3. Kapitel
Anfänge der Musik / Yin Tschu

[71] Kung Gia, ein Herrscher aus dem Hause Hia, ging einst auf die Jagd im Dung Yang Fu-Gebirge. Da erhob sich ein großer Sturm, und es wurde ganz finster. Kung Gia verirrte sich und kam in ein[71] Bauernhaus, wo eben ein Kind zur Welt gekommen war. Jemand sprach: »Der Herrscher ist gekommen, das ist ein glücklicher Tag; das Kind wird sicher großes Glück haben.« Ein andrer sagte: »Das Kind ist diesem Glück nicht gewachsen, es wird sicher Unglück haben.« Der Herrscher nahm das Kind mit sich nach Hause und sprach: »Ich will es als meinen Sohn erziehen; wer wird es dann wagen, ihm Unglück zuzufügen?« Als das Kind herangewachsen war, da brach beim Versetzen eines Zeltes eine Stange, und eine Axt schlug ihm den Fuß ab33. Darauf wurde er Türhüter. Kung Gia sprach: »Ach, wie rasch das Schicksal schreitet!« Darauf machte er das Lied vom Axthieb. Das ist der wirkliche Anfang der östlichen Musik.

Als Yü seine großen Werke ausführte, da sah er das Mädchen vom Tu Schan-Berg. Ehe Yü noch mit ihr zusammengewesen war, mußte er fort, um die südlichen Gegenden zu besichtigen. Da nahm das Mädchen vom Tu Schan ihre Dienerin mit sich und wartete auf den Yü im Süden des Tu Schan-Berges. Das Mädchen machte ein Lied, das hieß: »Ach! Ich warte auf ihn!« Das war der Anfang der südlichen Musik.

Die Herzöge von Dschou und Schau sammelten Lieder dieser Stimmung und nannte sie: Süden von Dschou und Süden von Schau34.

Der König Dschau von Dschou machte sich auf, um den Staat Tschu zu bekämpfen. Sin Yü Mi, ein Mann von großer Gestalt und vieler Kraft stand dem König zur Rechten im Kriegswagen. Auf der Rückkehr zerbrach beim Überschreiten des Han-Flusses35 die Brücke. Da fiel der König und der Herzog Tsai in den Han-Fluß. Sin Yü Mi rettete den König und brachte ihn ans nördliche Ufer. Darauf kehrte er zurück und rettete auch den Herzog Tsai. Der Herzog von Dschou erwartete ihn im Westen, verlieh ihm infolge seiner Tapferkeit den Titel eines Herzogs Tschang.

Yin Dschong Gia war früher nach dem westlichen Gelben Fluß übergesiedelt, doch dachte er sehnsuchtsvoll seiner alten Heimat. Das ist der wirkliche Anfang der westlichen Musik. Der Herzog Tschang nun setzte diese Musik fort, als er am Westberg weilte. Der Herzog Mu von Tsin bediente sich dieser Stimmung, um die Anfänge der Musik von Tsin zu schaffen.[72]

Der Herrscher von Yu Sung hatte zwei schöne Töchter. Er baute für sie einen neun Stockwerke hohen Turm. Wenn sie aßen oder tranken wurde immer Musik gemacht. Da sandte der Herr36 eine Schwalbe, um nach ihnen zu sehen. Ihr Gesang klang wie: ai, ai. Die beiden Mädchen hatten eine Freude daran und fingen sie. Sie deckten sie mit einem Nephritkörbchen zu. Nach einer Weile hoben sie es wieder auf und sahen nach ihr. Die Schwalbe hatte zwei Eier gelegt, dann flog sie nach Norden weg und kam nicht wieder. Die beiden Mädchen sangen ein Lied, das hieß: »Schwalbe, Schwalbe, du bist fortgeflogen.« Das wurde dann der Anfang der nordischen Musik.

Alle Musik wird geboren im Herzen des Menschen. Was das Herz bewegt, das strömt in Tönen aus; und was als Ton draußen erklingt, das beeinflußt wieder das Herz drinnen. Darum, wenn man die Töne eines Landes hört, so kennt man seine Bräuche. Prüft man seine Bräuche, so kennt man seine Gesinnung. Schaut man seine Gesinnung, so kennt man seine Art. Blüte und Untergang, Würdigkeit und Unwürdigkeit, edle und gemeine Gesinnung, alles drückt sich in der Musik aus und läßt sich nicht verbergen. Darum heißt es: Tief ist der Einblick, den die Musik gewährt.

Ist das Erdreich dürftig, so wachsen Kräuter und Bäume nicht; ist das Wasser trübe, so werden Fische und Schildkröten nicht groß. Ist die Zeit unrein, so sind die Sitten verwirrt, und die Musik wird unsittlich. Das sind die Töne von Dschong und We37 und die Musik unter den Maulbeeren38.

Diese Musik ist es, die Staaten, die in Verwirrung sind, lieben und an der sich Menschen verfallener Tugend freuen. Wenn unreine und sittenverderbende Musik aufkommt, so bewirkt sie unreinen Geist und schlechte Gesinnungen. Durch diese Wirkung werden alle Arten von Lastern und Schlechtigkeiten geboren. Darum kehrt der Edle zum rechten Weg zurück und pflegt seine Tugend. Aus reiner Tugend entströmt reine Musik. Durch die Harmonie der Musik bewirkt er Ordnung. Ist die Musik harmonisch, so schätzt das Volk das Rechte.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 71-73.
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