3. Kapitel
Das Vorhandensein von Maszstäben / Yu Du

[436] Ein weiser Herrscher hat beim Hören Maßstäbe, darum macht er keinen Fehler dabei. Wenn man beim Hören einen Maßstab hat, so kann man nicht betrogen werden, so kann man nicht unsicher gemacht, nicht eingeschüchtert, nicht zur Ausgelassenheit verführt werden. Weil man das Wissen eines Durchschnittsmenschen zwar nicht vermissen kann in dem, was er schon weiß, wohl aber vermissen kann in dem, was er noch nicht weiß, darum sind die Menschen leicht zu betrügen, unsicher zu machen, einzuschüchtern und zur Ausgelassenheit zu verführen. Das ist ein Zeichen, daß die Erkenntnis nicht auf festem Urteil beruht.

Jemand fragte den Hu Gi Dsï: »Woher kann man wissen, daß Schun fähig ist?« Gi Dsï sprach: »Yau hat tatsächlich es verstanden, die Welt in Ordnung zu bringen. Was Schun über die Ordnung der Welt sagte, das stimmte damit überein, wie zwei Hälften eines Talismans. Darum kann man wissen, daß er fähig ist.«

»Wenn man das auch weiß, woher soll man wissen, daß er das nicht alles aus selbstsüchtigen Gründen tut?«

Gi Dsï sprach: »Alle, die die Welt zu ordnen verstehen, müssen die Grundgesetze des Lebens beherrschen, da sind sie natürlich ohne Selbstsucht. Wenn man im Sommer keinen Pelz trägt, so ist es nicht, um den Pelz zu schonen, sondern weil es zu warm ist. Wenn man im Winter keinen Fächer benützt, so ist es nicht, um den Fächer zu schonen, sondern weil es zu kalt ist. Wenn ein Heiliger nicht selbstsüchtig ist, so ist er es nicht, um die öffentlichen Ausgaben zu sparen, sondern weil er selbstbeherrscht ist. Wenn jemand sich selbst beherrscht, so vermag er die unreinen Begierden zum Aufhören zu bringen, wieviel mehr ein Heiliger! Hü Yu war nicht etwa besonders stark, sondern er verstand sich auf die Gesetze des Lebens. Wenn man die versteht, dann ist aller Gewinn, der begehrt werden kann, etwas äußerliches.«

Die Jünger und Anhänger des Kung Dsï und Mo Dsï erfüllen die ganze Welt. Sie alle belehren die Welt über die Methoden von Liebe und Pflicht. Wenn diese Lehren ausgeführt werden, so[437] können die Methoden sich nicht bewähren, wieviel weniger das, was über diese Methoden gelehrt wird. Woher kommt das? Weil dann die Methoden von Liebe und Pflicht etwas äußerliches sind. Wenn man durch etwas äußerliches etwas innerliches besiegen will, so wird man nicht einmal bei ganz gewöhnlichen Menschen Erfolg haben, wieviel weniger bei Fürsten. Nur wenn man sich auf die Gesetze des Lebens versteht, so wird die Lehre der Methode von Liebe und Pflicht ganz von selbst Erfolg haben.

Die Könige des Altertums konnten nicht alles wissen. Sie hielten sich an Eines, und alles kam in Ordnung. Daß die Leute dieses Eine nicht festhalten können, kommt davon her, daß sie sich von den Außendingen betören lassen. Darum heißt es: Man muß die Vorurteile der Gedanken durchdringen, die Verwirrungen des Herzens auflösen, die Verwicklungen des Charakters beseitigen, die Hindernisse des rechten Wegs überwinden. Vornehmheit, Reichtum, Berühmtheit, Ansehen, Name, Gewinn: Diese sechs Dinge schaffen den Gedanken Vorurteile. Äußeres, Bewegungen, Mienen, Prinzipien, Stimmungen, Gedanken: Diese sechs Dinge schaffen im Herzen Verwirrung. Abneigung, Zuneigung, Freude, Zorn, Trauer, Fröhlichkeit: Diese sechs Dinge verwickeln den Charakter. Weisheit, Fähigkeit, Abwendung, Zuwendung, Nehmen, Verlassen: Diese sechs Dinge behindern den rechten Weg.

Wenn diese vier Sechsergruppen nicht in der Brust sich umtreiben, so wird man recht. Ist man recht, so wird man ruhig. Ist man ruhig, so wird man rein und klar. Ist man rein und klar, so wird man frei. Ist man frei, so braucht man nichts zu tun, und dennoch bleibt nichts ungetan.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 436-438.
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