31. Kapitel
Hing Dscheng - [126] Strafen und Regieren

Dschung Gung1 befragte den Meister Kung und sprach: »Ich habe sagen hören, wo die Anwendung von Strafen herrschend ist, da ist kein Platz mehr für die Anwendung von Regierungsmaßregeln; wo gute Regierung herrscht, da ist kein Grund mehr zur Anwendung von Strafen. Zustände, da die Anwendung von Strafen die Regierung verdrängte, herrschten zu den Zeiten von Gië und Dschou-Sin2. Zustände, da die Güte der Regierung Strafen überflüssig machte, herrschten zu den Zeiten der Könige Tscheng und Kang3. Ist das wahr?«

Meister Kung sprach: »Die Ordnung, die der berufene Heilige schafft, beruht auf Beeinflussung. Dabei ergänzen sich Regierungsmaßregeln und Strafen gegenseitig. Die Weisen höchster Art belehren die Leute durch die Macht ihres Geistes und gleichen die Unterschiede zwischen ihnen aus durch die Sitte. Die nächste Stufe ist die, die Leute durch Regierungsmaßregeln zu leiten und durch Strafen in Schranken zu halten. Der Zweck der Strafen ist, die Anwendung der Strafen überflüssig zu machen. Wenn man die Leute beeinflußt und sie sich nicht bessern, wenn man sie zum Guten anleitet und sie nicht gehorchen, sondern die Pflicht verletzen und dadurch die Volkssitten verderben, dann erst greife man zur Strafe. Bei der Anwendung der fünf Strafen halte man sich an die natürlichen Beziehungen.[126]

Werden die Strafen angewandt, so soll man auch in leichten Fällen keine Milde walten lassen. Der Zweck der Strafe ist, zu gestalten, eine Gestalt aber beruht auf ihrer abgeschlossenen Form. Nachdem die Sache erst einmal abgeschlossen ist, läßt sie sich nicht mehr ändern. Darum gibt sich der Edle in solchen Fällen die äußerste Mühe.«

Dschung Gung sprach: »In alter Zeit soll man sich bei Gerichtsentscheidungen in der Zumessung der Strafe nur an den Tatbestand gehalten haben, ohne auf die Absicht des Täters Rücksicht zu nehmen. Darf ich darüber etwas hören?«

Meister Kung sprach: »Bei der Entscheidung der schweren Strafsachen mußten die verwandtschaftlichen Rücksichten des Angeklagten und das Pflichtverhältnis zwischen Fürst und Diener in Betracht gezogen werden, um billig abzuwägen. Man mußte die Schwere der Strafe überlegen, auf mildernde Umstände Rücksicht nehmen, um die Unterschiede des Strafmaßes danach festzustellen. So mußte der Richter seinen ganzen Scharfsinn zusammennehmen, seine ganze Gewissenhaftigkeit und Güte walten lassen, um die Sache zu erschöpfen. Der oberste Richter hatte die Strafgesetze klar und genau zu handhaben bei der Untersuchung der Strafsachen. Jede Sache mußte dreimal aufgenommen werden. Wenn nur die Absicht da war, ohne daß sie zur Ausführung kam, so wurde das Verfahren nicht aufgenommen. Die Strafzumessung richtete sich nach den Vorgängen größter Milde. Der Straferlaß richtete sich nach den Vorgängen, bei denen die schwersten Strafen erlassen waren. In zweifelhaften Fällen wurden alle erreichbaren Zeugen vernommen. Wenn die Sache auch so noch nicht aufgeklärt werden konnte, wurde das Verfahren niedergeschlagen. In allen Fällen wurde das Urteil gefällt im Anschluß an die entsprechenden Vorgänge. Darum wurden Männer von Rang vor dem Palast abgeurteilt, damit die Öffentlichkeit teilhatte. Die leiblichen Strafen wurden auf dem Marktplatz vollzogen, damit der[127] Verbrecher zugleich von der öffentlichen Meinung verurteilt wurde. In alter Zeit war es üblich, daß Fürstenhäuser keine leiblich Bestraften in ihren Diensten hielten. Die hohen Würdenträger sollten sie nicht ernähren, ein Gebildeter, der ihnen auf der Straße begegnete, nicht mit ihnen reden. Sie waren Verworfene, die hingehen konnten, wo sie wollten, die Fürsorge der Regierung erstreckte sich nicht auf sie, ihr Leben hatte keinen Wert mehr.«

