1. Kapitel
Abhandlung über scheinbares Gelingen / Sï Schun Lun

[432] Die Sachen sehen oft so aus, als wäre alles verkehrt, und doch gelingt es. Oft sieht es aus, als müßte es gelingen, und doch mißrät es. Wer weiß, daß Gelingen zu Mißraten führen kann und daß Mißraten zum Gelingen führen kann, mit dem kann man über die Wandlungen reden.

Wenn etwas ganz lang ist, so wird es wieder kurz. Wenn etwas ganz kurz ist, so wird es wieder lang. Das ist des Himmels Lauf.

König Dschuang von Tschu wollte Tschen angreifen. Darum sandte er jemand hin, um die Verhältnisse zu erkunden. Der Bote sagte: »Tschen darf man nicht angreifen.« Der König Dschuang sprach: »Warum nicht?« Jener erwiderte: »Die Mauern und Türme sind hoch, die Gräben tief, die Vorräte zahlreich.« Da sagte der Beamte Ning Guo: »Tschen kann man angreifen. Tschen ist ein kleines Land. Wenn seine Vorräte zahlreich sind, so zeigt das, daß die Steuerlasten schwer sind; dann sind aber die Untertanen mit ihren Oberen unzufrieden. Wenn Mauern und Türme hoch und die Gräben tief sind, so muß die Kraft des Volkes erschöpft sein. Wenn man ein Heer aufbietet zum Angriff, so läßt sich Tschen erobern.«

Der König Dschuang hörte auf ihn, und richtig wurde Tschen erobert.

Warum Tiän Tschong Dsï das Land Tsi bekommen und es sich bis heute in seiner Familie erhalten hat, das ist, weil er einen Bruder hatte mit Namen Wan Dsï, der gütig und außerdem tapfer war.

Die Leute von Yüo boten Soldaten auf, um einen Strafzug gegen Tiän Tschong Dsï zu unternehmen, indem sie sagten: »Warum hat er seinen Fürsten getötet und das Land an sich gerissen?« Tiän Tschong Dsï litt darunter. Da bat Wan Dsï, an der Spitze der Staatsmänner[432] und hohen Räte um dem Heer von Yüo entgegenzutreten. In der Schlacht werde er sicher besiegt werden, nach seiner Besiegung werde er sicher fallen.

Tiän Tschong Dsï sprach: »Daß du durchaus mit Yüo kämpfen willst, das geht an. Aber daß du unter allen Umständen besiegt werden und fallen willst, das verstehe ich nicht.«

Wan Dsï sprach: »Seit du das Reich hast, hassen dich die Untertanen, und die Guten und Tüchtigen sind entschlossen, in den Tod zu gehen. Ich bin mit in die Schande verwickelt. Nach meiner Ansicht ist der Zustand des Landes äußerst gefährlich. Da nun Yüo ein Heer geschickt hat und ich mit ihnen kämpfe und besiegt werde, so werden die Guten und Tüchtigen alle getötet werden. Würden sie nicht getötet, so würden sie nicht wagen, zurückzukehren. Dann wohnst du mit den Waisen zusammen in Tsi, und meiner Ansicht nach kommt dann das Land sicher zur Ruhe.«

Wan Dsï brach auf. Tiän Tschong Dsï geleitete ihn unter bitteren Tränen. Fallen und besiegt werden, das hassen alle Menschen, und hier gereichte es umgekehrt zum Frieden. Daraus sieht man, daß die Dinge auf Erden nicht alle auf dieselbe Weise gehen. Darum müssen die Fürsten in ihrer Aufnahmefähigkeit und die Staatsmänner in ihrer Erfahrung umfassend sein.

Yin Do verwaltete Dsin Yang. Ehe er hinging, befragte er den Dschau Giän Dsï (über seine Pflichten). Dschau Giän Dsï sprach: »Wenn du hinkommst, so mußt du die Wälle vor der Stadt einebnen. Ich will nächstens hingehen. Wenn ich dann die Wälle sehe, so ist es mir, als sehe ich den Dschung Hang Yin und Fan Gi I (die sie einst im Kampf gegen mich aufgeworfen).« Yin Do ging hin und erhöhte die Wälle noch mehr. Als nun Dschau Giän Dsï nach Dsin Yang kam, da sah er die Lager. Er wurde zornig und sprach: »Ach dieser Yin Do verhöhnt mich.« Darauf blieb er außerhalb der Stadt und war im Begriff den Yin Do hinrichten zu lassen. Da widersprach Sun Ming Dsin und sprach: »Nach meiner Meinung verdient Yin Do noch eine Belohnung. Yin Do's Meinung ist: Wenn man Freuden begegnet, wird man übermütig, wenn einen Kummer trifft, so geht man in sich und bessert sich. Das ist[433] die Art der Menschen. Wenn Ihr diese Wälle seht, so erinnern sie Euch an schwere Zeiten, wieviel mehr erst die Beamten und das Volk. Etwas, das für das Land vorteilhaft und für den Fürsten günstig ist, hat Yin Do zu tun gewagt, obwohl er sich dadurch selbst in die äußerste Gefahr brachte, bestraft zu werden. Den Befehlen gehorchen und so die Zufriedenheit des Fürsten zu erlangen, das kann jeder, wieviel mehr hätte das Yin Do gekonnt. Überlegt Euch das.«

Dschau Giän Dsï sprach: »Ohne deine Worte hätte ich beinahe einen schweren Fehler gemacht.« Darauf belohnte er den Yin Do mit der Belohnung, die er auf Abwendung von öffentlichen Gefahren ausgesetzt hatte.

Von den Fürsten sind die Höchsten in ihrem Wohlgefallen und Zorn in Übereinstimmung mit der Vernunft. Die nächste Stufe nehmen die ein, die nicht mit der Vernunft in Einklang sind, aber doch immer wieder sich bessern. Obwohl sie keine großen, weisen Herrscher sind, so sind sie doch der schlechten Welt gewachsen. Ein solcher Fürst war Dschau Giän Dsï. Das Unglück der Fürsten unserer Zeit besteht darin, daß sie sich schämen, etwas nicht zu wissen und sich ihrer Taten rühmen, daß sie gern ihre Fehler beschönigen und nur ungern auf Mahnungen hören. Auf diese Weise bringen sie sich in Gefahr. Es gibt aber nichts, vor dem man sich mehr schämen sollte, als daß man sich selbst in Gefahr bringt.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 432-434.
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