12. Das Vermächtnis Dsï Tschans an seinen Nachfolger

[169] Dsï Tschan von Dscheng war krank, da sprach er zu Dsï Tai Schu: »Ich werde sterben, und du wirst sicher zur Leitung der Regierungsgeschäfte berufen werden. Nur ein Mann von höchster Geisteskraft vermag durch Milde das Volk fügsam zu machen; Leute geringerer Art fahren am besten mit Härte. Das Feuer brennt hell, die Leute sehen es von fern und scheuen sich davor, darum stirbt selten jemand durch Verbrennen. Das Wasser ist weich und schwach, die Leute achten seiner nicht und gehen viel damit um, darum[169] kommt es häufig vor, daß Leute durch Ertrinken sterben. Darum ist Milde sehr schwer.«

Als Dsï Tschan gestorben war, wurde Dsï Tai Schu zur Regierung berufen. Er brachte es nicht über sich, hart zu sein, und versuchte es mit Milde. Da kamen im Staate Dscheng viele Diebstähle und Räubereien vor. Da bereute Tai Schu sein Verfahren und sprach: »Wenn ich meinem Vater gleich gefolgt hätte, so wäre das nicht vorgekommen.« Meister Kung hörte es und sprach: »Vortrefflich. Ist die Regierung zu milde, so wird das Volk nachlässig. Der Nachlässigkeit muß man durch Härte begegnen. Ist die Regierung zu hart, so wird das Volk bedrückt. Bedrückung des Volkes muß man durch Milde erleichtern. Wenn so die Milde die Härte ausgleicht und die Härte die Milde ausgleicht, so wird durch diesen gegenseitigen Ausgleich die Regierung harmonisch. Im Buch der Lieder heißt es:


Und hat das Volk auch schwer zu tragen,

Um etwas leichter könnt's ihm sein.

Tut Gutes dieser Landesmitte!

Das wird dem Reiche Ruh verleihn18.


Das bezieht sich auf die Ausübung der Milde.


Schont nicht der Schurken und der Kriecher!

Das schüchtert Schlechtgesinnte ein.

Tut Einhalt Räubern und Bedrückern,

Die selbst das helle Licht nicht scheun19.


Das bezieht sich auf die Ausübung der Strenge.


Seid mild den Fremden, helft den Nächsten,

Dann wird des Königs Macht gedeihn20.


Das bezieht sich auf den harmonischen Ausgleich. Und abermals heißt es:


Von Ungestüm und Lässigsein,

Von Härte wie von Schwäche rein,[170]

Regiert er groß und ungemein,

Und aller Segen wurde sein21.


Das ist der Gipfel der Harmonie.«

Als Dsï Tschan gestorben war, vergoß Meister Kung beim Empfang der Nachricht Tränen und sprach: »Das war ein liebevoller Mann von alter Art.«

18

Schï Ging 253, 1; Strauß S. 427.

19

Fortsetzung desselben Liedes.

20

Fortsetzung desselben Liedes.

21

Schï Ging 304, 4; Strauß S. 516.

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 169-171.
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