4. Kapitel
Selbstbeurteilung / Schen Gi

[111] Alle Zustände der Dinge haben ihre Ursache. Kennt man diese Ursache nicht, so ist es, obwohl man den Tatbestand kennt, gerade so, als wüßte man gar nichts, und schließlich kommt man[111] sicher in Verlegenheit. Diese Kenntnis der Ursache war es, wodurch die Könige der Vorzeit, berühmte Männer und kundige Gelehrte sich vor den gewöhnlichen Menschen auszeichneten. Daß das Wasser die Berge verläßt und ins Meer läuft, kommt nicht davon her, daß es die Berge haßt und das Meer liebt, sondern es ist eine Folge der Höhenverhältnisse. Daß das Getreide, das auf den Ebenen wächst, in den Speichern aufgehoben wird, kommt nicht davon her, daß das Getreide Lust dazu hat, sondern davon, daß die Menschen alle seiner bedürfen.

Darum als Dsï Lu einen Fasan gefangen hatte, ließ er ihn wieder frei16.

Der Meister Liä Dsï traf beim Pfeilschießen immer ins Schwarze. Er befragte darüber den Meister Guan Yin Hi. Der Meister Guan Yin Hi sprach: »Wißt Ihr, warum Ihr trefft?« Er antwortete: »Ich weiß es nicht.« Da sprach der Meister Guan Yin Hi: »Dann seid Ihr noch nicht reif.« Jener zog sich zurück, übte sich drei Jahre lang, dann bat er wieder um Belehrung. Meister Guan Yin Hi sprach: »Wißt Ihr, warum Ihr trefft?« Meister Liä Dsï sprach: »Jetzt weiß ich es.« Meister Guan Yin Hi sprach: »Nun, dann ists gut. Haltet das fest und gebt es nie wieder preis.«

Nicht nur beim Bogenschießen ist es so, sondern auch beim Bestehen der Staaten und beim Untergang der Staaten, bei der Tüchtigkeit der Person und der Untüchtigkeit der Person. Überall herrscht dasselbe Gesetz. Darum fragt der Weise nicht nach Bestehen und Untergang, nicht nach Tüchtigkeit und Untüchtigkeit, sondern nach deren Gründen17.

Einst griff der Staat Tsi den Staat Lu an18, weil er von ihm den berühmten Dreifuß Kin wollte. Der Fürst von Lu sandte ihm einen anderen Dreifuß. Aber der Fürst von Tsi traute ihm nicht, sondern sandte ihn wieder zurück, er sei falsch. Gleichzeitig ließ er dem Fürsten von Lu sagen: »Wenn Liu Hia Gi ihn für echt hält, so will ich ihn auf sein Wort hin annehmen.« Der Fürst von Lu bat den Liu Hia Gi für ihn einzutreten. Liu Hia Gi erwiderte: »Ihr wollt mich bestechen, weil Ihr den Dreifuß Kin behalten möchtet, selbst wenn es Euch Euer Reich kosten sollte? Ich habe aber auch ein[112] Reich19. Daß ich mein Reich vernichten sollte und Euch noch dazu um Euer Reich bringen, das fällt mir schwer.« Darauf sandte der Fürst von Lu den echten Dreifuß Kin. Von Liu Hia Gi kann man sagen, daß er sich auf die Beratung verstanden habe. Nicht nur sein eigenes Reich hat er gerettet, sondern noch das Reich des Fürsten von Lu20.

Der König Min von Tsi wurde landesflüchtig und weilte in We. Den ganzen Tag lief er umher und sprach zu Gung Yü Dan: »Ich habe mein Land verloren und weiß doch nicht warum. Daß ich landesflüchtig werden mußte, was ist wohl eigentlich der Grund davon? Ich muß ihn beseitigen.« Gung Yü Dan erwiderte: »Ich dachte, Ihr wüßtet den Grund schon. Wißt Ihr ihn wirklich noch nicht? Der Grund, warum Ihr landesflüchtig werden mußtet, ist Eure Weisheit. Die Könige auf Erden sind alle unwürdig und haßten Eure Weisheit. Darum vereinigten sie ihre Heere und griffen Euch an. Das ist der Grund, warum Ihr landesflüchtig wurdet.« Der König Min seufzte tief bewegt und sprach: »Bin ich wirklich so weise und muß trotzdem solches Leid erfahren? Das ist auch etwas, wovon ich den Grund nicht weiß.« Gung Yü Dan ging natürlich zu weit, indem er den König also zum Narren hielt.

Der König Schou von Yüo hatte vier Söhne. Des Königs Bruder sprach bei sich: »Ich will sie alle aus dem Weg räumen, damit ich sein Nachfolger werde.« Schon hatte er ihm drei seiner Söhne so verhaßt gemacht, daß er sie getötet hatte. Die Bürger des Reiches waren mißvergnügt und mißbilligten aufs äußerste ihren Herrn. Nun hatte er auch den vierten Sohn schon ihm mißliebig gemacht und wollte, daß er ihn töte. Der König von Yüo hörte aber noch nicht ganz auf ihn. Dieser Sohn, der seinen sicheren Tod vor Augen sah, benützte die Stimmung der Bürger, die Yü, den Bruder des Königs aus dem Land vertreiben wollten, und umzingelte das Königsschloß. Da seufzte der König tief und sprach: »Weil ich auf die Worte Yüs nicht gehört habe, darum habe ich mir diese Schwierigkeiten zugezogen.« Auch er wußte nicht, was der wahre Grund war, daß er sein Reich verlor.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 111-113.
Lizenz: