2. Kapitel
Unterscheidung der Arten / Biä Le

[434] Wenn man weiß, daß man nichts weiß, das ist das Höchste. Das Übel derer, die Fehler machen ist, daß sie etwas nicht wissen und doch denken, sie wissen es. In vielen Fällen geht es so, daß es aussieht, als sei etwas so und ist doch nicht so. Darum sind zahllose Staaten zugrunde gegangen und zahllose Menschen ums Leben gekommen. Unter den Kräutern gibt es Asarum und Cissus. Wenn man eines davon allein ißt, so kann man daran sterben. Wenn man sie mit andern Kräutern gemischt ißt, so verlängern sie das menschliche Leben. Wenn man 10000 Schierlingsarten[434] zusammenmischt, so sind sie nicht tödlich. Lack ist flüssig, Wasser ist flüssig. Wenn man die beiden flüssigen Dinge zusammenbringt, so werden sie fest. Wenn man den Lack naß macht, so wird er trocken. Gold ist weich, Zinn ist weich; wenn man die beiden weichen Metalle mischt, so werden sie hart. Wenn man sie erhitzt, so werden sie flüssig. Das eine wird dadurch, daß man es naß macht, trocken, das andere dadurch, daß man es erhitzt, flüssig. Daraus ersieht man, daß man von einer Art nicht sicher auf eine andere schließen kann.

Ein kleines Geviert ist von derselben Art wie ein großes Geviert. Ein kleines Pferd ist von derselben Art wie ein großes Pferd. Aber kleines Wissen ist nicht von derselben Art wie großes Wissen.

In Lu gab es einen Mann namens Gung Sun Dscho, der sagte zu einem anderen: »Ich kann Tote lebendig machen.« Der andere fragte, wie das zugehe. Da erwiderte er: »Ich kann einseitige Schlagflüsse heilen. Wenn ich nun von der Arznei, mit der ich solche Schlagflüsse heile, die doppelte Dosis gebe, so wird sie einen Toten zum Leben erwecken.«

Unter den Dingen gibt es freilich solche, die etwas Kleines bewirken, aber nicht etwas Großes bewirken können, die die eine Hälfte bewirken können, aber nicht das Ganze.

Ein Schwertkenner sprach: »Weißes Metall macht das Schwert fest, gelbes macht es elastisch. Wenn Gelb und Weiß vereint wird, so ist das Schwert fest und elastisch, diese Schwerter sind die besten.« Einer machte ihm Schwierigkeiten und sprach: »Das Weiße ist der Grund, daß das Schwert nicht elastisch ist, das Gelbe, daß es nicht fest ist. Wenn also Weiß und Gelb gemischt ist, so ist das Schwert nicht fest und elastisch. Außerdem wenn ein Schwert elastisch ist, so verbiegt es sich leicht, wenn es fest ist, so bricht es leicht. Ein Schwert, das sich leicht verbiegt und bricht, wie kann man das ein scharfes Schwert nen nen?« Das Schwert hatte seine Natur nicht verändert und doch nannte es der eine gut, der andere schlecht, das kam nur von der Auffassung her. Darum, wenn man richtig zu hören versteht, so müssen die[435] Schwätzer verstummen. Wenn man nicht richtig zu hören versteht, so ist zwischen einem Yau und einem Giä kein Unterschied. Das ist die Not der treuen Beamten und der Grund, warum tüchtige Männer verworfen werden.

Wenn man Gerechtigkeit im Kleinen übt, so hat man im Kleinen Glück, wenn man sie im Großen übt, so hat man im Großen Glück. Mit dem Unheil ist es nicht so. Wenig ist immer noch schlimmer als gar nichts. Wenn man nach einem Ziel schießt, so will man einen kleinen Punkt treffen. Wenn man nach Tieren schießt, so will man die Großen treffen. Man kann von einem Ding nicht mit Sicherheit auf ein anderes schließen.

Gau Yang Ying war im Begriff ein Haus zu bauen. Sein Hausmaurer sprach zu ihm: »Es geht noch nicht, das Holz ist noch zu frisch, wenn man Lehm darauf bringt, so wird es sich biegen. Wenn man mit frischem Holz baut, so wird es vielleicht für den Augenblick gut, aber auf die Dauer ist es sicher vom Übel.« Gau Yang Ying sprach: »Wenn man sich nach deinen Worten richtet, so wird also ein Haus nie zerfallen. Je trockener das Holz wird, desto fester wird es. Je trockener der Lehm wird, desto leichter wird er. Wenn man nun auf etwas, das immer fester wird, etwas tut, das immer leichter wird, so schadet es sicher nichts.« Der Maurer wußte darauf nichts zu erwidern, so gehorchte er und baute das Haus. Als das Haus fertig war, war es sehr schön; mit der Zeit zerfiel es aber tatsächlich.

Gau Yang Ying liebte kleinlichen Scharfsinn zu beweisen, aber er verstand die großen Naturgesetze nicht.

Ki, Au und Lü Örl1, wenn sie die Sonne hinter sich haben und nach Westen laufen, so finden sie doch, wenn sie abends ankommen, die Sonne vor sich. So gibt es Dinge, die das Auge nicht wahrnehmen kann, und Dinge, die der Verstand nicht erkennen kann, und die man nicht zahlenmäßig berechnen kann, ohne daß man weiß, warum das so ist, wie es ist. Darum richtet sich der Heilige nach den Naturgesetzen und nicht nach den Meinungen seines Herzens.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 434-436.
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