Zweites Stadium

[81] Dieses Stadium ist bezeichnet durch Papageno in der Zauberflöte. Auch hier gilt's natürlich, das Wesentliche vom Zufälligen zu scheiden, den mythischen Papageno heraufzubeschwören und die im Stücke vor unsern Augen wandelnde Person zu vergessen, und das namentlich hier, da im Stücke dieselbe mit allerlei bedenklichem Galimathias in Verbindung gebracht ist. In dieser Hinsicht wäre es nicht ohne Interesse, bei einem Überblicke der ganzen Oper nachzuweisen, daß das Süjet derselben als solches im tiefsten Grunde verfehlt ist. Dabei würde sich zugleich Gelegenheit bieten, das Erotische von einer neuen Seite zu beleuchten, indem man darauf acht gäbe, wie das Vorhaben, eine tiefere ethische Anschauung hineinzulegen, dergestalt, daß diese sich in allerhand bedeutungsvolleren Prüfungen versucht, ein Wagestück ist, das sich gänzlich über die Schranken der Musik hinausgewagt hat, so daß es selbst einem Mozart unmöglich war, ihm ein tieferes Interesse einzuflößen. Die definitive Tendenz dieser Oper ist eben doch ihr musikalischer Gehalt; und darum wird sie, trotz einzelner vollendeter Konzertnummern, einzelner tief bewegter, pathetischer Ergießungen, doch durchaus keine klassische Oper. Jedoch alles dieses kann uns bei gegenwärtiger kleiner Untersuchung nicht beschäftigen. Wir haben nur mit Papageno zu thun. Das ist für uns ein großer Vorteil, und wenn aus keinem andern Grunde, schon darum, weit wir dadurch jedes Versuches überhoben sind, Papagenos Verhältnis zu Tamino in seiner Bedeutung darzulegen – ein Verhältnis, das der Anlage nach so sinnig, so nachdrücklich aussieht, daß es vor lauter Sinnigkeit beinahe zu Unsinn wird.

Ein solches Urteil über die Zauberflöte könnte dem einen und andern Leser willkürlich scheinen, weil einerseits in Papageno zu viel gefunden werde, anderseits in der ganzen übrigen Oper zu wenig. Das würde darin seinen Grund haben, daß man mit uns nicht einig wäre über den Ausgangspunkt für jede Beurteilung der Mozartschen Musik. Dieser Ausgangspunkt ist, unsrer Ansicht nach, Don Juan; und zugleich sind wir überzeugt, daß, wenn man manche Schönheiten[81] seiner andern Opern mit hierher rechnet, Mozart dadurch am meisten Pietät bewiesen wird, ohne deshalb leugnen zu wollen, daß es nicht ohne Bedeutung sei, jede einzelne Oper zum Gegenstande spezieller Betrachtung zu machen.

Das Verlangen erwacht; und wie's immer geht, daß man erst im Augenblick des Erwachens inne wird, daß man geträumt hat, so auch hier: der Traum ist vorüber. Dieses Erwachen, diese psychische Erschütterung ist es, wodurch dem Verlangen oder der Begierde ihr Gegenstand thatsächlich gegeben wird. Begierde und Gegenstand sind ein Zwillingspaar, von welchem der eine keinen Augenblick vor dem andern zur Welt kommt. Die Bedeutung dieser ihrer Genesis ist zunächst nicht, daß sie geeint, vielmehr daß sie eins vom andern gesondert werden. Aber sowie dieses, die Sinnlichkeit in Bewegung bringende, durchschauernde Prinzip einen Augenblick trennend wirkt, so offenbart es sich wiederum, indem es die Getrennten vereinen will.

Wie das Leben der Pflanze an den Boden gebunden ist, so ist das erste Stadium noch wie gefangen in einem sich selbst unklaren Verlangen. Die Begierde erwacht; der Gegenstand flieht wie in weiblicher Schüchternheit, zerteilt sich auch wohl in seinen Erscheinungen; die Sehnsucht reißt sich vom Boden los; die Blüte bekommt Flügel und flattert unstet und unermüdlich hier- und dorthin. Das Herz schlägt frisch und fröhlich; rasch verschwinden und kehren die Gegenstände wieder, zwischen beiden Momenten jedoch ein Augenblick der Berührung, kurz, aber selig, aufglühend in der Art eines Johanniswürmchens, flüchtig wie das Vorüberstreifen eines Schmetterlings und so unschädlich wie dieses; unzählige Küsse, aber so hurtig genossen, als nähme man sie nur dem einen Gegenstande, um sie dem nächsten zu überbringen. Nur momentan wird ein tieferes Verlangen geahnt; diese Ahnung aber ist rasch vergessen. In Papageno geht die Begierde auf Entdeckungen aus. Diese Entdeckungslust ist das, was in ihr pulsiert, ihre jugendliche Munterkeit. Sie findet den Gegenstand, auf den sie eigentlich ausgeht, nicht; sie entdeckt aber ein Mancherlei, indem sie dies eine sucht. – Man darf also sagen, daß die in allen drei Stadien gegenwärtige Begierde im ersten als die träumende, im zweiten als die suchende, im dritten[82] als die bestimmt begehrende vorhanden ist. Die suchende Begierde ist nämlich noch nicht eigentlich begehrend: sie sucht erst, was sie einmal begehren könne. Daher wird das am besten sie bezeichnende Prädikat vielleicht sein: sie entdeckt. Stellen wir so Papageno neben Don Juan, so ist des letzteren Reise durch die Welt anderes und mehr als eine Entdeckungsreise. Er genießt nicht nur die hiermit verbundenen Abenteuer, sondern ist ein Ritter, welcher auszieht, um zu siegen (veni, vidi, vici), Entdeckung und Sieg ist hier dasselbe; ja in gewissem Sinne kann man sagen, daß er über dem Siege die Entdeckung vergißt, oder daß die Entdeckung hinter ihm liegt, weshalb er sie seinem Diener und Sekretär Leporello überläßt, welcher sein »Register« in ganz anderm Sinne führt, als wie ich mir vorstelle, daß Papageno Buch führen würde. Papageno guckt aus, Don Juan genießt, Leporello guckt hinterher.

