5. Kapitel
Unsichere Worte / Yin Tsï

[304] Ohne Worte kann man keine Abmachungen treffen. Aber wenn man sich nur an die Worte hält, so entsteht daraus Verwirrung. In den Verwirrung stiftenden Worten sind aber noch andere Worte verborgen: die Meinung des Herzens. Wenn die Reden die wahre Absicht des Herzens nicht verdecken, so kommen sie der Absicht nahe. Die Bedeutung der Rede liegt darin, das Herz zu offenbaren. Wenn Herz und Rede auseinander gehen und der Herrscher es nicht merkt, so reden die Untergebenen vieles, was sie nicht tun, und tun vieles, was sie nicht sagen. Wenn Reden und Handlungen einander widersprechen: das ist das größte Unglück.

Auf einer Zusammenkunft bei Kung Hiung schlossen die Staaten Tsin und Dschau einen Bund. Die Bedingungen waren: Von nun ab soll, wenn Tsin etwas beabsichtigt, Dschau ihm Unterstützung zuwenden, und wenn Dschau etwas beabsichtigt, soll Tsin ihm seine Unterstützung zuwenden.

Nicht lange danach rüstete sich Tsin, um den Staat Liang We anzugreifen. Dschau wollte demselben zu Hilfe kommen. Der König von Tsin war darüber entrüstet und sandte einen Boten, um dem König von Dschau Vorwürfe zu machen. Er sprach: »Im Vertrag heißt es, daß, wenn Tsin etwas beabsichtigt, Dschau ihm helfen soll. Nun beabsichtigt Tsin den Staat Liang We anzugreifen und Dschau will nun jenem zu Hilfe kommen, das entspricht nicht unsern Abmachungen.«

Der König von Dschau17 sagte es dem Ping Yüan Gün. Ping Yüan Gün sagte es dem Gung-Sun Lung. Gung-Sun Lung sprach: »Man kann auch einen Boten an den König von Tsin schicken, der ihn folgendermaßen zur Rede stellt: Dschau beabsichtigt den Staat Liang We zu retten und Tsin hilft uns dennoch nicht dabei, das entspricht nicht den Abmachungen.«[304]

Kung Tschuan und Gung-Sun Lung besprachen sich bei Ping Yüan Gün. Sie zeigten dabei großen Scharfsinn und Beredsamkeit. Dabei kamen sie auf den Satz, daß das Schaf drei Ohren habe18. Gung-Sun Lung redete über die drei Ohren des Schafes sehr beredt. Kung Tschuan war nicht einverstanden. Nach einer Weile verabschiedete er sich und ging weg.

Am Tag darauf ging Kung Tschuan zu Hofe. Ping Yüan Gün sprach zu Kung Tschuan: »Gestern zeigte sich Gung-Sun Lung sehr beredt.« Kung Tschuan sprach: »Ja, er hat dem Schaf beinahe drei Ohren angeredet, aber doch ist die Sache nicht so einfach. Ich möchte eine Frage an Euch stellen. Wenn man sagt, das Schaf habe drei Ohren, so ist das sehr schwer zu beweisen und in Wirklichkeit dennoch nicht so. Behauptet man, das Schaf habe zwei Ohren, so ist das ganz leicht einzusehen und entspricht noch dazuhin der Wirklichkeit. Ich weiß nun nicht, ob Ihr dem Leichteinzusehenden und Wirklichen zustimmt oder dem schwer zu Beweisenden und Falschen.« Ping Yüan Gün erwiderte nichts. Am andern Tage sprach er zu Gung-Sun Lung: »Du mußt dich nicht mit Kung Tschuan aufs Disputieren einlassen.«

Der Minister Dschuang Bo von Tschu hieß seinen Vater an den Himmel sehen und sprach: »Wie sieht die Sonne am Himmel aus?« Er sprach: »Ganz rund.« Dschuang Bo sah die Zeit nach: Tatsächlich stand die Sonne im Meridian. Da befahl er dem Oberzeremonienmeister anzuspannen. Der sprach: »Es sind keine Pferde da.« Dann befahl er seinem Kammerdiener, ihm seinen Hut zu bringen. Er fragte den Kutscher über die Zähne der Pferde. Der sprach: »Es hat zwölf große Zähne, mit den kleinen zusammen sind es dreißig.«

Jemand hatte sich für einen Diener verbürgt, daß er nicht weglaufen werde. Aber jener Diener lief weg. Dschuang Bo entschied, daß der Diener ohne Schuld sei19.

In Sung lebte ein Mann namens Tschong Dsï, der ein braunes Kleid verloren hatte. Er suchte es auf der Straße. Da sah er eine Frau, die ein braunes Kleid anhatte. Er packte sie und ließ sie nicht mehr los und wollte ihr das Kleid wegnehmen, indem er[305] sprach: »Ich habe heute ein braunes Kleid verloren.« Die Frau sprach: »Ihr mögt wohl ein braunes Kleid verloren haben, aber dieses Kleid ist von mir selbst gemacht.« Tschong Dsï sprach: »Du tust am besten, mir sofort das Kleid herauszugeben. Das Kleid, das ich verloren habe, war ein schönes, gefüttertes, braunes Kleid, das, das du anhast, ist nur einfach und dünn. Wenn du nun dieses dünne braune Kleid für mein schönes, gefüttertes gibst, so hast du immer noch den Vorteil davon.«

Der König von Sung sprach zu seinem Kanzler: »Wir haben schon viele Leute hinrichten lassen, und doch fürchten mich die ganzen Beamten nur um so weniger. Woher kommt das?«

Tang Yang erwiderte: »Die Leute, die Ihr verurteiltet, waren alles schlechte Menschen. Weil Ihr die Schlechten bestraft, darum fürchten sich die Guten nicht vor Euch. Wenn Ihr wünscht, daß alle Beamten Euch fürchten, so empfiehlt es sich mehr, ohne Rücksicht ob gut oder schlecht, von Zeit zu Zeit einen zu bestrafen. Auf diese Weise werden Euch alle Beamten fürchten.«

Nicht lange darauf ließ der Fürst von Sung den Tang Yang selber hinrichten. Die Antwort des Tang Yang wäre besser ungesagt geblieben.

Hui Dsï ordnete im Dienst des Königs Hui von Liang-We die Gesetze. Als er damit fertig war, machte er sie im Volk bekannt. Die Leute fanden sie alle gut. Darauf brachte er sie dem König Hui. Der König Hui fand sie ebenfalls gut. Da zeigte sie der König dem Di Dsiän. Di Dsiän sprach: »Gut!« Der König Hui fragte: »Lassen sich diese Gesetze anwenden?« Di Dsiän sprach: »Nein, anwenden lassen sie sich nicht.« Der König Hui sprach: »Wie ist das denn, daß, obwohl sie gut sind, sie doch nicht durchführbar sind?« Di Dsiän erwiderte: »Wenn man einen großen Balken tragen will, so ruft der vordere Träger »Yü Hu«, und der hintere erwidert ihm. Dieser Rhythmus ist für Balkenträger gut genug. Wohl gibt es die feine Musik von Dschang und We, aber sie eignet sich zur Begleitung beim Balkentragen nicht so gut wie die Silben Yü Hu, Yü Hu. Ein Reich ist auch ein solch großer Balken.«

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 304-306.
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