8. Kapitel
Festhalten am Einen / Dschï I

[286] Himmel und Erde, die dunkle und die lichte Kraft vermögen die verschiedenartigsten Dinge hervorzubringen, ohne ihr Wesen zu ändern. Das Auge vermag die Unterschiede von hell und dunkel zu erkennen, ohne in seiner Sehkraft beeinträchtigt zu werden; das Ohr vermag die hohen und tiefen Töne zu unterscheiden, ohne in seiner Hörkraft beeinträchtigt zu werden. So hält ein König die Einheit fest und wird dadurch der Herrscher aller Wesen. Ein Heer braucht nötig einen Führer, durch den es einheitlich wird, ein Staat braucht nötig einen Herrscher, durch den er einheitlich wird. Die Welt braucht nötig einen Himmelssohn, durch den sie einheitlich wird. Der Himmelssohn braucht nötig das Eine, durch das er allmächtig wird.

Herrscht einer, so gibt es Ordnung, herrschen zwei, so gibt es Verwirrung. Wenn in einem Viergespann vier Lenker wären und jeder eine Peitsche schwänge, so brächte man es nicht zum Tor hinaus – weil die Einheitlichkeit der Leitung fehlte.

Der König von Tschu fragte den Dschan Dsï über die Staatsregierung35. Dschan Dsï erwiderte: »Ich weiß etwas über die persönliche Lebensführung, nichts über die Führung eines Staates.« Natürlich war es nicht die Meinung des Dschan Dsï, daß ein Staat keiner Führung bedürfe. Sondern seine Meinung war, daß die Grundlage der Führung eines Staates in der persönlichen Lebensführung liegt. Ist die eigne Person in Ordnung, so kommt die Familie in Ordnung; ist die Familie in Ordnung, so kommt der Staat in Ordnung; ist der Staat in Ordnung, so kommt die Welt in Ordnung. Darum heißt es: »In der eignen Person leitet man die Familie,[286] in der Familie leitet man den Staat, im Staat leitet man die Welt.« Diese vier Dinge sind verschieden nach ihrer äußeren Stellung, aber in ihren Grundlagen übereinstimmend. Darum finden die Grundsätze des berufenen Weisen keine Grenze in ihrer Anwendungsmöglichkeit, sondern vermögen sich auf die ganze Welt zu erstrecken und selbst die Bewegungen von Sonne und Mond zu regeln, aber ebenso lassen sie sich einschränken auf die engsten Grenzen des persönlichen Lebens. Aber auch der liebevollste Vater kann das nicht seinem Sohne vererben, auch der treueste Beamte kann das nicht seinem Herrscher darbringen, nur wer den Sinn dafür hat, kann es begreifen.

Tiän Piän36 wollte dem König von Tsi die Methode der Ordnung darlegen. Der König von Tsi erwiderte ihm und sprach: »Ich bin im Besitz des Staates Tsi, deshalb möchte ich etwas über die Regierung von Tsi hören.«

Tiän Piän erwiderte: »Meine Worte handeln nicht von Regierungsmaßregeln, aber es lassen sich Regierungsmaßregeln daraus machen. Es ist wie mit einem Walde: er enthält keine Balken, aber es lassen sich Balken daraus machen. Ich bitte Ew. Majestät selbst die Anwendung davon auf die Regierung von Tsi zu machen.«

Tiän Piän hat immer noch nur das Nächstliegende erwähnt. In vollem Umfang genommen: wie sollte sich die Anwendungsmöglichkeit solcher Grundsätze auf die Regierung von Tsi beschränken?


Alle Wandlungen, alles Verlangen

Wird gestillt und schön gemacht!

Alle Wesen, alle Dinge

Werden recht und gleich gemacht!

Pong Dsu erlangte hohes Alter,

Drei Dynastien überlebte er!

Die fünf Herrscher dadurch strahlten,

Schen Nung, dadurch blühte er!


