5. Kapitel
Entfernung der Selbstsucht / Kü Sï

[11] Der Himmel beschirmt alles ohne selbstsüchtige Bevorzugung. Die Erde trägt alles ohne selbstsüchtige Bevorzugung. Sonne und Mond scheinen über alles ohne selbstsüchtige Bevorzugung. Die vier Jahreszeiten gehen ihren Gang ohne selbstsüchtige Bevorzugung. Sie wirken nach ihrer Art, und alle Wesen wachsen und gedeihen. Von Huang Di gibt es ein Wort: Bei den Tönen meide die Fülle, bei der Schönheit meide die Fülle, bei den Kleidern meide die Fülle, bei den Düften meide die Fülle, bei den Speisen meide die Fülle, bei der Wohnung meide die Fülle.

Yau hatte zehn Söhne. Aber er hinterließ den Thron keinem von ihnen, sondern gab ihn dem Schun31. Schun hatte neun Söhne. Aber er hinterließ den Thron keinem von ihnen, sondern gab ihn dem Yü. Das ist größte Gerechtigkeit32.

Der Herzog Ping von Dsin fragte den Ki Huang Yang: »Die Stelle des Herrn von Nan Yang ist frei, wen kann man damit betrauen?«

Ki Huang Yang erwiderte: »Hiä Hu33 ist geeignet dafür.«

Der Herzog Ping sprach: »Ist denn Hiä Hu nicht Euer Feind?«

Er erwiderte: »Eure Hoheit fragen, wer geeignet sei, nicht darnach, wer mein Feind sei.«

Der Herzog Ping sprach: »Gut« und übertrug jenem darauf die Stelle, und alle Bürger des Staates waren mit ihm zufrieden. Nach einer Weile fragte der Herzog Ping wiederum den Ki Huang[11] Yang und sprach: »Es fehlt ein Feldherr im Staate. Wer ist geeignet für die Stelle?«

Er erwiderte: »Wu ist geeignet.«

Der Herzog Ping sprach: »Ist denn Wu nicht Euer Sohn?«

Er erwiderte: »Eure Hoheit fragen, wer geeignet sei, nicht darnach, wer mein Sohn sei.«

Der Herzog Ping sprach: »Gut« und stellte ihn ebenfalls daraufhin an. Wieder waren alle Bürger des Staates mit ihm zufrieden.

Meister Kung hörte davon und sprach: »Vortrefflich fürwahr sind die Worte des Ki Huang Yang! Einerseits scheute er sich nicht, seinen Feind zu empfehlen, und auf der anderen Seite scheute er sich nicht, seinen Sohn zu empfehlen. Ki Huang Yang verdient, gerecht genannt zu werden.«

Einst lebte ein Vorsteher der Schule des Mo mit Namen Fu Tun34 im Staate Tsin als Beamter. Sein Sohn hatte jemand ermordet. Da sprach der König Hui von Tsin: »Ihr seid schon alt, Herr, Ihr habt keine anderen Söhne. Darum habe ich die Anweisung gegeben, ihn nicht hinrichten zu lassen. Ihr müßt in diesem Stück auf mich hören.«

Fu Tun erwiderte: »In der Schule des Mo gilt es zu Recht, daß, wer einen Menschen tötet, sterben muß, und wer einen Menschen verwundet, körperlich bestraft wird, um Mord und Körperverletzung zu verhindern. Die Verhinderung von Mord und Körperverletzung ist die wichtigste Pflicht auf Erden. Obwohl nun Eure Hoheit ihm Gnade zuwenden wollen und den Befehl erteilt haben, ihn nicht hinzurichten, kann ich doch nicht anders, als nach dem Recht des Meisters Mo handeln.«

Wirklich widersetzte er sich dem König Hui und ließ seinen Sohn töten. Der Sohn steht einem Menschen am nächsten. Da er es über sich gebracht hatte, seinen Nächsten zu opfern, um der allgemeinen Pflicht zu genügen, muß dieser Vorsteher gerecht genannt werden.

Wenn ein Koch die Speisen richtig zubereitet und es nicht wagt, sie selbst zu essen, so kann man ihn als Koch brauchen. Wenn aber ein Koch Speisen zubereitet und sie selbst aufißt, so kann[12] man ihn nicht zum Koch brauchen. Mit einem Herrscher, der der Führer der Fürsten sein will, verhält es sich ebenso. Wenn er die Übeltäter hinrichten läßt ohne Rücksicht auf persönliche Vorliebe und die Würdigen auf Erden ehrt, so ist er geeignet zum Führer der Fürsten. Wenn aber ein solcher Herrscher sich bei der Hinrichtung der Übeltäter durch persönliche Vorliebe bestimmen läßt, so ist er ebenfalls nicht geeignet zum Führer der Fürsten.

Fußnoten

1 Ying Schï oder Schï sind die Sterne α und β des Pegasus, Schen sind die sieben wichtigsten Sterne des Orion, We sind die neun Sterne des Skorpion. Gia und I sind die beiden ersten Zahlen im Zehnerzyklus der sogenannten himmlischen Stämme Tiän Gan.


