5. Kapitel
Fernwirkungen des Geistes / Dsing Tung

[113] Man sagt wohl, die Flachsseide habe keine Wurzel. Wohl hat die Flachsseide eine Wurzel, nur daß sie nicht mit der Pflanze zusammenhängt. Es ist die Fuling-Wurzel21.

Der Magnetstein ruft das Eisen herbei; er zieht es wohl an22.

Wenn Bäume einander nahe stehen, so reiben sie einander und wachsen zusammen. Der Weise sitzt ruhig auf seinem Thron. Seine Gesinnung besteht darin, daß er das Beste seines Volkes will. Darum, noch ehe er seine Befehle erlassen, reckt jedermann auf Erden seinen Hals und stellt sich auf die Zehen. Das ist der Einfluß seines Geistes auf das Volk. Wer die Menschen schädigt oder beraubt, gegen den sind die Menschen ebenso.

Wenn jemand einen Angriff plant, seine Waffen schleift, die Rüstungen vorbereitet und für Mundvorrat sorgt und ist im Begriff, die Feindseligkeiten zu eröffnen, so wird der, der angegriffen werden soll, ein inneres Mißbehagen empfinden, auch ohne daß er etwas davon gehört hat. Es ist, als ob ein Geist es ihm zum Voraus zugeraunt hätte.

Wenn jemand körperlich in Tsin ist, aber die ihm Nahestehenden in Tsi sind, so wird bei seinem Tode die Seele nicht zur Ruhe kommen; sein Geist wandert hin und her.

Die Tugend ist die Kraft, die über alles Volk gebietet, wie der Mond die Wurzel alles Weiblichen ist. Ist der Mond voll, so sind die Muscheln strotzend von Fleisch, und alles Weibliche nimmt zu23. Hat der Mond abgenommen, so sind die Muscheln leer und alles Weibliche ist kraftlos. Der Mond erscheint am Himmel, und alles Weibliche wird von ihm beeinflußt bis hinunter in die Tiefe des Ozeans. So übt der Weise die Tugend in seinem Selbst, und die fernsten Weltgegenden prangen im Schmuck der Liebe.

Yang Yu Gi schoß nach einem Wildochsen und traf einen Stein. Aber der Pfeil drang ein bis zur Fiederung, weil er ihn in dem festen Glauben an einen Wildochsen abgeschossen hatte24.

Bo Lo25 hatte es gelernt, einen Kennerblick für Pferde zu entwickeln.[114] So sah er schließlich nur noch Pferde vor sich, weil er ganz in Pferden lebte.

Ein Koch26 in Sung liebte es, Rinder zu zerlegen. Alles, was er sah, waren tote Rinder. Drei Jahre lang hatte er kein lebendes Rind mehr gesehen. Nach neunzehn Jahren war sein Messer noch wie frisch geschliffen, weil er immer den Gelenken nachging und ganz in Rindern lebte27.

Dschung Dsï Ki hörte einst bei Nacht wie einer den Klingstein schlug, daß es traurig klang. Er ließ ihn holen und fragte ihn: »Warum schlagt Ihr den Klingstein so traurig?« Jener erwiderte: »Mein Vater hat aus einem unglücklichen Zufall einen Menschen erschlagen und kam darum ums Leben. Meine Mutter ist zwar noch am Leben, aber sie ist öffentliche Sklavin und muß Wein bereiten. Auch ich habe mein Leben gefristet und muß im Staatsdienst Klingstein schlagen. Drei Jahre hatte ich meine Mutter nicht mehr gesehen. Kürzlich sah ich sie auf einem Markt. Ich wollte sie loskaufen, hatte aber kein Geld dazu, und außerdem bin ich selbst der Sklave fremder Menschen, darum bin ich so traurig.« Dschung Dsï Ki seufzte und sprach: »Wie traurig, wie traurig!« Das Herz ist nicht der Arm, der Arm ist nicht der Hammer und nicht der Stein und doch, wenn Trauer im Herzen wohnt, so entsprechen ihr Holz und Stein. Darum, worin der Edle ganz lebt im Subjekt, das zeigt seine Wirkungen im Objekt. Was er anregt in sich selbst, das äußert sich im andern. Dazu braucht er nicht viele Worte.