Wu Ki37 sprach zu Schang Wen: »Kommt es im Dienst des Fürsten wirklich nur auf das Glück an?«

Schang Wen sprach: »Wie meint Ihr das?« Wu Ki sprach: »Wenn es sich darum handelt, innerhalb des ganzen Königreichs die Ordnung[287] durchzuführen, die Kultur zu fördern, die Sitten zu bessern, so daß Fürst und Diener ihre Pflicht kennen und Väter und Söhne ihre Stellung kennen: Wer kann das besser, Ihr oder ich?«

Schang Wen sprach: »Darin komme ich Euch nicht gleich.«

Jener sprach weiter: »Dadurch, daß man heute Einführungsgeschenke macht und in den Dienst eines Fürsten tritt, dessen Ruhe sichern, dadurch, daß man morgen sein Siegel abgibt und seinen Dienst verläßt, dessen Ruhe gefährden: Wer kann das besser Ihr oder ich?«

Schang Wen sprach: »Darin komme ich Euch nicht gleich.«

Jener fuhr fort: »Wenn Krieger und Rosse in Schlachtordnung aufgestellt sind, und der Feind vor der Schlachtreihe steht38, dann durch einen einzigen Trommelwirbel die sämtlichen Krieger so zu begeistern, daß sie mit derselben Freude in den Tod gehen, wie sie leben: Wer kann das besser, Ihr oder ich?«

Schang Wen sprach: »Darin komme ich Euch nicht gleich.«

Wu Ki sprach: »Ihr gebt also selber zu, daß Ihr in allen drei Stücken mir nicht gleichkommt, und doch ist Eure Stellung höher als die meinige; darum sage ich: Glück und nichts weiter ist es, worauf es beim Fürstendienst ankommt!«

Schang Wen sprach: »Gut! Ihr habt mich gefragt, ich will nun auch Euch fragen: Wenn die Verhältnisse unsicher sind, der Fürst noch jung, die Menge der Beamten einander beargwöhnen, die Masse des Volkes unruhig: soll man dann den Staat lieber Euch anvertrauen oder lieber mir?«

Wu Ki schwieg still und erwiderte nichts. Nach einer Weile sagte er: »Lieber Euch!«

Schang Wen sprach: »Das ist der Grund, warum ich Euer Vorgesetzter bin.«

Wu Ki kannte seine Überlegenheit, aber er kannte nicht seine Mängel, er kannte seine Vorzüge, aber er kannte nicht seine Schwächen, darum war er wohl der Verwaltung des Kreises Siho (Westfluß) gewachsen, aber er wurde überwältigt von Wang Tso39! Und er kam in große Not, so daß er nicht einmal eines natürlichen Todes starb.[288]

Ebenso war der König von Wu zwar dem Staate Tsi überlegen, aber er war dem Staate Yüo nicht gewachsen40. Der Staat Tsi war zwar dem Staate Sung überlegen, aber er war dem Staat Yän nicht gewachsen41. Darum ist nur der imstande seinen Staat zu bewahren und seine Person zu vervollkommnen, der den Wechsel von Vorteil und Nachteil, Gewinn und Verlust kennt.

Fußnoten

1 Vgl. Schu Ging Kap. Hung Fan.


2 Vgl. Laotse Taoteking 47.


3 Anspielung auf Gung Sun Lungs Philosophie.


4 Das Wasser fließt nach chinesischer Anschauung alles nach Osten.


5 Korrektur.


6 Vgl. Han Fe Dsï 32 (11), Huai Nan Dsï 18. In Han Fe Dsï ist Örl Schuo als Sophist aus Sung bezeichnet.


7 Hou Dsi (Hirseherr) ist nicht Ki, der Ahn der Dschou-Dynastie, sondern Dschu aus dem Geschlecht Hia Schau, der weit früher lebte.


8 Vgl. Liä Dsï IV, 10.


9 Sin Sü 4.


10 Lun Hong 79; Gia Yü 20, 4.


11 Vermutlich Lau Dsï, der mit seinem Geschlechtsnamen Li hieß.


12 Es bezieht sich das auf ein Spiel: Hund und Hase. Die gefangenen Hasen werden jeweils zu Hunden. Der letzte Hase muß die ganzen Hunde in Bewegung halten. Wird er auch gefangen, so ist das Spiel zu Ende.


