4. Kapitel
Bereuen der Fehler / Hui Guo

[244] In ein Loch, das acht Fuß tief ist, kann ein Mensch mit seinem Arm nicht hinunter reichen. Warum nicht? Weil er zu kurz ist. Auch die Erkenntnis ist manchmal zu kurz. Dann kann man einem noch so geschickt zureden und die Wahrheit kann noch so einleuchtend sein: er vermag sie doch nicht zu sehen.

So kam es dazu, daß ein Gi Dsï10 zur Erfolglosigkeit verurteilt war in Schang und daß ein Fan Li den Giang Strom hinunter schwamm.

Einst rüstete Herzog Mu von Tsin ein Heer, um den Staat Dschong zu überfallen.

Tsiän Schu erhob Einspruch und sagte: »Es geht nicht. Ich habe gehört, daß man einen Staat zu Wagen nur auf eine Entfernung von 100 Meilen, zu Fuß nur auf die Entfernung von 30 Meilen überfallen kann. Denn dann sind die Leute noch stark und ihre Kraft ist noch unvermindert, so daß sie dem Feind widerstehen, ihn vernichten können und im Stande sind, schnell wieder von ihm weg zu kommen. Nun aber muß man mehrere 1000 Meilen marschieren und kommt dazu durchweg durch das Gebiet von fremden Fürsten. Ich kann mir nicht denken, wie es unter diesen Verhältnissen möglich sein sollte, einen Staat zu überraschen.«

Aber der Herzog Mu hörte nicht darauf. Da begleitete Tsiän Schu das Heer bis vor das Tor und sagte weinend: »O, dieses Heer! Jetzt sehen wir es ausziehen und nie werden wir es zurückkommen sehen.«

Tsiän Schu hatte auch zwei Söhne namens Schen und Schï, die mit dem Heere auszogen.

Da sprach Tsiän Schu zu seinen Söhnen: »Wenn Dsin unserem Heere entgegen tritt, wird das sicher bei Hiau geschehen. Wenn ihr fallet, so sorget dafür, daß es nicht auf dem südlichen Ufer geschieht, sondern auf dem nördlichen Ufer, damit ich eure Leichen leichter finden kann.«

Herzog Mu von Tsin hörte das und sandte jemand, um den Tsiän Schu folgendermaßen zu tadeln: »Wenn ich ein Heer aussende, so[245] kann man doch nicht wissen, wie es gehen wird. Wenn du nun es weinend begleitest, so heißt das mein Heer beweinen.«

Tsiän Schu erwiderte: »Ich erlaube mir nicht, das Heer zu beweinen. Ich bin aber alt und habe zwei Söhne, die beide mit dem Heere ausgezogen sind. Ehe sie zurückkehren, werden entweder sie fallen oder ich gestorben sein, darum weinte ich.«

Das Heer11 kam auf seinem Marsche durch Dschou. Dort lehnte sich Wang Sun Man an seine Tür und sah ihm nach und sprach: »Diesem Heer droht sicher ein Unglück. Wenn ihm kein Unglück begegnet, so will ich nie wieder über die Wahrheit reden. Der Staat Tsin ist nichts anderes als ein vom Hause Dschou eingesetzter Lehnsstaat. Wenn das Heer eines solchen Staates am Schloß des Großkönigs vorbeikommt, so muß es mit verhüllten Panzern und umwickelten Waffen geschehen. Die beiden äußeren Wagenkämpfer müssen absteigen, um dem Großkönig ihre Ehrerbietung zu erweisen. Nun fahren sie in vollem Flaggenschmuck daher, die Linksstehenden beugen sich nicht einmal zum Gruß über das Wagengeländer. Und in 500 Wagen sind die Rechtsstehenden auf den Wagen gesprungen. Es ist zwar eine stattliche Macht, aber wenn sie es so an Anstand fehlen lassen, können sie nicht ohne Unglück durchkommen.«

Als das Heer das Gebiet von Dschou durchzogen hatte, da kamen zwei Kaufleute aus dem östlichen Dschong, die westwärts nach Dschou zu Markte wollten, namens Süan Gau und Hi Schï. Als die dem Heer von Tsin begegneten, sprachen sie: »Ei, dieses Heer kommt sicher von weit her, das will sicher Dschong überfallen.« Darauf machten sie aus, daß Hi Schï dem Heere entgegen gehen sollte, um scheinbar im Namen des Grafen von Dschong dessen freundliche Gesinnung auszudrücken. Er sprach: »Mein Fürst hat freilich schon lange gehört, daß der Feldherr Eures großen Staates im Begriff sei zu kommen. Als nun Euer Heer nicht kam, da war mein Fürst und seine Krieger beständig um Euch in Sorge. Er fürchtet, daß die Soldaten ermattet und ohne Proviant sein möchten nun schon so lange Zeit. Darum hat er mich abgesandt, seine Anteilnahme auszudrücken durch Übersendung von zwölf Ochsen als Proviant.«[246]

Die drei Feldherrn von Tsin erwiderten: »Da mein Fürst niemand besseres hatte, sandte er uns drei, Bing, Schu und Schï nach Osten, um am Weg von Dsin zu warten. Nun sind wir aus Versehen verirrt und auf Euer Gebiet geraten. Wir wagen Eure Geschenke nicht abzulehnen.« Darauf verneigten sie sich zweimal mit dem Haupt bis zur Erde und nahmen die Geschenke an. Die drei Feldherrn gerieten jedoch in Furcht und berieten untereinander: »Wir sind mehrere tausend Meilen weit durch vieler Herren Länder gezogen, um einen Staat zu überfallen und noch ehe wir da sind, haben es jene schon erfahren. Sicher haben sie sich vollkommen gerüstet. Jetzt ist es Zeit, das Heer zurückzuführen und uns vor ihnen zurückzuziehen.«

Nun traf es sich gerade, daß der Herzog Wen von Dsin gestorben war, aber noch nicht begraben. Da sprach Siän Dschen zum Thronfolger, dem Herzog Siang: »Das Heer von Tsin muß man unter allen Umständen angreifen.« Der Herzog Siang sprach: »Der Leichnam meines verewigten Vaters liegt noch im Saal, wenn ich nun sehe, daß es vorteilhaft ist, das Heer von Tsin anzugreifen, und ich greife es jetzt nur aus diesem Grunde an, so dürfte das doch wohl mit den Pflichten eines pietätvollen Sohnes unvereinbar sein.«

Siän Dschen sprach: »Sie haben uns nicht ihr Beileid ausgesprochen, sie haben kein Mitgefühl mit unserer Trauer gezeigt, das ist so viel, als wenn sie unsern Fürsten getötet und seine Hinterbliebenen bedrückt hätten. Unter diesen Umständen muß man angreifen.« Der Beamte bat, mit aller Macht anzugreifen und schließlich gab der Herzog Siang gezwungen nach. Da schnitt Siän Dschen das Heer von Tsin bei Hiau ab und griff es an. Er schlug es gänzlich und brachte die drei Feldherrn gefangen zurück.

Als Herzog Mu es hörte, nahte er sich in Trauerkleidern zur Audienz und sprach zu den Versammelten: »Der Himmel meinte es nicht gut mit unserem Staate Tsin, daß er mich veranlaßt hat, nicht auf den Rat des Tsiän Schu zu hören und dadurch in dieses Unglück zu kommen!«

Der Herzog Mu von Tsin wollte nicht diese Niederlage bei Hiau, allein sein Verständnis war zu kurz. Weil sein Verständnis[247] zu kurz war, darum glaubte er nicht. Weil er jenen Worten nicht glaubte, darum kam sein Heer nicht wieder. Darum: es gibt kein größeres Übel, als wenn einer im Verständnis zu kurz ist.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 244-248.
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