5. Kapitel
Die rechte Art des Handelns / Tschu Fang

[442] Wer regieren will, muß zuerst die Stellungsunterschiede festsetzen: Fürst, Beamter, Vater, Sohn, Gatte, Gattin. Wenn diese sechs Beziehungen fest geordnet sind, so übertreten die Unteren nicht ihre Grenzen und die Oberen werden nicht leichtsinnig im Handeln. Die Jungen sind nicht gewalttätig und falsch, die Alten sind nicht gleichgültig und träge.

Metall und Holz haben verschiedene Funktionen, Wasser und Feuer haben verschiedene Geschäfte, das Schattige und das Lichte stimmen nicht überein in ihren Wirkungen. Aber ihr Nutzen für die Menschen ist derselbe.

So wird durch den Unterschied das Gemeinsame gesichert. Durch das Gemeinsame wird ihre Verschiedenheit gefährdet. Der Unterschied zwischen Gemeinsamkeit und Verschiedenheit, die Unterscheidung zwischen Vornehm und Gering, die Pflichten der Jugend und des Alters, diese Dinge waren es, denen die alten Könige ihre Aufmerksamkeit zuwandten, und sie sind die Grundsätze, durch die Verwirrungen geschlichtet werden können.

Der Bogenschütze sieht haarscharf, aber er beachtet die Wand nicht, an der die Scheibe hängt. Ein Maler sieht auf die kleinsten Härchen, aber er nimmt die Umrisse leicht. Das heißt das Wesentliche[442] verstehen. Wenn man sich nicht auf das Wesentliche versteht, so mag man die Begabung eines Yau und Schun haben und kann doch nicht regieren. Jede Verwirrung beginnt in der Nähe und breitet sich von da in die Ferne aus, sie fängt beim Stamm an und verbreitet sich von da auf die Zweige. Mit der Ordnung ist es ebenso.

Bai Li Hi weilte in Yü, und Yü ging zugrunde. Er weilte in Tsin, und Tsin erlangte die Vorherrschaft. Hiang Dschï weilte in Schang, und Schang wurde vernichtet, er weilte in Dschou, und Dschou erlangte die Weltherrschaft. Als Bai Li Hi in Yü weilte, war seine Weisheit nicht zur Torheit geworden. Als Hiang Dschï in Schang weilte, waren seine Ratschläge nicht schlecht. Aber es fehlte am Stamm (Wesentlichen). Als Bai Li Hi in Tsin weilte, war seine Weisheit nicht größer geworden. Als jener in Dschou weilte, waren seine Ratschläge nicht besser als zuvor. Aber das Wesentliche war vorhanden. Das Wesentliche ist eben die Festsetzung der Stellungsunterschiede.

Der Fürst von Tsi befahl Dschang Dsï mit Han und We zusammen Tschu anzugreifen. Tschu befahl dem Tang Miä mit einem Heer ihnen entgegenzutreten. Die Heere standen einander gegenüber sechs Monate lang, und es kam zu keinem Kampf. Da schickte der Fürst von Tsi den Dschou Dsui, um den Dschang Dsï zum Angriff zu drängen. Seine Botschaft war sehr streng gehalten. Dschang Dsï erwiderte dem Dschou Dsui: »Der König kann mich töten, absetzen, meine Familie ausrotten, aber er kann mich nicht dazu bringen zu kämpfen, wenn man nicht kämpfen darf, oder nicht zu kämpfen, wenn man kämpfen muß.« Die Leute von Tschu hatten sich nämlich hinter den Bi-Fluß zum Kampf aufgestellt. Dschang Dsï schickte jemand, um zu sehen, ob sich der Fluß ableiten lasse. Da schossen die Leute von Tschu nach ihm, und er konnte dem Fluß nicht nahen. Da war ein Heusammler am Ufer, der sagte zu dem Aufklärungsposten von Tsi: »Die Tiefe des Wassers an den verschiedenen Stellen läßt sich leicht feststellen. Wo die Leute von Tschu dicht stehen zur Bewachung, das sind die seichten Stellen. Wo sie in der Bewachung es leichter nehmen, das sind die tiefen Stellen.« Der Aufklärungsposten nahm den Wildheuer auf seinen[443] Wagen und brachte ihn zu Dschang Dsï. Dschang Dsï war über seine Worte hoch erfreut. Darauf sammelte er seine Soldaten und überfiel die von den Leuten von Tschu stark bewachten Stellen. Und Tang Miä fiel tatsächlich. Dschang Dsï war ein Mann, der die Stellung eines Feldherrn verstand.

Der Fürst Dschau Li von Han zog aus auf die Vogeljagd. Von den Zügeln war einer schief und locker. Fürst Dschau Li saß im Wagen und sagte zu seinem Kutscher: »Ist nicht der eine Zügel schief und locker?« Sein Kutscher sagte: »Ja.« Als sie auf den Jagdplatz kamen, da schoß Fürst Dschau Li Vögel. Da zog der im Wagen rechts Befindliche den lockeren Zügel an während des Wartens. Nachdem Fürst Dschau Li die Jagd beendigt, ließ er anspannen um heimzufahren. Als er den Wagen bestiegen hatte, fragte er nach einer Weile: »Der Zügel, der vorher schief und locker war, ist jetzt angezogen, warum?« Sein rechter Begleiter sagte von hinten: »Ich habe ihn inzwischen angezogen.« Da tadelte Fürst Dschau Li den Kutscher und den Mann rechts im Wagen4 und setzte sie beide ab. Darum, wer unvorsichtig ist im Erraten der Wünsche des Fürsten, den wird selbst ein weiser Fürst nicht brauchen. Wenn z.B. jemand ohne Befehl des Fürsten von sich aus etwas anordnet und dadurch den Staat rettet, wenn einer das Gewicht abschätzt so genau, als hätte er eine Wage, wenn einer Vierecke und Kreise zeichnen kann, so genau wie mit Zirkel und Winkelmaß, so ist das persönliche Geschicklichkeit, aber es ist nicht das auf die Dauer anwendbare Gesetz. Das Gesetz ist etwas, in dem alle übereinstimmen, dessen Befolgung sich Weise und Toren gleich angelegen sein lassen müssen. Pläne, die zu weit gehen, darf man nicht befolgen, Leistungen, die zu weit gehen, darf man nicht dulden, solche Dinge waren es, die die alten Könige verschmähten.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 442-444.
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