In Dschou lebte ein Mann namens Schen Hi, der seine Mutter verloren hatte. Einst hörte er eine Bettlerin vor der Türe singen. Da ward er traurig, und Rührung zeigte sich auf seinen Mienen. Er befahl dem Türhüter, die singende Bettlerin einzulassen. Er sah sie selbst und fragte sie nach ihren Umständen. Die Bettlerin redete mit ihm; da war es seine Mutter.

Eltern und Kinder und Kinder und Eltern sind ein Leib in zwei Gestalten, haben dieselbe Luft und atmen nur verschieden. Es ist, wie die Kräuter Blumen und Früchte tragen, wie die Bäume Wurzeln und Mark haben. Sind sie auch äußerlich getrennt, so stehen sie dennoch in Beziehung zueinander. Die geheimsten Gedanken[115] wirken aufeinander ein. In Schmerz und Krankheit haben sie das Bestreben, einander zu helfen. Ihr trauerndes Gedenken beeinflußt sich gegenseitig. Im Leben freuen sie sich aneinander. Beim Tode trauern sie um einander. Darum heißt es, daß die Liebe von Fleisch und Bein so stark ist, daß der Geist, der sich im Innersten des einen regt, im Herzen des anderen Widerhall findet. Sie verstehen einander im innersten Wesen. Darum bedürfen sie keiner Worte.

Fußnoten

1 Das Sternbild Fang enthält vier Sterne des Skorpions, das Sternbild Hü enthält einen Stern des Wassermanns und einen des kleinen Pferds, das Sternbild Liu enthält acht Sterne der Wasserschlange. Die Wandergänse, die im achten Monat kamen, sind die Eltern; die des neunten Monats sind die Jungen, deren Flügel damals noch nicht stark genug waren um mitzukommen.


2 Der Wolf tötete sie und legte sie rings um sich her.


3 Der nördliche Raum in dem westlichen Flügel der Ming Tang.


4 Die kaiserliche Domäne beträgt 1000 Morgen. Der Ertrag davon wird im kaiserlichen Haushalt aufbewahrt, zum Zweck der Opfergaben für den Gott des Himmels und die sonstigen Hauptgottheiten.


5 Fünfzehn Tage nach dem Herbstäquinoktium ist der Tag des kalten Taues, nach weiteren fünfzehn Tagen das Herabsteigen des Reifs. Nach dem Herabsteigen des Reifs ist es so kalt, daß sich in Zinnober und Lack nicht mehr dauerhaft arbeiten läßt, darum werden die entsprechenden Arbeiten eingestellt.


6 Da unter der Tsin-Dynastie das Jahr mit dem zehnten Monat begann, so wurde im neunten Monat der Kalender für das nächste Jahr ausgeteilt, doch wurden andererseits Zweifel daran ausgesprochen, daß diese Bestimmung aus der Tsin-Zeit stamme, da namentlich für die entfernteren Lehensfürsten die Ausgabe des Kalenders im letzten Monat vor Neujahr zu spät gewesen wäre.


7 Als die fünf Waffengattungen werden abweichend von Dschong Kang Tschong im Li Gi angegeben: 1. Dau, das langgestielte Messer, 2. Giän, das Schwert, 3. Mau, die Lanze, 4. Gi, die Hellebarde, 5. Schï, der Pfeil.


8 Solche Beschwörungen waren sowohl bei Kriegszügen als auch bei Jagdzügen üblich. Vgl. Schu Ging an verschiedenen Orten.


9 Das Opfer gilt nach dem Kommentar dem, der zuerst die Tiere in den vier Himmelsrichtungen ausgebreitet hat, um seine Gunst zu vergelten. Da der Ort, wo sein Geist weilt, unbekannt ist, so opfert man ihm nach allen vier Himmelsrichtungen.


