9. Tradition und Gesinnung

[87] Dsï Lu fragte den Meister Kung und sprach: »Darf ich fragen, ob es angängig ist, den Weg (Tao) des Altertums beiseite zu lassen und nach meiner eigenen Gesinnung zu handeln?«[87]

Der Meister sprach: »Es geht nicht an. Als vor alters die Ostbarbaren die Sitten der Chinesen nachahmten, hatte eine verwitwete Frau ihrem Sohn zu dienen und verheiratete sich ihr ganzes Leben lang nicht wieder. Sie verheiratete sich zwar nicht wieder, aber doch entsprach das nicht der Pflicht der Keuschheit. Die Yau von Tsang-Wu, wenn sie eine Nebenfrau heirateten, die schön war, so traten sie sie an ihren älteren Bruder ab. Das war zwar nachgiebig, aber doch nicht eine Nachgiebigkeit, die der Sitte entspricht. Wenn man den Anfang nicht sorgfältig bedenkt, und bereut, wenn es zu spät ist, in welchen Kummer gerät man dann! Nun möchtest du den Weg des Altertums aufgeben und nur nach deiner eigenen Gesinnung handeln. Wie kann ich wissen, ob deine Gesinnung nicht aus Recht Unrecht und aus Unrecht Recht macht? Selbst wenn du das hinterher bereuen wolltest, würdest du doch nicht von Schwierigkeiten frei bleiben.«

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 87-88.
Lizenz: