Weise auseinandergefaltet. Einiges hierhergehörige ist angedeutet im »Weib« 71. Mit unserem ganzen Kapitel vergleiche man MBh. XII, 131.

Quelle:
Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthaçāstra des Kauṭilya. Leipzig 1926, S. 594-596.
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