5. Kapitel
Freude an der Vollendung / Lo Tschong

[248] Große Weisheit hat keine äußerliche Gestalt, gut Ding will lange Weile haben, starke Töne erklingen selten.

Als Yü die Gewässer der Flüsse ableitete, da war das Volk dabei tätig, indem es Ziegel und Scherben sammelte. Als das Werk vollendet war, da war es zum Nutzen von 10000 Geschlechtern. Yü hatte einen weiten Blick und das Volk wußte es nur nicht. Darum kann man mit dem Volk nicht zusammen planen und beginnen, aber man kann sich mit ihm zusammen des vollendeten Werkes freuen.

Als Kung Dsï12 eben erst in Lu angestellt war, da machte I, ein Mann aus Lu, ein Spottgedicht auf ihn:


Den Kerl im Hirschepelz und Schurz

Mag man verwerfen nach Belieben,

Den Kerl in Schurz und Hirschepelz

Mag man verwerfen ohne Fehl.


Nach drei Jahren hatte es Kung Dsï soweit gebracht, daß die Männer auf der rechten Seite der Straße gingen und die Frauen auf der linken. Wenn jemand einen Wertgegenstand verloren hatte, nahm ihn niemand fort. Die Art der großen Weisheit ist wirklich schwer zu verstehen.

Als Dsï Tschan angefangen hatte, den Staat Dschong zu ordnen, da sorgte er dafür, daß die Felder alle Grenzgräben bekamen und hoch und niedrig fest geregelte Kleidung trug13. Da machten die Leute aus dem Volk Spottverse über ihn:


»Wir haben Felder,

Und Dsï Tschan nimmt sie weg.

Wir haben Kleider,

Und Dsï Tschan sammelt sie ein.

Wer den Dsï Tschan umbringt,

Dem helfen wir.«
[248]

Nach drei Jahren machten die Leute wieder Verse über ihn:


»Wir haben Felder,

Dsï Tschan mehrt sie uns,

Wir haben Kinder,

Dsï Tschan lehrt sie uns.

Wenn Dsï Tschan stürbe,

Wer könnt ihn ersetzen!«


Wenn der Herzog Giän von Dschen oder der Herzog Ai von Lu14, als das Volk spottete, deshalb jene Männer entlassen hätten, so wären in jenen Ländern nicht solche Erfolge erreicht worden. Und Dsï Tschan und Kung Dsï hätten sicher als unfähig gegolten, ja nicht nur als unfähig, sondern selbst wenn man sie als Verbrecher bestraft hätte, wäre das Volk damit einverstanden gewesen. Heutzutage hält jedermann die Herzöge Giän und Ai für tüchtig und Dsï Tschan und Kung Dsï für fähig, das kommt, weil jene beiden Fürsten es verstanden, gerechte Leute zu verwenden.

Als Schiffe und Wagen erfunden wurden, brauchte es drei Menschenalter lang, bis man sich bei ihrem Anblick zufrieden gab. Etwas Gutes einzuführen, ist wahrlich nicht leicht. Darum wenn man auf das Gerede der Leute hört, kommt kein Werk zustande; daß Werke zustande kommen, das beruht auf der Tüchtigkeit der Fürsten.

Der Staat We15 griff Dschung Schan an unter der Führung von Yüo Yang. Als er Dschung Schan erobert hatte, kehrte er heim und erstattete Bericht, dabei ließ er merken, daß er sein Verdienst hoch einschätzte.

Der Fürst Wen merkte es und befahl dem Sekretär und sprach: »Bring einmal alle Denkschriften herbei, die von den Beamten und Ratgebern eingereicht wurden.« Der Sekretär brachte zwei Kisten voll herbei. Da ließ der Fürst den Yüo Yang sie lesen. Alle widerrieten den Angriff auf Dschung Schan.

Da trat der Feldherr einige Schritte zurück, verneigte sich zweimal ehrfurchtsvoll nach Norden zu und sprach: »Die Eroberung von Dschung Schan ist nicht mein Verdienst, sondern das Eurer Hoheit. Wie wenig fehlte doch, daß alle die Kritiker das Unternehmen[249] zu Fall gebracht hätten! Daß Dschung Schan nicht genommen worden wäre, dazu hätte es nicht dieser zwei Kisten voll Schriftstücke bedurft. Ein kleiner Zettel hätte genügen können, um es zu hintertreiben.«

Der Fürst Wen war ein tüchtiger Herrscher und doch verhielten sich die Dinge so; wie soll es da erst bei mittelmäßigen Fürsten gehen. Das Schlimme bei mittelmäßigen Fürsten ist, daß sie sich nicht des Handelns enthalten können, und daß man daher nicht ihnen gegenüber sich das Handeln ersparen kann16.

Wenn dagegen bei allen unabänderlichen Unternehmungen der Fürst in seinen Blicken und seiner Gesinnung, seinen Bewegungen und Handlungen das Vorgehen des Mannes, dem er sein Vertrauen geschenkt hat, durchaus billigt: wer sollte dann unter den Beamten es wagen, Zweifel und Verdächtigungen gegen jenen vorzubringen? Wenn der Fürst und sein Diener einheitlich zusammen wirken, so gibt es keine mißlungenen Unternehmungen. Das war der Grund, warum Tang und Wu solch große Vorteile über die Dynastien Hia und Schang erhielten und weshalb es dem König Gou Dsiän gelang, seine Rache durchzuführen. Wenn Fürsten mit geringer Macht durch einheitliches Zusammenwirken solche Erfolge errangen, wie viel mehr sollte erreicht werden von Fürsten großer und mächtiger Staaten!

Der König Siang von We trank einst mit seinen Beamten zusammen. Als er etwas angeheitert war, brachte er als Trinkspruch aus: »Ich wünsche, daß meine Beamten alle ihre Absichten verwirklichen können!«

Da stand Schï Ki auf und sprach: »Unter den Beamten gibt es tüchtige und untüchtige, wenn die Tüchtigen ihr Ziel erreichen, so ist das ja ganz gut, wenn aber die Untüchtigen ihren Willen durchsetzen, so ist es nicht gut.«

Der König sprach: »Wenn nur alle so gute Beamte wären wie Si-Men Bau.« Schï Ki erwiderte: »In We wurde als Durchschnitt für die Grundstücksabgaben 100 Mou zugrunde gelegt, nur in den Feldern von Yä wurden 200 Mou zugrunde gelegt, weil die Felder schlechter sind. Nun fließt aber der Dschangfluß daran vorbei. Wenn[250] Si-Men Bau das nicht gewußt hat, so war er töricht; hat er es aber gewußt und nicht gesagt, so war er nicht loyal. Aber einen törichten oder illoyalen Beamten darf man nicht zum Vorbild nehmen.« Der König von We erwiderte nichts darauf. Am anderen Tage aber berief er den Schï Ki und fragte ihn: »Kann man den Dschangfluß tatsächlich zur Bewässerung der Felder verwenden?« Schï Ki bejahte.

Der König sprach: »Wollt Ihr die Sache nicht für mich durchführen?« Schï Ki sprach: »Ich fürchte, Eure Hoheit werden nicht durchhalten können.«

Der König sprach: »Wenn Ihr es wirklich durchführen wollt, so werde ich durchaus auf Eure Worte hören.«

Da versprach es Schï Ki ehrfurchtsvoll, doch sagte erzürn König: »Ich werde mir bei der Durchführung sicher den großen Haß des Volkes zuziehen. Im schlimmsten Fall werde ich getötet werden, im besten Fall angeklagt. Aber wenn ich nun getötet oder verklagt werde, bitte ich Eure Hoheit jemand anderes zur Durchführung des Werkes zu ernennen.«

Der König sagte zu und ernannte ihn zum Gouverneur von Yä. So ging Schï Ki hin, um die Sache durchzuführen. Er zog sich den stärksten Groll des Volkes zu, das ihn verklagen wollte.

Schï Ki wagte es nicht mehr sich öffentlich zu zeigen, so zog er sich vor den Leuten zurück. Da ernannte der König jemand anderes, um das Werk zu Ende zu führen. Als das Wasser floß, da hatten die Leute großen Vorteil davon. Sie machten untereinander ein Loblied auf Schï Ki, das lautete:


»In Yä hatten wir einen weisen Herrn,

Das war der Herr Schï,

Der leitete den Dschangfluß ab zur Bewässerung.

Was seit alters unfruchtbares Salzland war,

Das erzeugt jetzt Reis und Weizen.«


Wenn das Volk wüßte, was durchführbar ist und was nicht, so bedürfte man nicht der Weisen.

Wenn tüchtige Herrscher und treue Diener nicht die Toren zu leiten und die Unwissenden zu belehren verstehen, so wird ihr[251] Name nicht ruhmgekrönt und sie hinterlassen keine großen Werke. Schï Ki wußte wohl, wie er sich die Schwierigkeiten hätte fernhalten können, aber er nahm sie auf sich, weil er seinem Herrn ergeben war. Der König Siang von We hatte wirklich die Fähigkeit, entschlossen im Guten zu sein. Wer wirklich entschlossen im Guten ist, der wird sich auch durch das Getümmel der Menge nicht irre machen lassen. Der Grund, warum es so schwer ist, ein großes Werk zu vollbringen, ist das Geschrei der Menge. Der Untergang von ganzen Staaten kann dadurch herbeigeführt werden. Darum muß man unter dem Geschrei der Menge sein Urteil zu wahren wissen. Ein mittelmäßiger Herr wird durch das Geschrei der Menge bewogen, dem Guten Einhalt zu tun. Ein tüchtiger Herr wird durch das Geschrei der Menge bewogen, das Werk zu vollenden.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 248-252.
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