4. Kapitel
Das Werthalten der Gerechtigkeit / Gui Gung

[8] Die heiligen Könige des Altertums hielten, als sie die Welt beherrschten, die Gerechtigkeit für das Erste und Wichtigste. Durch Gerechtigkeit kommt die Welt in Frieden. Der Friede entspringt aus der Gerechtigkeit. Sehen wir uns einmal die alten Aufzeichnungen an. Gar viele waren es, die die Weltherrschaft erlangten. Sie alle erlangten sie durch Gerechtigkeit. Die sie verloren, verloren sie durch Ungerechtigkeit. Der feste Bestand jeglicher Herrschaft gründet sich auf die Gerechtigkeit. So heißt es im Hung Fan23:
[8]

Ohn Gunst und Neid

Ist Königs Sicherheit.

Ohn Gunst und schlicht

Ist Königs Pflicht.

Nichts tun aus Gnad

Ehrt Königs Pfad.

Nichts tun aus Haß

Ehrt Königs Maß.


Die Welt gehört nicht einem Menschen, sondern die Welt gehört der Welt24. Die Harmonie des Lichten und Schattigen begünstigt keine einzelne Gattung. Der Morgentau und der Frühregen bevorzugt kein einzelnes Ding. So darf auch der Herr alles Volks keinem einzelnen Menschen parteiisch zugetan sein.

Als Bo Kin25 im Begriffe war von seinem Vater Abschied zu nehmen, bat er ihn um Ratschläge für die Verwaltung des Staates Lu. Da sprach der Fürst von Dschou zu ihm: »Schaffe Nutzen, suche nicht Nutzen.«

Ein Mann aus Ging26 verlor einst seinen Bogen. Er wollte ihn nicht suchen, sondern sprach: »Ein Mann aus Ging hat ihn verloren, ein Mann aus Ging wird ihn auch finden; wozu ihn suchen?« Meister Kung hörte es und sprach: »Wenn er das Ging wegließe, so möchte es angehen.« Das hörte Lau Dan und sprach: »Wenn er den Menschen wegließe, so möchte es angehen.« So war Lau Dan am allergerechtesten.

Die Natur ist groß. Sie erzeugt, aber kennt keine Kinder; sie vollendet, aber kennt keinen Besitz27. Alle Wesen werden ihres Segens teilhaftig, erlangen ihren Nutzen, und keines weiß, woher er kommt. So war die Art der drei Erhabenen und der fünf Herren.

Guan Dschung28 war einst krank. Da besuchte ihn der Herzog Huan, fragte ihn und sprach: »Vater Dschungs Krankheit ist schwer; in schweren Krankheitsfällen dürfen es sich die Volksgenossen nicht verhehlen. Wen soll ich mit der Leitung des Staates beauftragen?«

Guan Dschung erwiderte: »Ich habe schon früher mir alle Mühe gegeben und meine Weisheit erschöpft, und es ist mir nicht gelungen,[9] jemand ausfindig zu machen. Nun bin ich so krank, daß es jeden Augenblick mit mir zu Ende gehen kann, was soll ich da sagen?«

Der Herzog Huan sprach: »Es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit, und ich möchte, daß Ihr Euren Rat erteilt, Vater Dschung.«

Guan Dschung erklärte sich ehrerbietig einverstanden und sprach: »Wen wünschen Eure Hoheit zum Kanzler zu machen?«

Herzog Huan antwortete: »Ist Bau Schu Ya geeignet?«

Guan Dschung erwiderte: »Nein, er ist nicht geeignet. Ich war mit Bau Schu Ya sehr befreundet. Er ist ein Mann, der einen reinen, unbestechlichen, tüchtigen und geraden Wandel führt. Aber er betrachtet die Leute, die ihm nicht gleichkommen, so, als wären sie gar nicht würdig, Menschen zu heißen. Wenn er einmal von den Fehlern eines Menschen gehört hat, vergißt er sie sein ganzes Leben lang nicht. Wenn niemand anderes da ist, wäre dann nicht Schï Pong geeignet? Schï Pong ist ein Mensch, der hohe Ziele hat, aber auch von geringen Leuten sich belehren läßt. Er ist unzufrieden mit sich selbst, daß er es nicht Huang Di gleichtut. Andrerseits hat er mitleidsvolles Verständnis für Leute, die ihm nicht gleichkommen. Er denkt nicht, er müsse im Staate alles hören; er denkt nicht, er müsse alle Vorgänge kennen; er denkt nicht, er müsse alle Menschen gesehen haben. Darum, wenn's keinen besseren gibt, so ist Schï Pong geeignet.«

Das Kanzleramt ist ein hohes Amt. Um ein hohes Amt richtig verwalten zu können, darf man nicht kleinliches Detail wissen und sich um kleinliche Klugheitsregeln kümmern wollen. Darum heißt es: Ein großer Zimmermeister nimmt nicht selber das Beil zur Hand; ein großer Koch handhabt nicht die Schüsseln; ein großer Held schlägt sich nicht; ein großer Feldherr plündert nicht29.

Solange der Herzog Huan Gerechtigkeit übte und sich des Lasters der Selbstsucht enthielt und den Guan Dschung als Kanzler hatte, war er der größte unter den fünf Führern der Fürsten, als er aber selbstsüchtig wurde, seine Günstlinge bevorzugte und den[10] Schu Diau anstellte, kam es dazu, daß sein Leichnam unbeerdigt blieb, bis die Würmer zur Tür heraus krochen30.

Der Mensch ist in seiner Jugend töricht und wird im Alter klug. Aber besser ist es töricht zu sein und gerecht als klug und selbstsüchtig. Den ganzen Tag betrunken sein und dann doch die Trauerzeremonie richtig vollziehen wollen, auf eigenen Gewinn bedacht sein und dabei doch Gerechtigkeit üben wollen, habgierig und grausam sein und dabei doch als König herrschen wollen: das sind Dinge, die selbst ein Schun nicht kann.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 8-11.
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