13 Da Yau, Kiän Ju, Yung Tschong, Hi Ho, Schang I (auch Tschang Ho, daraus verdorben Tschang O, die Mondfee), Hou I, Hu Tsau, Yü Sü, I I, Wang Bing, Schï Huang, Wu Pong werden in die Zeit Huang Dis versetzt. Gau Yüan soll zur Zeit Fu His oder Yaus gelebt haben. Dschu Yung, Tschï Ki, Wu Hiän werden in die Zeit Schen Nungs verlegt. Bo I gehört der Zeit Yaus an; Tschong Ya ist identisch mit Siang Tu, einem Fürsten zur Zeit des Hauses Hia. I Di lebte zur Zeit des großen Yü. Han Ai ist identisch mit Dsau Fu, dem Wagenlenker des Königs Mu von Dschou. Vgl. I Ging Hi Tsï II, 2. (Bd. 1, pag. 251.)


14 Sin Sü 4; Güan Dsï 8; Han Fe Dsï 12.


15 Gleich Bau Schu Ya.


16 Vgl. Sin Sü, Han Schï Wai Dschuan, Guan Dsï.


17 Bei Guan Dsï heißt der Mann Bin Sü Wu. Nach Schuo Yüan lebte Hüan Dschang unter dem Herzog Ging von Tsi. Vgl. Han Fe Dsï 33.


18 Hua Dsï A.


19 Huai Nan Dsï 9.


20 Han Fe Dsï 33 (11); Wai Tscho Schuo; Schuo Yüan.


21 Schuo Yüan 8.


22 Gleich I Yin.


23 Vgl. Buch II, 4.


24 Anspielung auf die Badewanne des Tang, auf der sein Grundsatz der täglichen Selbsterneuerung eingegraben war. Ebenso gab es zur Dschouzeit Bronzegefäße und Spiegel, auf denen weise Regierungsmaßregeln eingegraben waren.


25 Beförderungsmittel, die der große Yü auf seinen Reisen gebraucht hat. Wen Dsï 8, Huai Nan Dsï 11.


26 Schen Dsï 4, Yin Wen Dsï 5.


27 Dso Dschuan Herzog Süan 15. Jahr.


28 Im Text steht: »wenn man mit Sung Tschu angreift«. Das muß aber eine Textverderbnis sein.


29 Schuo Yüan 9; Huai Nan Dsï 18.


30 Vgl. Schuo Yüan 9.


31 Vgl. Buch XVI, 1.


32 Schï Dsï 1. Lau Dsï oder Lau Dan, der ältere Zeitgenosse Kungs. Mo Di, der Prediger der allgemeinen Menschenliebe, dessen Lehre lange Zeit dem Konfuzianismus den Rang streitig machte. Guan Yin Hi, der Torwart am Han Gu Paß, auf dessen Veranlassung Lau Dsï den Taoteking geschrieben haben soll. Liä Dsï vgl. das Buch vom quellenden Urgrund, Taoist. Tschen Piän aus dem Staate Tsi, hat 25 Kapitel hinterlassen, seine Lehre ist eine Art Identitätsphilosophie. Yang Dschus Lehren stehen in Liä Dsï. Sun Bin aus Tschu, Beamter in Tsi, Diplomat, 89 Kapitel. Wang Liau, Strategiker, betont den Wert der Offensive. Ni Liang, ebenfalls Militärschriftsteller, ist entgegengesetzter Ansicht.


33 An Sï Piän.


34 Das Schlagen der Becken war in China das Zeichen zum Rückzug, die Trommel das Zeichen zum Vorrücken.


35 Liä Dsï 8; Huai Nan Dsï 12.


36 Derselbe wie Tschen Piän.


37 Wu Ki stammte aus We, er war Feldherr von Tschu und später Minister von Liang We. Schang Wen, nach andern Tiän Wen genannt (Namensvetter des Mong Tschang Gün), war, wie es scheint, ebenfalls Beamter in We.


38 Textkorrektur.


39 Der ihn beim Fürsten Wu anklagte. Nach dem Kommentar wäre er durch Wagen zerrissen worden, nach andern Nachrichten kam er nach Tschu, wo er später starb.


40 Fu Tschai besiegte Tsi bei Ai Ling. Der König Gou Dsiän von Yüo besiegte Fu Tschai bei Wu Hu.


41 König Süan (nach Schï Gi König Min) von Tsi eroberte Sung. Der König Dschau von Yän eroberte 72 Städte von Tsi.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 286-289.
Lizenz:

Buchempfehlung

Naubert, Benedikte

Die Amtmannin von Hohenweiler

Die Amtmannin von Hohenweiler

Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.

270 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon