6. Kapitel
Wichtigkeit der Raschheit / Gui Tsu

[384] Bei der Kraft kommt es auf das Durchstoßen an, beim Wissen kommt es auf die Raschheit an. Wenn das Erreichen dasselbe ist, so ist das Rasche am höchsten zu werten. Wenn der Sieg der gleiche ist, so ist der spätere der geringere. Was an einem Renner wertvoll ist, das ist, daß er in einem Tag tausend Li zurücklegen kann. Wenn er zehn Tage dazu braucht, so unterscheidet er sich nicht von einer Mähre. Was an den kleingespitzten Pfeilen das Wertvolle ist, das ist, daß sie mit dem Ton der Sehne zugleich ankommen.[384] Wenn sie einen ganzen Tag brauchten, um anzukommen, so wäre es dasselbe, wie wenn sie gar nicht ankämen.

Wu Ki sprach zu dem König von Tschu: »Woran Tschu Überfluß hat, das ist Land. Was es zu wenig hat, das sind Einwohner. Aber wie Ihr es machen könntet mit dem, woran Ihr Mangel habt, das, woran Ihr Überfluß habt, zu bereichern, dazu kann ich Euch keinen Rat geben.« Darauf ließ der König seine Vornehmen in die unbewohnten Gegenden ziehen und sie bewohnt machen; sie litten sehr darunter. Als der König von Tschu gestorben war, da kamen die Vornehmen alle herbei. Der Leichnam lag noch im Saal, da schossen die Vornehmen gemeinsam nach Wu Ki. Wu Ki schrie laut: »Ich sage Euch, ich werde auch zu den Waffen greifen.« Damit griff er ihre Pfeile auf und lief weg. Er beugte sich über den Leichnam und stieß die Pfeile in ihn und sprach mit lauter Stimme: »Die Schar der Beamten behandelt den König als einen Verderber des Reiches, Wu Ki soll dafür sterben.«

Nun bestimmte das Gesetz, daß der, der Waffen in Berührung mit dem Leichnam des Königs bringt, strengste Bestrafung bis aufs dritte Glied zu erleiden habe. So war Wu Ki rasch besonnen6.

Als Herzog Siang von Tsi den Thron bestiegen, haßte er den Prinzen Wu Dschï und zog sein Einkommen ein. Wu Dschï war mißvergnügt darüber und tötete den Herzog Siang. Dessen Sohn, der Prinz Giu, floh nach Lu, der andere, Prinz Siau Bo, floh nach Gü. Nachdem die Bürger von Tsi den Wu Dschï getötet hatten, war kein Herrscher da.

Da kehrten die Prinzen Giu und Siau Bo beide zurück und kamen gleichzeitig an. Sie stritten um den Vortritt in den Palast. Guan Dschung nahm den Bogen und schoß den Prinzen Siau Bo und traf ihn ans Gürtelschloß. Bau Schu, der den Wagen des Prinzen Siau Bo lenkte, ließ den Prinzen rasch sich niederlegen. Guan Dsï dachte, Siau Bo sei tot und sprach zu dem Prinzen Giu: »Nun können wir in Ruhe gehen, der Prinz Siau Bo ist schon tot.« Das benützte Bau Schu, um in größter Eile zuerst einzufahren. So kam es, daß der Prinz Siau Bo Fürst wurde.

Bau Schus Geistesgegenwart, die im gleichen Moment, als der[385] Schuß traf, den Prinzen sich niederlegen ließ, war schnell wie ein Pfeil.

Der Fürst Wu von West-Dschou dingte einen Mörder, der den Beamten Ling Hui von Ost-Dschou töten sollte. Ling Hui ließ sich zu Boden fallen und ließ seinen Sohn sofort ihn folgendermaßen beweinen: « Wer hat meinen Vater erstochen?« Der Mörder hörte das und dachte, er sei wirklich tot und meldete das seinem Herrn. Da aber seine Meldung nicht stimmte7, dachte der Fürst von Ost-Dschou, er habe ihn angelogen, und ließ ihn streng bestrafen.

Das Geschlecht Dschau griff Dschung Schan an. In Dschung Schan lebte ein sehr starker Mann, namens Wu Kiu Yung. Der zog ein Eisenhemde an und nahm eine Eisenstange und zog so in den Kampf. Wen er traf, den zerschmetterte er. Wo er vorstürmte, da brach er durch. Er nahm den einen Wagen und zerstieß damit den andern, er nahm einen Menschen und zerstieß damit den andern, und so kam er (obwohl verwundet) zu seinem Feldherrn zurück, ehe er starb.

Fußnoten

1 Zur Zeit des Königs Li von Dschou.


2 Damals war es Gung Sun Yän.


3 Der Vater des Königs Wen von Dschou.


4 Vgl. Schuo Yüan 7.


5 Das Drachentor ist eine Gebirgsenge, durch die der Gelbe Fluß sich einen Weg gebahnt hat.


6 Die Besonnenheit des Wu Ki bestand darin, daß er es wagte, den toten König mit den Pfeilen zu verwunden, um darauf die schwere Schuld auf die Angreifer zu bringen, nach dem König geschossen zu haben.


7 Lücke im Text.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 384-386.
Lizenz: