2. Kapitel
Anpassung an das Leben / Ben Schong

[3] Alle Wesen werden erzeugt vom Himmel. Ihre Ernährung und Vollendung ist Sache des Menschen. Wer das vom Himmel Erzeugte ernähren kann, ohne ihm Gewalt anzutun, der heißt mit Recht Himmelssohn. Der Himmelssohn hat bei all seinen Handlungen das Ziel, die Natur durch Kunst zu vollenden. Das ist der Grund, warum er Beamte einsetzt. Der Zweck der Einsetzung der Beamten ist die Pflege und Vollendung des Lebens. Heutzutage gibt es betörte Herrscher, die zahlreiche Beamte haben, aber dadurch nur das Leben schädigen. Damit verfehlen sie den Sinn ihrer Einsetzung. Zum Beispiel: man rüstet Waffen, um sich gegen feindliche Einfälle zu sichern. Wenn man nun Waffen rüstet und sie umgekehrt dazu benützt, selbst anzugreifen, so ist der Sinn der Rüstungen offenbar verfehlt.

Das Wasser ist von Natur klar. Wenn es durch Erde getrübt wird, so kann diese Klarheit nicht in Erscheinung treten. Der Mensch ist von Natur zu langem Leben bestimmt. Wenn er durch äußere Dinge getrübt wird, so kann dieses lange Leben nicht in Erscheinung treten. Die Außendinge sind dazu da, daß man sie benützt, um durch sie das Leben zu gewinnen, nicht daß man das Leben benützt, um sie zu gewinnen. Heutzutage gibt es betörte Menschen, die vielfach unter Drangabe ihres Lebens die Außendinge zu gewinnen suchen. Damit zeigen sie, daß sie wahren Wert nicht zu schätzen wissen. Wer wahren Wert nicht kennt, nimmt das Wichtige für unwichtig und das Unwichtige für wichtig. Wer das tut, wird aber in all seinen Handlungen notwendig Mißerfolg haben. Ein Fürst, der so handelt, wird zum Tyrann; ein Beamter, der so handelt, wird zum Empörer; ein Sohn, der so handelt, wird zuchtlos. Wenn in einem Staate auch nur eine von diesen drei Menschenklassen vorhanden ist, so geht er sicher zugrunde, wenn er nicht großes Glück hat.

Wenn zum Beispiel eine Musik zwar angenehm zu hören ist, aber durch ihr Anhören betäubt, so soll man sie gar nicht erst anhören. Wenn eine Gestalt zwar angenehm anzuschauen ist, aber[4] durch ihr Anschauen verblendet, so soll man sie gar nicht erst anschauen. Wenn eine Speise zwar angenehm zu essen ist, aber durch ihren Genuß den Mund schal macht, so soll man sie gar nicht erst essen. Darum verhält sich der Weise zu den Eindrücken der Sinne des Ohres, des Auges und des Mundes also, daß er sie genießt, wenn sie dem Leben nützen, sie aber entbehrt, wenn sie dem Leben schaden. Das ist der Weg zur Pflege und Vollendung des Lebens.

Die Weltleute, die den Reichtum wichtig nehmen, sind in Beziehung auf die Genüsse der Sinne ganz verblendet. Wenn man Tag und Nacht nach Glück strebt und es erlangt, so wird man zügellos. Aber wie will ein zügelloser Mensch es machen, daß sein Leben nicht verdirbt? Wenn 10000 Leute den Bogen ergreifen und gemeinsam nach einem Ziel schießen, so wird das Ziel sicher getroffen. Wenn 10000 Dinge gleißen und scheinen, um ein Leben zu verderben, so wird dieses Leben sicher verderben. Wenn aber alles dazu mithilft, dieses eine Leben zu fördern, so wird dieses Leben sicher lange dauern. Darum richtet der Weise den Gebrauch aller Dinge so ein, daß sie sein vom Himmel gegebenes Leben vollenden. Wer dieses Leben vollendet, dessen Geist kommt in Harmonie, sein Auge wird klar, sein Ohr verständig, sein Geruch fein, sein Geschmack scharf, und alle seine Glieder werden gewandt und frei. Ein solcher Mann findet Glauben, ohne zu reden, trifft das Rechte, ohne sich vorher zu überlegen, findet sein Ziel, ohne sich vorher zu besinnen. Denn sein Geist durchdringt Himmel und Erde, und sein Verstand umfaßt das Weltall. Er steht den Dingen so gegenüber, daß alle zu seiner Verfügung stehen und ihm dienen müssen; er gleicht darin Himmel und Erde. Ist er hoch droben auf dem Königsthron, so wird er nicht stolz; ist er tief drunten als gemeiner Mann, so wird er nicht traurig darüber. Von einem solchen Mann kann man sagen, daß er seinen Charakter vollkommen gemacht hat. Ehre und Reichtum ohne die Erkenntnis, daß Wohlhabenheit ins Elend führt, ist schlimmer als Armut und Niedrigkeit. Denn wer arm und niedrig ist, dem fällt es schwer, die Dinge an sich zu raffen. Selbst wenn er Luxus treiben wollte, wie könnte[5] er's denn? Auf der Straße der Wagen und im Hause der Fahrstuhl, man sucht sie, um es sich selbst bequem zu machen, aber sie heißen Maschinen zur Herbeiführung der Lähmung. Fettes Fleisch und alter Wein, man sucht sie, um sich selbst zu stärken, aber man heißt sie Gifte, die die Eingeweide faulen machen. Zarte Wangen und weiße Zähne und die verführerischen Töne von Tschong und We, man sucht sie, um sich selbst zu ergötzen, aber sie heißen die Axt, die das Leben fällt. Aber diese drei Übel sind die Folgen von Ehre und Reichtum. Darum gab es unter den Menschen des Altertums solche, die sich weigerten, geehrt und reich zu werden, weil sie das Leben wichtig nahmen. Wer sich nicht durch eitle Namen betören lassen will, sondern die Wirklichkeit wichtig nimmt, der darf diese Mahnung nicht unbeachtet lassen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 3-6.
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