Drittes Stadium

[86] Dieses Stadium ist durch Don Juan bezeichnet; hier gilt es nicht, wie beim vorhergehenden, eine einzelne Abteilung einer Oper auszusondern, hier gilt es nur zusammenzufallen, da die ganze Oper wesentlich Ausdruck der Idee ist und, einige wenige Nummern ausgenommen, in derselben ruht, mit dramatischer Notwendigkeit zu ihr, als ihrem Zentrum, hingravitiert. Hier wird man daher wieder sehen können, in welchem Sinne ich die voraufgehenden »Stadien« so benennen kann, wenn ich das dritte Stadium als Don Juan bezeichne. Schon früher habe ich daran erinnert, daß sie keine besondere Existenz haben; und geht man von diesem dritten Stadium[86] aus, welcher eigentlich das Ganze ist, so lassen sie sich nicht sowohl als einseitige Abstraktionen oder vorläufige Antizipationen betrachten, eher als Ahnungen des Don Juan, nur daß beständig etwas zurückbleibt, was mich zu dem Ausdrucke »Stadium« für sie einigermaßen berechtigt, als einseitige Ahnungen, daß jedes derselben nur eine Seite ahnt.

Im Don Juan ist die Begierde erst absolut als solche bestimmt, und in intensivem sowohl als extensivem Sinne die unmittelbare Einheit der beiden vorhergehenden Stadien. Das erste Stadium begehrte ideal, nämlich Eines, das zweite begehrte das Einzelne unter der Bestimmung des Mannigfaltigen; das dritte Stadium stellt die Einheit dar. Die Begierde hat nur in dem Einzelnen ihren absoluten Gegenstand. Hierin liegt das Verführerische. Auf diesem Stadium ist das Begehren im vollen Sinne wahr, siegreich, triumphierend, unwiderstehlich und dämonisch. Man darf natürlich nicht übersehen, daß hier nicht die Rede ist von dem Begehren eines einzelnen Individuums, sondern von solchem als Prinzip, welches der Geist verneint und aus seinem Reiche ausschließt. Dieses ist die Idee der sinnlichen Genialität. Der Ausdruck für dieselbe ist Don Juan, und der Ausdruck für Don Juan ist wieder einzig und allein Musik. Wenn nun im folgenden besondert diese zwei Gedanken, von verschiedenen Seiten, hervorgehoben werden, so wird zugleich indirekt für die klassische Bedeutung der Oper der Beweis geführt werden. Um indes dem Leser die Übersicht zu erleichtern, werde ich die zerstreuten Betrachtungen unter einigen Gesichtspunkten zusammenzufassen suchen.

In die Einzelheiten dieser Musik einzugehen, ist nicht meine Absicht; und besonders werde ich auch, unter dem Beistande aller guten Geister, mich davor hüten, eine Menge nichtssagender, aber sehr lärmender Prädikate zusammenzutreiben, oder in linguistischer Üppigkeit die Impotenz der Sprache zu verraten, und das um so mehr, als ich dies nicht für eine Unvollkommenheit, vielmehr eine hohe Potenz der Sprache halte, und daher desto bereitwilliger bin, die Musik innerhalb ihrer Grenzen anzuerkennen. Was ich dagegen will, ist, teils die Idee und ihr Verhältnis zur Sprache von so[87] vielen Seiten wie möglich zu beleuchten, und dadurch immer mehr das Territorium zu begrenzen, in welchem die Musik ihre Heimat hat, sie gleichsam zu drängen, daß sie ihre Herrlichkeit mir entfalte, ohne daß ich doch, während sie sich hören läßt, mehr von ihr zu sagen vermag, als: höret! Ich meine, daß ich hiermit das Höchste habe leisten wollen, was die Ästhetik zu leisten im stande ist. Ob es mir gelingen wird, ist eine andre Sache. Wenn ich ein einziges Mal gleichsam ein Signalement derselben ausstelle, so werde ich dabei nicht vergessen, noch dem Leser erlauben es zu vergessen, daß, wer ein solches in Händen hat, darum noch keineswegs den, auf welchen es lautet, ergriffen hat. Auch der ganze Plan der Oper, ihre innere Bedeutung wird an seinem Orte speziell besprochen werden, aber auch alsdann so, daß ich nicht mit einer Ausrufer-Stimme, wie für zwei, schreie: »Bravo! bravo! Potz Wetter! bravissimo!« sondern nur beständig auf die Wirkung der musikalischen Klänge selbst mich berufe, und so das Höchste gethan zu haben glaube, was man im ästhetischen Interesse bei einer Tondichtung thun kann. Was ich also zu geben gedenke, ist kein fortlaufender Kommentar zu der Musik, welcher ja doch hauptsächlich nur subjektive Einfälle, individuelle Sympathien und Antipathien enthalten könnte, um etwa entstrechende Saiten im Gemüte des Lesers anzuschlagen. Selbst ein so geschmackvoller und gedankenreicher, im Ausdruck gewandter Kommentator, wie G. H. Hotho, hat dennoch einerseits nicht verhüten können, daß seine Auslegung in Wortschwall, als Ersatz für den Mozartschen Reichtum an Melodie und Harmonie, ausartet, oder sich als matter Nachklang, bleicher Abdruck der volltönigen, üppigen Schaffensfreude eines Mozart ausnimmt, anderseits verschuldet, daß Don Juan bald mehr wird, als er in der Oper wirklich ist, nämlich ein reflektierendes Individuum, teils unter seine Bedeutung herabsinkt. Letzteres rührt daher, daß Hotho den eigentlichen Kern der Oper nicht erkannt hat: für ihn ist Don Juan doch nur die beste der Opern, nicht qualitativ von allen andern unterschieden. Hat man aber dieses nicht mit der allgegenwärtigen Sicherheit des spekulativen Auges eingesehen, so kann man nicht gebührlich noch richtig von Don Juan reden, auch wenn man, bei dieser Würdigung, weit reicher, glänzender,[88] vor allem wahrer hierüber zu reden vermöchte, als der, welcher hier das Wort zu führen wagt. Dagegen werde ich beständig suchen, das Musikalische in der Idee, der Situation u.s.w. aufzuspüren, es zu erlauschen; und wenn ich dann meinen Leser dahin gebracht habe, in dem Grade musikalisch rezeptiv zu sein, daß er die Musik zu hören glaubt, wiewohl er nichts hört, alsdann habe ich meine Aufgabe erfüllt, alsdann verstumme ich, alsdann sage ich zu dem Leser, wie zu mir selbst: höre! – Ihr freundlichen Genien, die ihr alle unschuldige Liebe beschützt, euch befehle ich mein Inneres; wacht über die arbeitenden Gedanken, daß sie des Gegenstandes würdig erfunden werden; bildet meine Seele zu einem wohlklingenden Instrumente; laßt den milden Odem der Beredsamkeit über dieselbe hinwehen; sendet den erquickenden Ton und den Segen wahrhaft fruchtbarer Stimmungen! Ihr Geister der Ordnung und Zucht, die ihr Wache haltet an den Grenzen im Reiche der Schönheit, behütet mich, daß ich nicht in unklarer Begeisterung, in blindem Eifer, alles aus dem Don Juan zu machen, dem Stücke unrecht thue, es verkleinere, es zu etwas anderm mache, als was es wirklich ist – das ist aber das Höchste! Ihr starken Geister, die ihr das Menschenherz zu ergreifen wißt, steht mir bei, daß ich den Leser fangen möge, nicht im Garne der Leidenschaft, nicht durch die Ränke der Beredsamkeit, sondern in der ewigen Wahrheit der Überzeugung!

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 86-89.
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