3. Kapitel
Selbsterkenntnis / Dsï Dschï

[422] Wenn man erkennen will, ob etwas eben und gerade ist, so gebraucht man Wasserwage und Richtschnur. Wenn man erkennen will, ob etwas rund oder rechteckig ist, so gebraucht man Zirkel und Winkelmaß. Wenn ein Herrscher sich selbst kennen lernen will, so braucht er aufrichtige Staatsmänner. Darum hat der Großkönig seine Gehilfen und Lehrer, die ihm seine Fehler zeigen. Ein Mensch kann sich nicht selber kennen, ein Herrscher noch weniger. Bestehen und Untergang, Friede und Gefahr darf man nicht von außerhalb erwarten, sondern es kommt alles darauf an, daß man sich selber kennt. Yau hatte eine Trommel, durch die er auf Mißstände aufmerksam gemacht zu werden wünschte. Schun hatte ein Holz, auf dem man niederschreiben konnte, was man gegen ihn zu sagen hatte. Tang hatte Staatsmänner, deren Pflicht es war, seine Fehler zu beobachten. König Wu hatte eine Handtrommel, durch die er gewarnt werden wollte. Und doch waren sie besorgt, daß sie sich selbst nicht erkennen möchten. Die tüchtigen Herrscher von heutzutage stehen einem Yau und Schun, Tang und Wu nicht gleich und haben die Art, ihre Fehler verdecken zu lassen: woher wollen sie die Selbsterkenntnis nehmen?

Der König Tschong von Tschu und der Herzog Dschuang von Tsi ermangelten der Selbsterkenntnis und wurden getötet. Der König Fu Tschai von Wu und der Graf Dschï Bo ermangelten der Selbsterkenntnis und gingen zugrunde. Der König Kang von Sung und der Fürst von Dschung Schan ermangelten der Selbsterkenntnis und wurden vernichtet. Der Herzog Hui von Dsin und Dschau[422] Ko ermangelten der Selbsterkenntnis und wurden gefangen genommen. Die Feldherrn Dsan Tui und Pang Güan und der Thronfolger2 Schen von Liang We ermangelten der Selbsterkenntnis und kamen ums Leben: So gibt es kein größeres Unglück als Mangel an Selbsterkenntnis.

Als Fan3 auf der Flucht war, da fanden die Leute des Volks eine große Glocke. Sie wollten sie davontragen, aber die Glocke war zu groß zum wegtragen. Sie wollten sie mit einem Hammer zerschlagen, aber die Glocke ertönte laut. Da fürchteten sie, andere Leute könnten es hören und sie ihnen entreißen. Da hielten sie sich die Ohren zu. Daß man nicht haben möchte, daß andere Leute etwas hören, das mag wohl angehen, aber daß man es deshalb selbst nicht hören will, ist sehr töricht. Wenn aber ein Herrscher seine Fehler nicht hören will, ist das nicht ebenso? Wenn er nicht haben möchte, daß andere seine Fehler erfahren, so mag das noch angehen.

Fürst Wen von Liang We saß beim Mahle. Da befahl er allen seinen Räten, über ihn zu reden. Einige nannten ihn gütig, andere gerecht, wieder andere4 weise. Als die Reihe an Jen Dso kam, da sprach er: »Der Fürst ist untüchtig. Er hat Dschung Schan erobert und nicht seinen Bruder, sondern seinen Sohn damit belehnt, daraus sieht man, daß der Fürst untüchtig ist.« Fürst Wen war mißvergnügt darüber, so daß man es ihm anmerken konnte. Da ging Jen Dso mit schnellen Schritten hinaus. Da kam die Reihe an Dschai Huang. Dschai Huang sprach: »Der Fürst ist ein weiser Fürst, ich habe gehört, daß, wenn ein Fürst weise ist, seine Beamten aufrichtig reden. Nun hat Jen Dso aufrichtig geredet, daran erkenne ich, daß der Fürst weise ist.«

Der Fürst Wen mußte lachen und sprach: »Kann man ihn zurückkommen lassen?«

Dschai Huang sprach: »Warum sollte man ihn nicht zurückkommen lassen können? Ich habe gehört, daß treue Beamte treu bis zum Ende sind und auch den Tod nicht fürchten. Jen Dso ist wohl noch draußen vor der Tür.« Dschai Huang ging hin, um nach ihm zu sehen, und richtig war Jen Dso noch vor der Tür. Er rief ihn im[423] Namen des Fürsten herein. Als Jen Dso eintrat, da stieg der Fürst Wen von seinem Throne und ging ihm entgegen. Und er ließ den Jen Dso sein Leben lang am Ehrenplatz sitzen.

Der Fürst Wen hätte ohne den Dschai Huang beinahe einen treuen Beamten verloren. Dem Fürsten nach Gefallen zu reden und dadurch einen tüchtigen Mann ans Licht zu bringen, das war etwas, das Dschai Huang verstand.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 422-424.
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