6. Diplomatische Geschicklichkeit

[163] Der Staat Dscheng zog gegen den Staat Tschen und drang siegreich vor. Man sandte den Kanzler Dsï Tschan7, um den Sieg nach Dsin zu berichten8.

Die Leute von Dsin fragten nach der Schuld von Tschen.

Dsï Tschan erwiderte: »Tschen hat die großen Tugenden des Hauses Dschou verloren und einzig im Vertrauen auf die Übermacht des Staates Tschu9 unsere Hauptstadt bedrängt, was wir im vergangenen Jahre ja auch berichtet haben. Es wurde uns aber kein Befehl zum Angriff auf Tschen zuteil, selbst als Tschen nochmals bis vor das Osttor unserer Hauptstadt vordrang. Auf dem ganzen Wege, den die Heere von Tschen durchzogen hatten, hatten sie die Brunnen zugefüllt und die Bäume gefällt, so daß unsere Hauptstadt in große Angst geriet. Aber der Himmel hat es zum Besten gewandt, er hat den Leuten unserer Hauptstadt das Herz geöffnet, also daß wir ihnen ihre Sünden zum Bewußtsein brachten und sie sich uns unterwarfen. Darum erlaube ich mir, über das vollbrachte Werk zu berichten.«[163]

Die Leute von Dsin fragten: »Warum habt Ihr einen so kleinen Staat angegriffen?«

Dsï Tschan antwortete: »Die heiligen Könige des Altertums richteten sich nur allein danach, wer wirklich schuldig war. Jede Schuld wurde entsprechend bestraft. Außerdem war im Altertum das Königsland 1000 Meilen im Geviert und die Gebiete der Lehnsfürsten 100 Meilen im Geviert. So bestimmte es die Staatsordnung des Hauses Dschou. Heutzutage haben die Großstaaten ein Gebiet, das den ursprünglichen Umfang des Königslandes um ein Vielfaches übertrifft. Wie hätten sie das erreicht, wenn sie niemals kleinere Staaten überfallen hätten?«

In Dsin sagte man darauf: »Seine Worte lassen sich hören.« Meister Kung hörte davon und sprach zu Dsï Gung: »In einem alten Geschichtsbuch heißt es: Die Rede dient dazu, um die Absicht auszudrücken. Der Stil dient dazu, um die Rede zu gestalten. Redet man nicht, wer soll dann wissen, was wir meinen? Hat die Rede keinen Stil, so ist ihre Wirkung beschränkt. Dsin war die Vormacht zu jener Zeit. Wenn der Einfall in Tschen nicht so geschickt stilisiert gewesen wäre, so wäre er dem Staate Dscheng nicht als Verdienst angerechnet worden. Ja, man muß vorsichtig sein in der Wahl seiner Worte.«

7

Gung-Sun Kiau, ein Mann, den Kung oft hoch gepriesen hat.

8

Dsin war der starke Nachbarstaat des kleinen Dscheng. Er hatte eine Art Hegemonie im Reiche inne.

9

Tschen war ein Vasallenstaat von Tschu.

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 163-164.
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