10 Neben der gewöhnlichen Überlieferung der siebenjährigen Dürre zu Tangs Zeiten ist auch die fünfjährige mehrfach belegt.


11 Vgl. Lun Yü XXI, 1; Schu Ging: Tang Gau.


12 Nach herkömmlicher Erklärung bestand diese Strafe darin, daß die Leute auf einer glatten Messingstange über eine Grube voll glühender Kohlen gehen mußten, in die sie unfehlbar hinunterstürzten und verbrannten. Der Tyrann soll diesem Schauspiel mit besonderer Vorliebe zugesehen haben. Es werden auch noch andere Erklärungen der Strafe im Kommentar genannt.


13 Auf diesen Berg bei Hangtschou wurde er nach seiner Besiegung vom König von Wu beschränkt.


14 Vgl. Dschan Guo Tse 4; Dsing Go Gün ist Tiän Ying von Tsi, lebte zur Zeit des Königs We von Tsi 378–343 und seines Nachfolgers.


15 Die Ausdrücke sind im Text nicht verständlich. Die Übersetzung richtet sich nach der Erklärung von Liu Tschen Wung: wörtlich Go I = man sieht die Wangen hinter dem Ohr. Schï Schï = man blickt schief wie ein Schwein.


16 Der gefangene Fasan war noch zu klein, darum ließ ihn Dsï Lu wieder los, da er keine unausgewachsenen Tiere beschädigen wollte. Es liegt hier ein Bruchstück der fragmentarischen Quelle Lun Yü X, 18 vor, das geeignet ist, einiges Licht auf die rätselhafte Stelle zu werfen. Vgl. auch Liä Dsï VIII, 3.


17 Vgl. Liä Dsï VIII, 3. Guan Yin Hi ist der Torwart des Han Gu-Passes, namens Yin Hi, dem Lau Dsï beim Verlassen der Welt das Taoteking übergeben haben soll. Der Sinn der Erkenntnis des Liä Dsï ist nach dem Kommentar der, daß beim Bogenschießen alles auf die richtige innere und äußere Haltung ankommt, damit man treffe. Man muß den Erfolg bei sich selber suchen und nicht bei den anderen; das erst ist die wahre Erkenntnis. Ebenso sind die Gründe für das Bestehen eines Staates, für die Tüchtigkeit einer Person darin beschlossen, daß man sie bei sich selber sucht. Sich auf andere verlassen, führt zum Untergang und Untüchtigkeit.


18 Han Fe Dsï VIII.


19 Nämlich den guten Ruf der Wahrhaftigkeit.


20 Liu Hia Gi ist der in Lun Yü mehrfach erwähnte Hui von Liu Hia.


21 An den Fichten und Zypressen, an deren Wurzel der Fuling-Knollen wächst, kriecht die Flachsseide empor.


22 Der Magnet, wörtlich der liebende Stein. »Dieser Stein ist die Mutter des Eisens. Durch seine Liebe kann der Stein seinen Sohn, das Eisen, anziehen. Ein Stein, der diese Liebe nicht hat, zieht kein Eisen an.«


23 Die Muscheln gelten als Produkte der weiblichen Kraft.


24 Die Sage erzählt, daß Yang Yu Gi bei Nacht einen Stein für einen Wildochsen gehalten und diesen Erfolg erlangt habe. Als er am anderen Morgen seinen Irrtum entdeckte und probehalber weitere Pfeile nach dem Steine schoß, prallten sie alle machtlos von ihm ab.


25 Vgl. Liä Dsï VIII, 15; Han Yü, Tsa Schuo.


26 Vgl. Dschuang Dsï III, 2, wo allerdings We als der Ort angegeben ist.


27 Vgl. Sin Sü 4; Dschung Dsï Ki, der Freund von Be Ya, der dessen Zitherspiel verstand, so gut, daß nach seinem Tod Be Ya seine Laute zerbrach. (Im Text aus Versehen eine Zeile zu hoch gerückt.)

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 113-116.
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