Den eigentümlichen Typus dieses, wie jedes Stadiums, kann ich zwar für die Reflexion darstellen, jedoch immer nur in dem Augenblicke, wenn es aufgehört hat. Könnte ich aber seine Besonderheit noch so vollständig beschreiben, und ebenso auch den Grund derselben erklären: immer würde doch ein Etwas zurückbleiben, was ich nicht auszusprechen vermag und was man doch hören will. Es ist zu unmittelbar, um in Worten festgehalten zu werden. So hier mit Papageno. Es ist eine und dieselbe Weise, dieselbe Melodie; frisch fängt er von vorn an, wenn er fertig ist, und so durchweg. Man könnte einwenden, es sei überhaupt unmöglich, etwas Unmittelbares andern mitzuteilen. In gewissem Sinne ist dies ganz richtig; aber die Unmittelbarkeit des Geistes hat erstens ihren unmittelbaren Ausdruck in der Sprache; und ferner: sofern durch das Hinzutreten des Gedankens eine Veränderung damit vorgeht, bleibt es doch wesentlich dasselbe, eben weil es eine Bestimmung des Geistes ist. Hier dagegen ist es ein Unmittelbares der Sinnlichkeit, welche als solche ein ganz andres Medium hat, wo also das Mißverhältnis zwischen den Medien die Unmöglichkeit zu einer absoluten macht.

Sollte ich nun mit einem einzelnen Prädikate das Eigentümliche der Mozartichen Musik in dem uns hier interessierenden Bestandteile dieser Oper zu bezeichnen suchen, so würde ich sagen: sie ist munter[83] zwitschernd, lebensfroh, liebesprudelnd. Worauf ich nämlich besonderes Gewicht legen muß, ist die erste Arie und das Glockenstiel. Das Duett mit Tamino und nachher mit Papageno fällt gänzlich aus dem Streich des Unmittelbar-Musikalischen heraus. Hört man dagegen die erste Arie mit ganzer Seele, so wird man die hier gebrauchten Prädikate zutreffend finden; und je aufmerksamer man sie hört, desto eher wird man hier zugleich eine Veranlassung finden, sich zu überzeugen, welche Bedeutung das Musikalische hat, wo dieses sich als der vollkommene Ausdruck der Idee offenbart, wo diese also unmittelbar-musikalisch ist. Bekanntlich akkompagniert Papageno seine naturwüchsige Lustigkeit auf einer Rohrflöte. Wie sollte nicht jedes Ohr und Gemüt sich von diesem Akkompagnement bewegt fühlen! Je mehr man sich hinein empfindet und sinnt, je mehr man in Papageno den mythischen (ideellen) Papageno sieht, desto ausdrucksvoller, desto charakteristischer wird man es finden; man wird nicht müde, es wieder und wieder zu hören, weil es ein völlig adäquater Ausdruck für das ganze Leben Papagenos ist. Dieses ist ja nichts weiter als ein solches unaufhörliches, bei allein Nichtsthun sorglos fortzwitscherndes: froh und vergnügt, weil hierin sein Leben aufgeht, lustig in seinem Treiben und lustig in seinem Singen. Mit Recht hat man ein sinniges und wohlbedachtes Arrangement darin gesehen, daß Taminos und Papagenos Flöten einander korrespondieren. Und doch welcher Unterschied! Taminos Flöte – wiewohl von dieser das ganze Stück seinen Namen hat – verfehlt ihre Wirkung durchaus. Und warum? Darum, weil Tamino Schlechterdings keine musikalische Figur ist. Das hängt mit der verfehlten Anlage der ganzen Oper zusammen. Tamino wird auf seiner Flöte höchst sentimental und langweilig. Und reflektiert man auf sein ganzes übriges Verhalten, seine Seelenverfassung, so muß man, jedesmal wenn er seine Flöte hervorholt und ein Stück bläst, an jenen Bauern bei Horaz denken: »Rusticus exspectat, dum defluat amnis« (das Bäuerlein wartet, bis der Strom abgeflossen), nur daß Horaz seinem Bauern keine Flöte zum unnützen Zeitvertreib gegeben hat. Tamino geht als dramatische Figur völlig hinaus über das musilkalische Gebiet, sowie überhaupt die moralische Entwickelung, welche sich in dein Stücke vollziehen soll, eine ganz[84] unmusikalische Idee ist. Tamino ist just bis dahin gelangt, wo das Musikalische aufhört; daher wird sein Flötenstiel zu reinem Zeitverderb, bis daß es uns alle Gedanken vertreibt. Gedanken vertreiben, das kann nämlich die Musik vortrefflich, sogar böse Gedanken, wie ja von David erzählt wird, daß er durch sein Saitenspiel König Sauls finstre Laune verscheuchte. Jedoch ließt hierin eine große Täuschung: denn die Musik thut dies nur, sofern sie das Bewußtsein in die Unmittelbarkeit zurückführt und gleichsam einlullt. Das Individuum kann sich also im Augenblick des Rausches glücklich fühlen, wird aber nur desto unglücklicher. Ganz in parenthesi erlaube ich mir eine Bemerkung. Man hat Musik angewendet, Geistesschwache zu heilen, man hat auch in gewissem Sinne seine Absicht erreicht; und doch ist es eine Illusion. Hat der Wahnsinn nämlich nicht einen leiblichen, sondern einen mentalen Grund, so liegt dieser immer in einer Verhärtung an dem einen oder andern Punkte des Innern. Diese Verhärtung muß überwunden werden; man muß aber hierzu einen ganz andern, ja den entgegengesetzten Weg gehen, als denjenigen, der zur Musik führt. Sonst bringt man den Patienten nur noch mehr von Sinnen, wenn's auch anders aussieht.

