5. Kapitel
Erweiterung der Ziele / Bo Dschï

[426] Die alten Könige, wenn sie wichtige Unternehmungen hatten, verstanden es, das abzuwenden, was diesen Unternehmungen schädlich war. Darum erreichten sie stets, was sie wünschten, und hielten ab, was sie haßten. Darauf beruht der Ruhm ihrer Werke. Die gewöhnlichen Herrscher machen es nicht so. Wenn sie große Unternehmungen haben, verstehen sie es nicht, das abzuwenden, was diesen Unternehmungen schädlich ist. Darum bringen sie nichts fertig. Der Unterschied zwischen tüchtigen und untauglichen Herrschern besteht darin, daß die einen das ihren Unternehmungen Schädliche abwenden können, die andern nicht.

Wenn ein Reh schnell läuft, kann ein Pferd es nicht einholen. Wenn man es doch schließlich fängt, so geschieht es, weil es immer sich umsieht. Ein Rennpferd kann in einem Tage tausend Meilen machen, wenn der Wagen leicht ist. Wenn man ihn schwer belädt, kommt es kaum einige Meilen voran, weil die Last zu schwer ist. Wenn tüchtige Männer etwas angreifen, so hört man nie, daß sie es nicht fertig gebracht haben. Wenn sie aber dennoch keinen großen Ruhm erwerben und nicht ihrem ganzen Geschlecht nützen können, so geschieht es, weil sie zu viel Toren und Untaugliche zu schleppen haben.

Sommer und Winter können nicht zugleich herrschen. Unkraut[426] und Korn können nicht zusammen wachsen. Wenn das neue Korn reif ist, geht das alte Korn zu Ende. Alle Tiere, die Hörner haben, haben keine oberen Zähne. Wenn die Früchte zahlreich sind, ist der Baum stets dürftig. Wenn man seine Weisheit auf Kleinliches richtet, so hat man keinen Erfolg: das sind unveränderte Naturgesetze.

Darum darf der Großkönig nichts vollkommen haben wollen, nichts auf die Spitze treiben, nichts zu voll haben wollen. Was allzu vollkommen ist, hat sicher seine Lücken, was auf die Spitze getrieben wird, schlägt sicher in sein Gegenteil um, was voll ist, wird sicher abnehmen. Die alten Könige wußten, daß man von allen Dingen nicht eine doppelte Vollkommenheit erwarten kann. Darum betonten sie das Wichtigste und beruhigten sich dabei.

Kung Dsï, Mo Dsï und Ning Yüo waren alle Privatleute. Sie waren in Sorge um die Welt und meinten, daß es nichts besseres gäbe, als die Methoden der alten Könige. Darum lernten sie sie Tag und Nacht. Und was sie bei diesem Studium unterstützen konnte, das unterließen sie nicht. Was ihnen für diese Studien nicht von Vorteil war, davon hielten sie sich fern. Man hat von Kung Kiu und Mo Di sagen gehört, daß sie den ganzen Tag (ihre Lieder und Urkunden) rezitierten und ihre Lehren ausübten, und nachts selbst den König Wen und den Herzog Dan von Dschou sahen und befragten. Wenn man in seinen Bestrebungen so genau ist, was sollte man da nicht verstehen, was sollte man da nicht fertigbringen! Darum heißt es: Wer genau und pünktlich ist, dem sagen es die Geister. Nicht daß Geister es ihm sagen würden, sondern seiner Genauigkeit und Pünktlichkeit hat er es zu verdanken.

Wenn einer ein kostbares Schwert oder ein gutes Pferd hätte und würde unermüdlich damit spielen und es unersättlich betrachten, so bleiben kostbare Taten und der gute Weg dennoch ungetan und unbegangen; man kann sie zu nichts weiterem gebrauchen. Wenn man dadurch Sicherheit des Lebens und Ruhm erwerben wollte, so würde das schwerlich gehen.

Ning Yüo war ein gewöhnlicher Mann aus Dschung Mou, er war der Mühen des Ackerbaus überdrüssig. Da sprach er zu seinem[427] Freunde: »Wie kann ich diese harte Arbeit los werden?« Sein Freund sprach: »Das beste Mittel ist zu studieren. Wenn man dreißig Jahre studiert hat, so versteht man alles.« Ning Yüo sprach: »Geht es nicht mit fünfzehn Jahren? Wenn andere ruhen, so werde ich nicht ruhen, wenn andere schlafen, so will ich nicht schlafen.« Nach fünfzehn Jahren war er so weit, daß der Herzog We von Dschou6 ihn zu seinem Lehrer ernannte.

Der Pfeil ist schnell, aber er fliegt nur zwei Meilen weit, weil er aufhört. Der Schritt des Menschen ist langsam, aber er kommt hundert Tagereisen weit, weil er nicht aufhört. Wenn nun ein Ning Yüo mit seiner Begabung so lange nicht aufgehört hat, ist es da nicht ganz in der Ordnung, daß er es bis zum Lehrer eines Fürsten gebracht hat?

Yang Yu Gi und Yin Ju waren beide in ihrer Kunst erfahren. Im Hof des Schlosses von Tschu ließ sich immer ein übernatürlicher weißer Affe sehen. Die besten Schützen von Tschu konnten ihn nicht treffen. Da bat der König von Tschu den Yang Yu Gi, ihn zu schießen. Yang Yu Gi spannte den Bogen, nahm einen Pfeil und ging hin und schoß dahin, wo der Affe noch nicht war, und so traf er ihn. Als er abschoß, da fiel der Affe mit dem Pfeil gleichzeitig zur Erde. Yang Yu Gi traf den Affen, weil er vorher die Richtung des Treffens getroffen hatte.

Yin Ju lernte Wagen fahren drei Jahre lang und konnte es noch nicht. Er war sehr traurig darüber. Da träumte ihm bei Nacht, daß er das Tsiu Gia-Rennen7 des Wagens bei seinem Lehrer gelernt habe. Am Tag darauf ging er zu seinem Lehrer. Sein Lehrer sah ihn und sprach zu ihm: »Ich will nicht zurückhalten mit meiner Belehrung, ich hatte nur gedacht, daß du noch nicht reif seiest. Heute will ich dich nun das Tsiu Gia-Rennen lehren.« Yin Ju trat einige Schritte zurück, verneigte sich zweimal und sprach: »Ich habe die Belehrung schon heute Nacht im Traum empfangen. Ich will euch erst meinen Traum erzählen.« Und richtig war das, was er geträumt hat, wirklich das Tsiu Gia-Rennen.

Von diesen beiden Männern kann man sagen, daß sie es verstanden zu lernen, daß sie es verstanden, sich durch nichts stören[428] zu lassen. Darin können sie den Menschen späterer Geschlechter als Vorbild dienen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 426-429.
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