Dschung Gung sprach: »Wer hatte beim Strafverfahren das Urteil zu fällen?«

Meister Kung sprach: »Das Urteil wurde gefällt vom Unterrichter. Der Unterrichter berichtete das gefällte Urteil an den Richter der zweiten Instanz. Der hörte die Sache nochmals an, dann gab er sie an den Oberrichter weiter. Der Oberrichter hörte sie und unterbreitete sie dann dem König. Der König befahl den drei höchsten Würdenträgern, den hohen Räten und Rittern, sie unter den Kreuzdornbäumen4 nochmals zu hören. Dann erst wurde das gefällte Urteil an den König zurückberichtet. Der König machte dreimal Milderungsgründe geltend. Doch fügte er sich der Entscheidung der Würdenträger, und die Strafe wurde vollzogen. Dadurch sollte die Schwere der Verantwortung zum Ausdruck kommen.«

Dschung Gung sprach: »Was waren die wichtigsten Verbote?«

Meister Kung sprach: »Wer durch schlaue Reden5 das Gesetz verdreht, wer dem Begriff folgend die staatlichen Einrichtungen ändert6, wer an verkehrten Wegen festhält und die Regierung in Unordnung bringt: der soll getötet werden. Wer unzüchtige Musik macht7, wer fremdartige Kleidermoden ersinnt, wer allerlei Maschinen und Kunststücke vorführt, um das Herz der Oberen zu betören: der soll getötet werden. Wer Falschheit übt und fest dabei beharrt, wer Lügen redet und beredt ist, wer Irrlehren lehrt und darin bewandert ist, wer dem Bösen nachgibt und es noch[128] beschönigt und dadurch die Öffentlichkeit verwirrt: der soll getötet werden. Wer Dämonen und Götter benützt oder Zeit- und Tagewählerei oder Orakel- und Losziehen, um die Menge zu betören: der soll getötet werden.

Diese vier Verbrechen wurden mit dem Tode bestraft, ohne daß sie erst vor dem königlichen Gerichtshof besprochen wurden.«

Dschung Gung sprach: »Beschränkten sich die Verbote auf diese vier?«

Meister Kung sprach: »Das sind die wichtigsten. Außerdem gab es noch vierzehn Verbote:

Vom König geschenkte Gewänder und Wagen dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden. Rechteckige und runde Nephritszepter, Nephritsymbole des Himmels und der Erde dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden. Geräte aus dem Ahnentempel dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden. Fahnen von Kriegsheeren dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden. Opfertiere, Opferreis und Kräuter vom Opfer dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden. Kriegsgeräte, Waffen und Panzer dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden. Gebrauchsgeräte, die nicht das rechte Maß haben, dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden. Leinen und Seide, fein oder grob, die nicht die rechte Breite und Länge haben, dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden. Mißfarben, die die reinen Farben stören, dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden. Gegenstände aus gestickter Seide, Perlen und Edelsteine, geschnitzte, verzierte, polierte und aufgeschmückte Dinge dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden. Fertige Kleider, Getränke und Speisen dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden8. Früchte und Gemüse, die nicht der Jahreszeit entsprechen, dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden. Hölzer, die nicht auf die rechte Weise gefällt sind, dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden. Vögel und Tiere, Fische und Schildkröten,[129] die nicht auf die richtige Weise geschlachtet sind, dürfen nicht auf dem Markt verkauft werden.

Alle, die diese Verbote zu handhaben hatten, um die Massen in gleichmäßiger Ordnung zu halten, ließen keine Übertretung ungestraft.«

1

der Jünger Jan Yung.

2

die beiden legendären Tyrannen am Ende der Hia- und der Schangdynastie.

3

die beiden auf den Begründer der Dschoudynastie, Wu, folgenden Könige.

4

Vor dem Schloß waren links neun Kreuzdornbäume, der Platz der hohen Räte, rechts neun Kreuzdornbäume, der Platz der Lehnsfürsten, und im Süden drei Sophorabäume, der Platz der drei höchsten Würdenträger.

5

Kungs Ansicht über schlaue Reden ergibt sich u.a. aus Lun Yü 1, 3, Wilhelm S. 2; und 15, 26, Wilhelm S. 177.

6

Dies richtet sich gegen eine Schule der sogenannten Rechtslehrer, deren Reformvorschläge auf theoretischen Spekulationen und nicht auf tatsächlichen Verhältnissen beruhten.

7

vgl. hierzu Lun Yü 15, 10, Wilhelm S. 173; und 17, 18, Wilhelm S. 196–197.

8

Der Kommentar erklärt: Fertige Kleider, die feilgeboten werden, sind entweder zu luxuriös oder unsolide. Fertiges Essen auf den Straßen zu kaufen und öffentlich zu verzehren widerspricht dem Schamgefühl.

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 126-130.
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