2 Tai Hau, der große Sonnenaufgang, wird mit dem legendären Herrscher Fu Hi identifiziert, der durch die Kraft des Holzes herrschte. Es werden ihm Opfer dargebracht im Osten.


3 Gou Mang (der Säer) ist der Sage nach ein Sohn von Schau Hau (dem jungen Leuchtenden). Er wirkte in der Kraft des Holzes, und wurde nach seinem Tode als der Schutzgeist des Holzes (d.h. der Vegetation) verehrt.


4 Die Schuppentiere, deren Haupt der Drache ist, gehören in der chinesischen Naturphilosophie zum Osten, ebenso wie die Note Güo dem Holz bzw. Osten entspricht. Güo ist die Terz.


5 Die Tonart Tai Tsu (großes Dickicht) ist eine männliche Tonart. Die fünf Klänge sind: Gung (Grundton, Tonika), Schang (Sekunde), Güo (Terz), Dschï (Quinte), Yü (Sexte). Die chinesische Tonleiter kennt die Quarte und die Septime nicht. Dagegen sind die zwölf Halbtöne der Oktave vorhanden in den zwölf Pfeifen (sechs 5. Kapitel lü Yangtöne, d.h. ganze Töne und sechs5. Kapitel lü Yintöne, d.h. halbe Töne). Angenommen also c wäre die erste der Yangpfeifen 5. Kapitel, so sind die übrigen d, e, fis, gis, ais; die Yinpfeifen wären dann: cis, dis, f, g, a, h. Die Tonleiter, bestehend aus den fünf Klängen, wäre mit c als Grundton: c, d, e, g, a.


5. Kapitel

Wenn cis der Grundton ist, verschiebt sich alles um einen halben Ton und entsprechend weiter. Die Art, wie diese zwölf Töne einander erzeugen, ist geschieden nach Yang- und Yinpfeifen. Die Yangpfeifen »nehmen eine Frau«, d.h. sie erzeugen die Oberdominante, die weiblich ist, 1–8 (c-g) 3–10 (d-a) 5–12 (e-h) 7–2 (= 14 fis-cis) 9–4 (= 16 gis-dis) 11–6 (= 18 ais-f). Die Yinpfeifen dagegen »bekommen einen Sohn«, d.h. sie erzeugen die Unterdominante 8–3 (g-d), 10–5 (a-e) 12–7 (h-fis) 2(14)9 (cis-gis) 4(16)11 (dis-ais) 6–1 (f-c), womit der Kreis geschlossen ist. Für die Tonleiter aber wollte man sich nicht auf zu fernliegende Verwandtschaften einlassen: Gung (1) nimmt die Dominante (Dsdï = 8) zur Frau, diese bekommt Schang (3 Unterdominante von 8) als Sohn, der nimmt seine Dominante Yü (10) zur Frau, mit der er den Enkel Güo (5) erzeugt. Diesem Enkel seine Frau zu geben (12), verbot die Rücksicht auf den Wohllaut. Bei einer angenommenen Länge von neun Zoll für die erste der Pfeifen wird die daraus entstandene Nr. 8 5. Kapitel Zoll lang sein. Nr. 8 erzeugt dann Nr. 2, die 5. Kapitel Zoll lang ist usw. Diese Zahlen sind jedoch nur theoretisch richtig. Jedem der Monate ist eine der zwölf Pfeifen zugeordnet und zwar in folgender Reihenfolge:


1. MonatHuang DschungZeichen: Dsï (Mitternacht)

2. MonatDa LüZeichen: Tschou

3. MonatTai DsuZeichen: Yin

4. MonatGia DschungZeichen: Mau

5. MonatGu SiänZeichen: Tschen

6. MonatDschung LüZeichen: Sï

7. MonatSui BinZeichen: Wu

8. MonatLiu DschungZeichen: We

9. MonatI DseZeichen: Schen

10. MonatNan LüZeichen: Yu

11. MonatWu IZeichen: Sü

12. MonatYing DschungZeichen: Hai


6 Von den fünf Elementen ist Holz das dritte, daher seine Zahl 5 + 3 = 8, vgl. Tafel.


5. Kapitel

7 Da im Frühling der Osten bzw. das Holz die Herrschaft führt, so wird auch der Geruch und der Geschmack des Holzes (sauer ist unter den fünf Geschmacksarten und muffig unter den Geruchsarten dem Holz zugeordnet) für diese Monate festgesetzt.


8 Der erste Frühlingsmonat hat den Charakter der Bewegung, die Bewegung geht durch die Tür, daher das Opfer für die Türgeister. Die Türgeister bedeuten den Anfang, vgl. den römischen Janus.


9 Die Milz gehört zum Holz, daher als erste Opfergabe verwandt. Nach anderer Auffassung gehört sie zur Erde. Das Holz überwindet die Erde, daher das Opfer der Milz, s. Tafel.


5. Kapitel

10 Der Fischotter tötet mehr Fische als er fressen kann und legt sie auf dem Eise umher, das wird »Opfern« genannt.


11 Die Lichthalle, Ming Tang, hatte an ihren verschiedenen Seiten verschiedene Namen. Die Ostseite heißt Tsing Yang (die grüne Yangkraft), die Südseite Ming Tang (lichte Halle) im engeren Sinne, die Westseite Tsung Dschang (allgemeine Schönheit) und die Nordseite Hüan Tang (dunkle Halle), s. Tafel.


5. Kapitel

12 Grün bzw. blau ist die Farbe des Holzes, daher die Frühlingsfarbe.


13 Die Form der Opfergefäße bezieht sich auf den Frühling und das Aufsteigen der Luft.


14 Frühlingseintritt ist der erste der 24 Solartermine, der in der Regel auf den 5. Februar fällt, 46 Tage nach dem Wintersolstiz. Meist, nicht notwendig, fällt dieser Termin in den ersten Frühlingsmonat.


15 Das große Gemach, Tai Tsin, ist ein Gemach neben dem Ahnentempel der Dynastie.


16 Dieser Zustand entspricht dem Zeichen Tai, der Friede (Buch der Wandlungen No. 11 5. Kapitel, das diesen Monat regiert).


17 Tschui war ein Mechaniker und Minister unter Schun, der durch seine Geschicklichkeit berühmt war.


18 Von den Nephritsteinen des Berges Kun heißt es, daß sie drei Tage und drei Nächte der Feuersglut ausgesetzt sein können, ohne an Glanz und Färbung einzubüßen. In den Flüssen Giang und Han werden der Sage nach große, helle Perlen gefunden, die sogar bei Nacht leuchten.


19 Chinesisch Tsang Bi, ein Nephrit, der viel Stein und wenig eigentlichen Nephrit enthält.


20 Chinesisch Gi. Name der nicht runden Perlen geringer Qualität. Der Sinn der Gleichnisse ist der: Ein Sperling in der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dache.


21 Das Schlafen auf Spreu schadet den Augen, was natürlich der Blinde nicht empfindet.


22 Während des Donners soll man beten und seine Sünden bekennen. Da der Taube nicht hört, kann er natürlich seinen Sohn auch nicht dazu erziehen.


23 Hung Fan, die große Regel, steht im Buch der Urkunden V, Buch 4.


24 Dieser Spruch, der im Buch der Urkunden ebenfalls dem Sinne nach enthalten ist, ist in die neue Nationalhymne der chinesischen Republik aufgenommen worden.


25 Bo Kin war der Sohn des Bruders des Königs Wu, des bekannten Herzogs von Dschou, er wurde in das Lehensgebiet seines Vaters eingesetzt, da dieser mit der Reichsverwaltung für seinen jungen Neffen, den König Tschong, beschäftigt war.


26 Ging ist soviel wie Tschu. Es lag etwa in der Gegend der Provinz Hupe. Der Name Ging ist der alte Name. Da Tschu der Erbfeind des Staates Tsin war, wird er im ganzen Buch nur mit Ging zitiert, in der Übersetzung ist es in der Regel durch Tschu übersetzt.


27 vgl. Laotse, Taoteking, Abschnitt 10, 34 und 51.


28 Guan I Wu oder Guan Dschung war der Kanzler, der dem Herzog Huan von Tsi (680–643) zur Vorherrschaft im Reich verhalf. Die Geschichte kommt auch in Dschuang Dsï, Hü Wu Gui XXIV, 7 und in Liä Dsi, Li Ming VI. 3.


29 Vgl. Laotse Abschnitt 68.


30 Nach dem Tod Guan Dschungs verlor der Herzog Huan die Direktion. Günstlinge wie der Eunuch Diän und der Koch I Ya rissen die Regierung an sich. So kam es, daß bei seinem Tod Unruhen entstanden, und seine Söhne sich um die Herrschaft stritten, so daß er sechzig Tage unbeerdigt liegen blieb. Lü Schï Tschun Tsiu 16, 3.


31 Bei Mong Dsï heißt es, daß Yau durch seine neun Söhne und zwei Töchter den Schun bedienen ließ. Dabei ist vielleicht vorausgesetzt, daß Dan Dschu als ältester Prinz nicht dabei war. Buch V A 1; Schu Ging I, 2.


32 In Guo Yü wird Schang Gün als Sohn des Schun angegeben. Woher die Neunzahl kommt, ist nicht bekannt. Vgl. auch Schu Ging I, 2.


33 Nach Dso Dschuan, Siang von Lu drittes Jahr, ist die Geschichte im vierten Jahre des Herzogs Dan, des Vaters des hier erwähnten Herzogs Ping, passiert.

Herzog Ping von Dsin regierte von 557–532. Ki Huang Yang war sein Minister. Hiä Hu war ein Feind des Ki Huang Yang.


34 Fu Tun war in Liang We als Minister zur Zeit des Königs Hui 370–335, desselben zu dessen Zeit Mong Dsï in We war. Man versteht von hier aus die heftige Polemik, die Mong Dsï gegen die Schule des Mo Di führte.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 11-13.
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