6. Kapitel
Achtung aufs Kleine / Schen Siau

[444] Die Oberen sind geehrt, die Unteren gering. Die Geringen können sich nicht in kleinen Dingen mit den Oberen messen wollen. Dadurch werden die Oberen übermütig. Im Übermut verachten sie[444] das Kleine. Durch Verachtung des Kleinen kommt es dahin, daß die Oberen die Unteren nicht mehr verstehen, und die Unteren die Oberen nicht mehr verstehen. Wenn Obere und Untere einander nicht mehr verstehen, so verurteilen die Oberen die Unteren, und die Unteren grollen den Oberen. In der Natur der Beamten liegt es, daß sie nicht Leuten helfen können, denen sie grollen. In der Natur der Herrscher liegt es, daß sie die nicht lieben können, die sie mißbilligen. Auf diese Weise verlieren Obere und Untere in hohem Maße den rechten Weg. Darum ist ein weiser Fürst vorsichtig im Kleinen, wenn er lobt oder tadelt.

Wenn ein Damm Ameisen in sich beherbergt, so ist die Folge, daß Städte überschwemmt werden und Menschen ums Leben kommen. Wenn aus dem Herd ein Funke entfällt, so verbrennt das Haus, und die Scheune geht in Flammen auf. Wenn ein Feldherr auch nur einen Befehl aus Versehen falsch gibt, so wird das Heer besiegt und er wird getötet. Wenn ein Fürst es auch nur in einem Wort versieht, so geht der Staat zugrunde, sein Name kommt in Schande und wird zum Gelächter der Nachwelt.

Herzog Hiän von We hatte Sun Lin Fu und Ning Dschï zum Essen eingeladen. Da ließen sich Wildgänse im Park nieder und der Förster berichtete es. Der Herzog begab sich in den Park, um die Gänse zu schießen. Während dessen warteten die beiden auf den Fürsten. Es wurde Abend, ehe der Herzog zurückkam. Als er endlich kam, nahm er seine Pelzmütze nicht ab, als er die beiden begrüßte. Die beiden waren darüber mißvergnügt. Sie vertrieben den Herzog Hiän und setzten den Prinzen Kiän ein.

Herzog Dschuang von We hatte den Thron bestiegen. Da wollte er den Schï Pu vertreiben. Eines Tages stieg er auf einen Turm, um die Aussicht zu genießen. Da sah er die Stadt der Jungbarbaren und fragte: »Was ist das?« Die Diener sprachen: »Das ist die Stadt der Jungbarbaren.« Herzog Dschuang sprach: »Ich gehöre der kaiserlichen Familie Gi an, wie wagen es die Jungbarbaren, in meinem Staat zu wohnen?« Darauf gab er Befehl, ihre Häuser zu beschlagnahmen und die Stadt zu zerstören. Zu dieser Zeit machte gerade der Staat Dsin einen Angriff auf We. Das benützten[445] die Leute aus der Stadt der Jungbarbaren, um in Gemeinschaft mit Schï Pu den Fürsten Dschuang zu töten und den Prinzen Ki einzusetzen.

Das kam daher, daß kleine Dinge nicht wichtig genommen wurden. Es liegt in der Natur des Menschen, daß er nicht über einen Berg stolpert, wohl aber über einen Ameisenhügel.

Herzog Huan von Tsi saß drei Jahre auf dem Thron. Drei Worte hatte er gesprochen, und die ganze Welt rühmte seine Weisheit, und alle seine Beamten waren mit ihm zufrieden. Er hatte die Raubtiere beseitigen lassen und die Getreide fressenden Vögel und die seidenen Netze zum Hasen fangen.

Wu Ki regierte die Gegend im Westen des Ho. Er wollte die Leute von seiner Wahrhaftigkeit überzeugen. Er stellte bei Tag und Nacht eine Stange vor dem Südtor auf. Dann ließ er bekanntmachen: Wer morgen die Stange vor dem Südtor umhauen kann, der soll zur Belohnung zum Rat ernannt werden. Am andern Tag aber wurde es Abend, ohne daß einer die Stange umgehauen hätte; denn die Leute sagten untereinander: Das ist sicher nicht wahr. Da sprach einer: »Ich will es einmal versuchen und hingehen. Wenn ich keine Belohnung bekomme, so tut es ja auch weiter nichts.« Darauf hieb er die Stange um und trat vor Wu Ki. Wu Ki empfing ihn persönlich und stellte ihn als Rat an.

Nach einigen Tagen ließ er wieder eine Stange aufstellen und ließ dasselbe wieder in der Stadt bekannt machen. Da strömten die Leute aus der Stadt herbei und versammelten sich am Tor und stritten sich, wer die Stange ausreißen dürfe. Dabei wurde die Stange nur fester in die Erde getrieben und keiner bekam die Belohnung.

Von da an glaubten die Leute, daß es Wu Ki mit Lohn und Strafe ernst sei. Wenn aber die Leute Vertrauen zu Lohn und Strafe haben, was läßt sich dann nicht alles erreichen; nicht etwa nur Kriege führen!

Fußnoten

1 Drei der berühmten acht Pferde des Königs Wu von Dschou.


2 Dschou Gung Dan, Schau Gung Schi, Tai Gung Wang, Bi Gung Gau, Su Gung Fen Schong.


3 Die Eule ernährt aus Liebe ihre Jungen, und wenn die Jungen groß geworden sind, so fressen sie ihre Mutter auf; ebenso liebte der Herzog von Bo seine Schätze und ging daran zugrunde.


4 Nach dem Kommentar eingefügt.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 444-446.
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