Was ich von Taminos Flötenstiel gesagt habe, wird nicht mißverstanden werden. Ich will ja keineswegs leugnen, was ja auch wiederholt eingeräumt ist, daß die Musik als Akkompagnement ihre Bedeutung haben kann, indem sie alsdann auf einem fremden Gebiete, nämlich dem der Sprache, auftritt. Die schwache Seite der Zauberflöte ist indes diese, daß das, worauf die ganze Dichtung hinstrebt, die Welt des Bewußtseins ist, ihre Tendenz also Aufhebung der Musik, und doch soll es eine Oper sein. Als Ziel der Entwickelung ist die ethisch bestimmte Liebe, oder die eheliche Liebe gesetzt. Hierin liegt der Hauptfehler des Stückes; denn was jene auch sonst bedeute, moralisch oder bürgerlich geredet, musilkalisch ist sie nicht, vielmehr absolut unmusikalisch.

Die erste Arie hat also in musikalischer Hinsicht ihre große Bedeutung als der unmittelbar-musikalische Ausdruck für Papagenos ganzes Leben und seine Geschichte, welche in demselben Grade, wie Musik[85] deren entsprechender Ausdruck wird, nur in uneigentlichem Sinne Geschichte heißen darf. Das Glockenstiel dagegen ist der musikalische Ausdruck seines Thuns und Treibens, wovon man wieder nur mittels der Musik eine Vorstellung bekommen kann. Diese klingt berückend, lockend, versuchend, gleich dem Spiel jenes Mannes, welchem die Fische stille hielten und zuhorchten.

Die von Schikaneder ihm in den Mund gelegten Repliken sind im ganzen so unsinnig und dumm, daß es fast unbegreiflich ist, wie Mozart mit ihnen das gemacht hat, was jetzt vorliegt. Daß jener Papageno von sich aussagen läßt: »Ich bin ein Naturkind,« und im selben Nu sich selbst zum Lügner macht, diene als ein einzelnes Exempel instar omnium. Als Ausnahme könnten die Textesworte zu der ersten Arie gelten, daß er die Mädchen, die er fängt, in sein Vogelbauer fetze. Sie könnten nämlich, woran aber der Dichter schwerlich gedacht hat, das Unschädliche in Papagenos Thätigkeit bezeichnen, wie wir diese oben angedeutet haben.

Wir scheiden von dem mythischen Papageno. Das Geschick des wirklichen Papageno kann uns nicht beschäftigen. Wir wünschen ihm Glück zu seiner kleinen Papagena, und wehren ihm durchaus nicht die Freude, einen Urwald oder einen ganzen Weltteil mit lauter Papagenos zu bevölkern.

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 81-86.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Entweder-Oder
Entweder - Oder, Gesamtausgabe in zwei Bänden
Entweder - Oder
Entweder - Oder: Teil I und II
Entweder, Oder. Teil I und II.
Entweder, Oder. Teil 1, Band 1

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Drei Erzählungen aus den »Neuen Dorf- und Schloßgeschichten«, die 1886 erschienen.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon