I. Gassendi

Wenn wir die eigentliche Erneuerung einer ausgebildeten materialistischen Weltanschauung auf Gassendi zurückführen, so bedarf die Stellung, welche wir diesem damit einräumen, einiger verteidigende Worte. Wir legen vor allen Dingen Gewicht darauf, daß Gassendi das vollendetste materialistische System des Altertums, das System Epikurs wieder ans Licht gezogen und den Zeitverhältnissen gemäß umgebildet hat. Allein gerade hierauf hat man sich gestützt, um Gassendi aus der mit Baco und Descartes hereinbrechenden neuen Zeit einer selbständigen Philosophie zurückzuweisen und ihn als bloßen Fortsetzer der überwundenen Periode der Reproduktion altklassischer Systeme zu betrachten.146

Hierin liegt eine Verkennung des wesentlichen Unterschiedes, der zwischen dem epikureischen und jedem anderen alten Systeme im Verhältnis zu der Zeit, in der Gassendi lebte, bestand. Während die herrschende aristotelische Philosophie, so sehr sie auch den Kirchenvätern noch zuwider war, sich im Laufe des Mittelalters mit dem Christentum fast verschmolzen hatte, blieb Epikur gerade das Sinnbild des extremen Heidentums und zugleich des direkten Gegensatzes gegen Aristoteles. Nimmt man hierzu den undurchdringlichen Schutt traditioneller Verleumdungen, mit denen Epikur überhäuft war, und deren Haltlosigkeit erst hier und da einsichtige Philologen gelegentlich bemerkt hatten, ohne einen entscheidenden Streich zu führen, so muß gerade die Ehrenrettung Epikurs verbunden mit der Erneuerung seiner Philosophie als eine Tat erscheinen, die schon bloß von ihrer negativen Seite als die vollendete Opposition gegen Aristoteles sich den selbständigsten Unternehmungen jener Zeit zur Seite setzen darf. Allein auch diese Betrachtung erschöpft die volle Bedeutung der Tat Gassendis nicht.

Gassendi traf nicht zufällig oder aus bloßer Oppositionssucht auf Epikur und seine Philosophie. Er war Naturforscher, und zwar Physiker und Empiriker. Nun hatte schon Baco dem Aristoteles gegenüber auf Demokrit hingewiesen als den größten der alten Philosophen. Gassendi, dem eine gründliche philologisch-historische[235] Bildung einen Überblick über die sämtlichen Systeme des Altertums gab, griff mit sicherem Blick dasjenige heraus, was gerade der neuen Zeit, und zwar der empirischen Richtung in dieser neuen Zeit, am vollständigsten entsprach. Die Atomistik, durch ihn aus dem Altertum wieder hervorgezogen, gewann eine bleibende Bedeutung, wie sehr sie auch unter den Händen späterer Forscher allmählich umgestaltet wurde.147

Bedenklich könnte es freilich erscheinen, den Propst von Digne, den orthodoxen katholischen Geistlichen Gassendi, zum Stammvater des neueren Materialismus zu machen; allein Materialismus und Atheismus sind ja eben nicht zusammenfallende, wenn auch verwandte Begriffe; auch Epikur opferte den Göttern. Die Naturforscher dieser Zeit hatten durch längere Übung eine wahre Virtuosität darin erlangt, mit der Theologie sich formell auf gutem Fuße zu erhalten. Descartes leitete z.B. seine Theorie von der Entstehung der Welt aus kleinen Körperchen mit der Bemerkung ein, daß zwar ganz gewiß Gott die Welt auf einmal erschaffen hatte, daß es aber doch von großem Interesse sei, zu sehen, wie die Welt hätte entstehen können, obwohl wir wüßten, daß sie es nicht getan habe. Einmal mitten in der naturwissenschaftlichen Theorie angelangt, steht dann ausschließlich jene Entstehungshypothese im Gesichtskreis; sie steht mit allen Tatsachen in bester Harmonie und man vermißt nicht das geringste. So wird die göttliche Schöpfung zu einer bedeutungsvollen Formel der Anerkennung. Ebenso geschieht es mit der Bewegung, wo Gott die erste Ursache ist, die aber den Naturforscher gar nicht weiter kümmert. Das Prinzip der Erhaltung der Kraft durch beständige Übertragung der mechanischen Stoßbewegung erhält zu einem sehr untheologischen Inhalt doch eine theologische Form. In derselben Weise geht nun auch der Propst Gassendi zu Werke. Mersenne, ein anderer naturforschender Theologe, zugleich ein tüchtiger Hebräer, gab damals einen Kommentar zur Genesis heraus, in welchem alle Einwürfe der Atheisten und Naturalisten widerlegt waren; aber so, daß mancher den Kopf dazu schüttelte, und jedenfalls der größte Fleiß auf die Zusammenstellung, nicht auf die Widerlegung jener Einwürfe verwandt wurde, Mersenne nahm eine vermittelnde Stellung ein zwischen Descartes und Gassendi; mit beiden, wie mit dem Engländer Hobbes befreundet. Dieser war ein entschiedener Parteigänger des Königs und der bischöflichen Hochkirche und wird nebenbei als Haupt und Stammvater der Atheisten betrachtet.[236]

Interessant ist, daß Gassendi auch die Theorie zu diesem zweideutigen Verhalten nicht etwa von den Jesuiten (was wohl auch möglich gewesen wäre) bezieht, sondern daß er sie auf Epikurs Beispiel begründet. In seinem Leben Epikurs findet sich eine weitläufige Erörterung, deren Kern in dem Satze steckt: Innerlich konnte Epikur denken was er wollte; in seinem äußeren Verhalten aber war er den Gesetzen seines Staates unterworfen. Noch schärfer bildete Hobbes diese Lehrsatz aus: der Staat hat über den Kultus unbedingte Gewalt; der einzelne muß sein Urteil gefangen geben; aber nicht innerlich, denn unsere Gedanken sind nicht der Willkür unterworfen und deshalb kann man niemanden zum Glauben zwingen.148

Mit der Rettung Epikurs und der Herstellung seiner Lehre durfte sich's Gassendi nicht gar zu bequem machen. Man sieht es seiner Vorrede zu dem Buche über Leben und Sitten Epikurs wohl an, daß es gewagter erschien, Epikur zu bekennen, als eine neue Kosmogonie aufzustellen.149 Dessenungeachtet sind die Rechtfertigungsgründe seines Schrittes wohlweislich nicht aus der Tiefe geschöpft, sondern nur mit großem Aufwand von dialektischer Kunst äußerlich zusammengefügt; ein Verfahren, das der Kirche gegenüber stets besser weggekommen ist, als ein tiefsinniger und selbständiger Versuch der Vermittlung zwischen ihren Lehren und fremden oder feindlichen Bestandteilen.

Ist Epikur ein Heide, so war Aristoteles das auch; bekämpft Epikur den Aberglauben und die Religion, so hatte er recht, denn er kannte ja eben die wahre Religion nicht; lehrt er, daß die Götter weder lohnen noch strafen, und verehrt er sie um ihrer Vollkommenheit willen, so zeigt sich darin der Gedanke der kindlichen Verehrung an der Stelle der knechtischen, also eine reinere, dem Christentum näherstehende Auffassung. Epikurs Irrtümer sollen sorgfältig verbessert werden; es geschieht aber in jenem kartesianischen Geiste, den wir eben in der Lehre von der Weltschöpfung und von der Bewegung kennen lernten. Der unumwundenste Eifer zeigt sich darin, Epikur unter allen Philosophen des Altertums die größte Sittenreinheit zu vindizieren. So wird es denn wohl gerechtfertigt erscheinen, wenn wir Gassendi als den wahren Erneuerer des Materialismus betrachten; um so mehr, wenn man bedenkt wie groß der tatsächliche Einfluß seines Vorgehens auf die nächstfolgende Generation war.

Pierre Gassendi wurde 1592 in der Nähe von Digne in der Provence[237] als Sohn armer Landleute geboren. Er studierte und war bereits mit 16 Jahren Lehrer der Rhetorik, 3 Jahre später Professor der Philosophie zu Aix. Damals schrieb er schon ein Werk, das seine Richtung deutlich bezeichnet: die Exercitationes paradoxicae adversus Aristoteleos, ein Werk voll jugendlichen Eifers, einer der schärfsten und übermütigsten Angriffe gegen die aristotelische Philosophie. Die Schrift wurde erst später, 1624 und 1645, teilweise gedruckt, fünf Bücher auf den Rat seiner Freunde verbrannt. Durch den gelehrten Parlamentsrat Peirescius befördert, wurde Gassendi bald darauf Kanonikus, dann Propst zu Digne.

Diese rasche Laufbahn führte ihn durch verschiedene Gebiete. Als Professor der Rhetorik hatte er philologischen Unterricht zu erteilen, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß seine Vorliebe für Epikur schon in dieser Zeit aus dem Studium des Lucrez erwachsen ist, der in philologischen Kreisen längst geschätzt wurde. Als Gassendi im Jahre 1628 eine Reise nach den Niederlanden unternahm, schenkte ihm der Löwener Philologe Eryceus Puteanus den Abdruck einer von ihm selbst hochverehrten Gemme mit dem Bildnis Epikurs.150

Die »Exercitationes paradoxicae« müssen in der Tat ein Werk von ungewöhnlicher Kühnheit und großem Scharfsinn gewesen sein, und wir haben allen Grund zu vermuten, daß sie nicht ohne Wirkung auf die französische Gelehrtenwelt geblieben sind; denn die Freunde, welche zur Verbrennung der fünf verlorenen Bücher rieten, müssen doch wohl vom Inhalte derselben Kenntnis gehabt haben! Auch ist wohl selbstverständlich, daß Gassendi Männer zu Rate zog, welche seinem eigenen Standpunkte nahe standen und fähig waren, den Inhalt seines Werkes auch nach anderen Seiten, als bloß mit Rücksicht auf seine Gefährlichkeit, zu verstehen und zu würdigen. So mag in jenen Zeiten noch manches Feuer im stillen weitergebrannt sein, dessen Flamme später unvermutet an einer anderen Stelle emporschlägt! Zum Glück ist uns wenigstens eine kurze Inhaltsübersicht der verlorenen Bücher erhalten. Aus dieser ersehen wir, daß im vierten Buche nicht nur die kopernikanische Lehre vorgetragen wurde, sondern auch die von Giordano Bruno aus dem Lucrez hervorgezogene Lehre von der Unendlichkeit der Welt. Da das gleiche Buch eine Bekämpfung der aristotelischen Elemente enthielt, so dürfen wir wohl vermuten, daß schon hier im Gegensatz zu Aristoteles die Atomistik empfohlen wurde. Dies wird dadurch noch wahrscheinlicher, daß das siebente Buch nach[238] jener Inhaltsangabe schon eine förmliche Empfehlung der epikureischen Sittenlehre enthielt.151

Gassendi war übrigens eine jener glücklichen Naturen, welche sich überall ein wenig mehr erlauben dürfen als andere Leute. Die frühreife Entwicklung des Geistes hatte bei ihm nicht, wie bei Pascal, zu frühem Überdruß an der Wissenschaft und melancholischem Wesen geführt. Heiter und liebenswürdig gewann er sich überall Freunde, und bei aller Bescheidenheit seines Auftretens ließ er in vertrauten Kreisen gern seinem unerschöpflichen Humor die Zügel schießen. In seinen Anekdoten mußte besonders die überlieferte Medizin herhalten, die sich freilich bitter genug an ihm gerächt hat. Dabei scheint übrigens ein ernsterer Zug in seinem Wesen nicht gefehlt zu haben. Merkwürdig ist, daß er unter den Schriftstellern, die in seiner Jugend auf ihn gewirkt und ihn von Aristoteles befreit haben, nicht etwa den geistreichen Spötter Montaigne in erster Linie nennt, sondern den frommen Skeptiker Charron und den ernsten, logische Schärfe stets mit Strenge des sittlichen Urteils verbindenden Ludwig Vives.

Wie Descartes hat also auch Gassendi darauf verzichten müssen, in der Darlegung seiner Weltanschauung überall »sich seiner eignen Vernunftgründe zu bedienen«; allein es fiel ihm nicht ein, die Akkomodation an die Kirchenlehre weiter zu treiben, als irgend notwendig schien. Während Descartes aus der Not eine Tugend machte und den Materialismus seiner Naturphilosophie in den weiten Mantel eines durch seine Neuheit blendenden Idealismus hüllte, blieb Gassendi wesentlich Materialist und betrachtete die Erfindungen seines einstigen Gesinnungsgenossen mit unverhohlenem Mißbehagen. Bei Descartes überwog der Mathematiker; bei ihm der Physiker; während jener, wie Plato und Pythagoras im Altertum, sich durch das Beispiel der Mathematik verleiten ließ, mit seinen Schlüssen das Feld jeder möglichen Erfahrung zu überschreiten, verharrte dieser bei der Empirie und verließ, soweit es nicht das kirchliche Dogma unbedingt zu fordern schien, niemals die Grenzen einer Spekulation, welche auch ihre kühnsten Theorien noch nach Analogie der Erfahrung einrichtet. Descartes verstieg sich in ein System, welches Denken und Anschauung gewaltsam auseinanderreißt und eben dadurch die Mittel zu den verwegensten Behauptungen gewinnt; Gassendi hielt die Einheit von Denken und Anschauung unerschütterlich aufrecht.

Im Jahre 1643 gab er seine Disquisitiones Anticartesianae heraus,[239] ein Werk, das mit Recht als Muster einer ebenso feinen und höflichen, als gründlichen und witzigen Polemik bezeichnet wird. Wenn Descartes damit begann, an allem, selbst an der Wahrheit des sinnlich Gegebenen zu zweifeln, so zeigte Gassendi, daß es schlechthin unmöglich sei, eine Abstraktion von allem sinnlich Gegebenen in Wirklichkeit durchzuführen, daß also auch das Cogito ergo sum nichts weniger als die höchste und erste Wahrheit sei, aus welcher sich alle übrigen ableiten ließen.

In der Tat ist auch jener kartesische Zweifel, der eines schönen Morgens (»semel in vita«) vorgenommen wird, um die Seele von allen seit der Kindheit eingesogenen Vorurteilen zu befreien, nichts als ein frivoles Spiel mit leeren Begriffen. In einem konkreten psychischen Akt ist das Denken von sinnlichen Elementen niemals zu trennen; in bloßen Formeln aber, wie wir z.B. mit √(-1) rechnen ohne uns diese Größe vorstellen zu können, dürfen wir fröhlichen Mutes auch das zweifelnde Subjekt und sogar die Handlung des Zweifelns gleich Null setzen. Wir gewinnen damit nichts, aber wir verlieren auch nichts, als die Zeit, welche man auf Spekulationen dieser Art verwendet.

Gassendis berühmtester Einwand, man könne die Existenz ebensogut wie aus dem Denken aus jeder anderen Aktion folgern,152 liegt freilich so nahe, daß er oft, von Gassendi unabhängig, wiederholt und ebensooft für oberflächlich und mißverständlich erklärt worden ist. So sagt Büchner, der Schluß sei so viel wert, wie wenn man schließen wolle: »der Hund bellt, also ist er«; Buckle153 dagegen erklärt jede derartige Kritik für kurzsichtig, weil es sich nicht um einen logischen, sondern um einen psychologischen Prozeß handle. Dieser wohlgemeinten Verteidigung ist aber die sonnenklare Tatsache entgegenzuhalten, daß derjenige, welcher den logischen und den psychologischen Prozeß verwechselt, eben Descartes selbst ist und daß mit der strengen Unterscheidung bei der die ganze Argumentation zusammenfällt.

Zunächst ist das formale Recht des Einwandes ganz unbestreitbar in den Worten der »Principia« (I, 7) begründet: »Repugnat enim, ut putamus, id quod cogitat, eo ipso tempore, quo cogitat, nihil esse.« Hier ist die rein logische Begründung von Descartes selbst angewandt und damit dem zweiten Einwande Gassendis gerufen. Will man dagegen den psychologischen Prozeß an die Stelle setzen so tritt der erste Einwand Gassendis in sein Recht: dieser psychologische Prozeß existiert nicht und kann nicht existieren.[240]

Am weitesten führt scheinbar die von Descartes selbst adoptierte Verteidigung, welche sich auf die logische Deduktion einläßt und den Unterschied eben darin findet, daß bei einem Schlusse die Prämisse »ich denke« gewiß sei; bei dem Schlusse dagegen: »ich gehe spazieren, also bin ich« sei eben die Prämisse, auf welcher er ruht, zweifelhaft und darum der Schluß unmöglich. Aber auch dies ist eitel Sophistik; denn wenn ich wirklich spazieren gehe, so kann ich zwar dies mein Spazierengehen für bloße Erscheinung eines an sich anders beschaffenen Vorganges halten – und dies kann ich durchaus in gleicher Weise auch mit meinem Denken als einer psychologischen Erscheinung; ich kann aber nicht, ohne einfach zu lügen, die Vorstellung selbst, daß ich spazieren gehe, annullieren, so wenig, wie die Vorstellung meines Denkens, zumal wenn man unter dem »cogitare« mit Cartesius auch das velle, imaginari und sogar das sentire mit befaßt.

Am wenigsten ist der Schluß auf ein Subjekt des Denkens begründet, wie Lichtenberg mit der treffenden Bemerkung hervorgehoben hat: »Es denkt, sollte man sagen, wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.«154

Im Jahre 1646 wurde Gassendi königlicher Professor der Mathematik zu Paris, wo sein Auditorium von Männern jedes Alters darunter anerkannten Gelehrten, überfüllt war. Nur ungern hatte er sich dazu entschlossen, seine südliche Heimat zu verlassen, und da er bald von einem Brustleiden betroffen wurde, kehrte er nach Digne zurück, wo er bis 1653 blieb. In diese Zeit fällt der größte Teil seiner schriftstellerischen Tätigkeit für die Philosophie Epikurs und damit zugleich die positive Ausbildung seiner eigenen Lehren. In derselben Zeit verfaßte Gassendi auch außer mehreren astronomischen Werken eine Reihe gediegener Biographien, unter denen besonders die des Kopernikus und des Tycho Brahe beachtenswert sind. Gassendi ist unter allen hervorragenden Vertretern des Materialismus der einzige, der mit historischem Sinne begabt ist, und er ist es in eminentem Maße. Auch in seinem syntagma philosophicum behandelt er jeden Gegenstand zuerst historisch nach allen verschiedenen Auffassungsweisen.

Was das Weltgebäude betrifft, so erklärt er das Ptolemäische, das Kopernikanische und das Tychonische für die Hauptsysteme. Unter diesen verwirft er das Ptolemäische vollständig, das Kopernikanische[241] erklärt er für das einfachste und der Wirklichkeit durchaus am besten entsprechende: allein das System Tychos müsse man annehmen, weil die Bibel offenbar der Sonne Bewegung zuschreibe. Es eröffnet uns einen Blick in die Zeit, daß der sonst so vorsichtige Gassendi, der in allen andern Punkten seinen Materialismus im Frieden mit der Kirche durchführte, den Kopernikus nicht einmal verwerfen konnte, ohne sich durch seine lobenden Aussprüche den Vorwurf einer ketzerischen Ansicht vom Weltgebäude zuzuziehen. Einigermaßen begreiflich wird jedoch der Haß der Anhänger des alten Weltsystems, wenn man sieht, wie Gassendi es verstand, ohne offenen Angriff die Fundamente desselben zu untergraben. Ein Lieblingssatz der Gegner des Kopernikus war nämlich der, daß, wenn die Erde sich bewegte, unmöglich ein senkrecht in die Höhe geschleudertes Geschoß wieder auf das Geschütz zurückfallen könne. Gassendi veranlaßte nun, wie er selbst erzählte,155 das Experiment, daß auf einem mit größter Schnelligkeit bewegten Schiffe ein Stein senkrecht in die Höhe geworfen wurde. Derselbe fiel, der Bewegung des Schiffes folgend, auf den gleichen Teil des Verdeckes nieder, von welchem er in die Höhe geschleudert war. Man ließ den Stein vom Mastbaum niederfallen und er fiel hart am Fuße desselben zu Boden. Diese Experimente, die uns so natürlich vorkommen, waren damals, als man eben erst durch Galilei über die Gesetze der Bewegung ins klare zu kommen begann, von entscheidender Bedeutung und das Hauptargument der Gegner der Bewegung der Erde fiel damit rettungslos zu Boden.

Die Welt hält Gassendi für ein geordnetes Ganzes, und es fragt sich nur, in welcher Weise sie dies ist; namentlich ob sie beseelt ist oder nicht. Versteht man unter der Weltseele Gott, und soll nur behauptet werden, daß Gott durch sein Wesen und durch seine Gegenwart alles erhalte, regiere und so gewissermaßen beseele, so mag dies immerhin gelten. Auch stimmen alle überein, daß die Wärme durch die ganze Welt ausgegossen sei; diese Wärme könnte auch die Seele der Welt genannt werden. Jedoch der Welt im eigentlichen Sinne eine vegetierende, empfindende, oder denkende Seele zu erteilen widerspricht der wirklichen Erscheinung. Denn die Welt erzeugt weder eine andere Welt, wie die Tiere und Pflanzen es tun, noch wächst sie oder ernährt sich durch Speise und Trank; noch weniger hat sie Gesicht, Gehör und andere Funktionen des Beseelten.

Ort und Zeit betrachtet Gassendi als etwas unabhängig für sich Bestehendes, weder Substanz noch Akzidens; wo alle körperlichen[242] Dinge aufhören, dehnt sich doch schrankenlos der Raum noch aus, und die Zeit floß vor Erschaffung der Welt so gleichmäßig dahin wie jetzt. Unter dem materiellen Prinzip oder der ersten Materie ist diejenige Materie zu verstehen, welche sich nicht weiter auflösen läßt. So besteht der Mensch aus Kopf, Brust, Bauch usw.; diese sind geformt aus Chylus und Blut; diese wieder aus der Nahrung die Nahrung aus den sogenannten Elementen; aber auch diese wieder aus Atomen, welche also das materielle Prinzip oder die erste Materie sind. Daher hat die Materie an sich noch keine Form. Ohne materielle Masse aber gibt es auch keine Form, und sie ist das beharrliche Substrat, während die Formen wechseln und vergehen. Daher ist die Materie an sich unzerstörbar und unerzeugbar, und kein Körper kann aus nichts entstehen, womit jedoch die Erschaffung der Materie durch Gott nicht geleugnet werden soll. Die Atome sind sämtlich der Substanz nach identisch, der Figur nach verschieden.

Die weitere Ausführung über die Atome, den leeren Raum, Nichtteilbarkeit ins Unendliche, Bewegung der Atome usw. folgt ganz Epikur. Bemerkenswert ist nur, daß Gassendi die Schwere oder das Gewicht der Atome mit der natürlichen inneren Fähigkeit derselben sich zu bewegen identifiziert. Übrigens ist auch diese Bewegung von Anbeginn den Atomen durch Gott anerschaffen.

Gott, der die Erde und das Wasser, Pflanzen und Tiere hervorbringen ließ, schuf eine bestimmte Anzahl von Atomen so, daß sie die Samen aller Dinge bildeten. Hiernach fing erst die Reihe von Erzeugungen und Zerstörungen an, welche noch heute besteht und auch ferner bestehen wird.

»Die erste Ursache von allem ist Gott,« allein die ganze Abhandlung hat es im Verlauf nur mit den sekundären Ursachen zu tun welche zunächst jede einzelne Veränderung hervorbringen. Das Prinzip derselben muß aber notwendig körperlich sein. In den künstlichen Produkten ist freilich das bewegende Prinzip von dem Stoff verschieden; in der Natur aber wirkt das Agens innerlich und ist nur der tätigste und beweglichste Teil der Materie. Von den sichtbaren Körpern wird immer einer vom andern bewegt; das sich selbst bewegende Prinzip sind die Atome.

Das Fallen der Körper erklärt Gassendi aus der Attraktion der Erde: diese Attraktion kann aber keine actio in distans sein. Wenn nicht etwas von der Erde zu dem Stein hinkäme und ihn ergriffe, würde sich dieser gar nicht um die Erde bekümmern, gerade so, wie[243] auch der Magnet das Eisen wirklich, wenn auch unsichtbar, fassen muß, um es zu sich hinzuziehen. Daß man sich dies nicht ganz roh durch ausgeworfene Harpunen oder Häkchen zu denken habe, zeigt ein merkwürdiges Bild, dessen sich Gassendi zur Erklärung dieser Anziehung bedient: ein Knabe, der von einem Apfel angezogen wird, dessen Bild durch die Sinne zu ihm kam.156 Es verdient hier bemerkt zu werden, daß auch Newton, der auf diesem Punkte in Gassendis Fußstapfen ging, keineswegs sein Gesetz der Gravitation sich als eine unvermittelte Wirkung in die Ferne dachte.157

Das Entstehen und Vergehen der Dinge ist nichts als Verbindung und Trennung der Atome. Wenn ein Stück Holz verbrennt, so haben Flamme, Rauch, Asche usw. den Atomen nach schon vorher existiert, nur in einer anderen Verbindung. Alle Veränderung ist nur Bewegung der Teile eines Dinges, daher das Einfache sich nicht verändern, sondern nur im Raume fortbewegen kann.

Die schwache Seite des Atomismus, die Unmöglichkeit, aus den Atomen und dem leeren Raum die Sinnesqualitäten und die Empfindung zu erklären (vgl. oben S. 12 f. und S. 114 f.) scheint Gassendi wohl gefühlt zu haben, denn er behandelt dies Problem sehr ausführlich und sucht die von Lucrez vorgebrachten Erklärungen nicht nur in das beste Licht zu stellen, sondern auch noch durch neue Gründe zu verstärken. Gleichwohl gibt er zu, daß hier etwas Unbegreifliches bleibe, will jedoch beweisen, daß dies für alle anderen Systeme in gleicher Weise der Fall sei.158 Dies ist aber nicht ganz richtig, denn die Form der Verbindung, von welcher hier die Wirkung abhängt, ist bei den Aristotelikern etwas Wesenhaftes; für die Atomistik dagegen ist sie nichts.

Gassendi unterscheidet sich hier nun zwar von Lucrez durch die Annahme eines unsterblichen und unkörperlichen Geistes; allein dieser Geist steht, gleich dem Gott Gassendis, so ganz außer Zusammenhang mit dem System, daß man seiner füglich entraten kann. Es fällt auch Gassendi gar nicht ein, ihn wegen jenes Einheitsproblems anzunehmen; er nimmt ihn an, weil die Religion es fordert. Da nun sein System nur eine materielle, aus Atomen bestehende Seele kennt, so muß der Geist die Rolle der Unsterblichkeit und Unkörperlichkeit übernehmen. Die Art, wie dies durchgeführt wird, erinnert auffallend an den Averroismus. Geisteskrankheiten, z.B., sind Gehirnkrankheiten; sie berühren die unsterbliche Vernunft nicht; diese kann sich nur nicht äußern, weil ihr Instrument gestört ist. Daß aber in diesem Instrument auch das individuelle[244] Bewußtsein wohnt, das Ich, welches in der Tat durch die Krankheit gestört wird und ihr nicht von außen zuschaut – diesen Punkt hütet Gassendi sich wohl, näher zu erörtern. Übrigens mochte er, ganz abgesehen vom Zwang der Orthodoxie, auch wohl schon deswegen wenig Neigung haben, die Fäden dieses Problems weiter zu verfolgen, weil sie vom Boden der Erfahrung abführten.

Die Theorie der äußeren Natur, für welche die Atomistik so treffliche Dienste leistet, lag Gassendi überhaupt weit mehr am Herzen als die Psychologie, in welcher er sich zur Abrundung des Systems mit einem Minimum eigener Gedanken behalf, während Descartes auch auf diesem Gebiete, ganz abgesehen von seiner metaphysischen Ich lehre, eine selbständige Leistung versuchte.

An der Universität zu Paris, wo unter den alten Dozenten die aristotelische Philosophie noch herrschend war, griffen unter den jüngeren Kräften sowohl die Ansichten Descartes' als Gassendis immer mehr um sich, und es entstanden zwei neue Schulen, die der Cartesianer und die der Gassendisten, von denen die eine im Namen der Vernunft, die andere im Namen der Erfahrung der Scholastik den Garaus zu machen beflissen war. Dieser Kampf war um so merkwürdiger, als damals gerade die Philosophie des Aristoteles unter dem Einflusse einer reaktionären Zeitrichtung einen neuen Aufschwung genommen hatte. Der Theologe Launoy, übrigens ein grundgelehrter und vergleichsweise freisinniger Mann, ruft bei Erwähnung der Ansichten seines Zeitgenossen Gassendi voll Staunen aus: »Wenn das Ramus, Litaudus, Villonius und Clavius gelehrt hätten, was würde man mit jenen Menschen angefangen haben!«159

Gassendi fiel der Theologie nicht zum Opfer, weil es ihm beschieden war der Medizin zum Opfer zu fallen. Eine Fieberkur nach Weise der Zeit hatte ihm alle Kräfte geraubt. Vergeblich suchte er eine Zeitlang in seiner südlichen Heimat Erholung. Nach Paris zurückgekehrt, wurde er wieder vom Fieber ergriffen, und dreizehn neue Aderlässe machten seinem Leben ein Ende. Er starb den 24. Oktober 1655 im 63. Jahre seines Alters.

Die Reform der Physik und der Naturphilosophie, welche man gewöhnlich Descartes zuschreibt, ist mindestens ebenso sehr Gassendis Werk. Vielfach hat man, infolge der Berühmtheit, welche Descartes seiner Metaphysik verdankt, geradezu auf diesen zurückgeführt, was richtiger Gassendi zuzuschreiben wäre; es[245] brachte aber auch die eigentümliche Mischung von Gegensatz und Übereinstimmung, Bekämpfung und Bundesgenossenschaft zwischen beiden Systemen es mit sich, daß die von ihnen ausgehenden Ströme sich vollständig mischten. So war Hobbes, der Materialist und Freund Gassendis, Anhänger der Korpuskulartheorie Descartes', während Newton sich die Atome in der Weise Gassendis dachte. Erst spätere Entdeckungen führten darauf, beide Theorien miteinander zu vereinigen und Atome und Moleküle, nachdem beide Begriffe eine entsprechende Fortbildung erhalten hatten, nebeneinander bestehen zu lassen; so viel ist aber unzweifelhaft, daß unsere heutige Atomistik sich Schritt für Schritt aus den Anschauungen Gassendis und Descartes' entwickelt hat und also in ihren Wurzeln bis auf Leucipp und Demokrit zurückreicht.[246]

146

Gassendi ist allerdings, was in der 1. Aufl. der Gesch. d. Mat. nicht genug hervortritt, ein Vorläufer Descartes' und von Baco von Verulam unabhängig. Descartes, der sonst nicht eben zur Anerkennung anderer sehr geneigt war, betrachtet Gassendi als eine Autorität in naturwissenschaftlichen Dingen (vgl. folgende Stellen aus seinen Briefen: Oeuvres, ed. Cousin, VI, p. 72, 83, 97, 121) und wir dürfen mit höchster Wahrscheinlichkeit annehmen, daß er auch die »Exercitationes paradoxicae« (1624) kannte und selbst vom Inhalte der fünf verbrannten Bücher durch mündliche Überlieferung etwas mehr wußte, als uns heutzutage in dem bloßen Inhaltsverzeichnisse erhalten ist. Später freilich, als Descartes aus Furcht vor der Kirche eine Welt erfand, welche auf wesentlich anderen Grundlagen als den Gassendischen ruhte, änderte er auch seinen Ton in Beziehung auf Gassendi; zumal seit er durch seinen Versuch, zwischen Wissenschaft und Kirchenlehre einen Kompromiß zu finden, ein großer Mann geworden war. – Durch die strengere Auffassung des Verhältnisses zwischen Gassendi und Descartes wird aber das Recht des ersteren, als erster Vertreter einer sich in die Gegenwart hinein fortpflanzenden Weltanschauung zu gelten, nur um so klarer; denn Descartes tritt auch, je näher man ihn betrachtet, desto bestimmter in Beziehung zur Ausbildung und Fortpflanzung materialistischer Denkweise. Äußerte doch Voltaire in seinen »Elementen der Newtonschen Philosophie« (Oeuvres v. 1784 t. 31, c. 1), er habe viele Personen gekannt, die der Cartesianismus dahin gebracht habe, keinen Gott anzunehmen! – Unbegreiflich ist, wie Schaller in seiner Gesch. d. Naturphil., Leipzig 1841, Hobbes vor Gassendi setzen konnte. Allerdings ist jener den Jahren nach der ältere, allein er ist ebenso ungewöhnlich spät zur Entwicklung gekommen, wie Gassendi ungewöhnlich früh und während ihres Zusammenlebens in Paris war Hobbes entschieden der Lernende, ganz abgesehen von Gassendis längst erschienenen schriftstellerischen Arbeiten.

147

Naumann in seinem Grundr. d. Thermochemie, Braunschweig 1869, einem Werke von großem wissenschaftlichem Verdienste, bemerkt mit Unrecht S. 11: »So gut wie nichts hat aber die chemische Atomtheorie mit der schon von Lucrez und Demokrit aufgestellten atomistischen Lehre gemein.« Die historische Kontinuität, welche wir im Verfolg nachweisen werden, ist schon eine Gemeinschaft bei aller Verschiedenheit des Endproduktes von dem Anfang der Entwicklungsreihe. Beide Anschauungen haben aber außerdem auch noch das gemein, daß sie, was Fechner als die Hauptsache bei der Atomistik bezeichnet, diskrete Massenteilchen annehmen. Ist dies nun auch dem Chemiker vielleicht nicht in gleichem Maße Hauptsache, wie dem Physiker, so bleibt es doch ein wesentlicher Punkt; um so wesentlicher, je mehr man gerade, mit Naumann, beflissen ist, die chemischen Erscheinungen aus physikalischen Vorgängen zu erklären. Es ist auch nicht richtig (a. a. O. S. 10 und 11), daß vor Dalton niemand die Berechtigung und Anwendbarkeit der Atomistik an den Tatsachen nachgewiesen habe. Dies ist schon unmittelbar nach Gassendi von Boyle für die Chemie und von Newton für die Physik geschehen, und wenn es nicht im Sinne der heutigen Wissenschaft geschehen ist, so darf man nicht vergessen, daß auch Daltons Theorie heutzutage ein überwundener Standpunkt ist. – Mit Recht verlangt Naumann (mit Fechner, Atomlehre, 1855, S. 3), um die heutige Atomistik zu bestreiten, gelte es erst, sie zu kennen. Man kann aber auch sagen, um die Verwandtschaft der antiken Atomistik mit der modernen zu bestreiten, gelte es erst, außer den naturhistorischen auch die historischen Tatsachen zu kennen.

148

De vita et moribus Epicuri IV, 4: »Dico solum, si Epicurus quibusdam Religionis patriae interfuit caeremoniis, quas mente tamen improbaret, videri posse, illi quandam excusationis speciem obtendi. Intererat enim, quia jus civile et tranquillitas publica illud ex ipso exigebat: Improbabat, quia nihil cogit animum Sapientis, ut vulgaria sapiat. Intus, erat sui juris, extra, legibus obstrictus societatis hominum. Ita persolvebat eodem tempore quod et aliis debebat, et sibi.... Pars haec tum erat Sapientiae, ut philosophi sentirent cum paucis, loquerentur vero, agerentque cum multis.« Hier scheint namentlich der letzte Satz wohl besser auf die Zeit Gassendis zu passen als auf Epikur, der sich doch schon einer großen Lehr- und Redefreiheit erfreute und auch Gebrauch davon machte. Hobbes (Leviathan cap. 32) behauptet, daß der Gehorsam gegen die Staatsreligion auch die Pflicht in sich schließe, ihren Lehren nicht zu widersprechen. Dies befolgte er auch wörtlich, machte sich aber kein Gewissen daraus, für diejenigen, welche Schlüsse zu ziehen imstande sind, gleichzeitig der ganzen Religion den Boden zu entziehen. – Der Leviathan erschien 1651; die erste Auflage der Schrift de vita et moribus Epicuri 1647; doch ist hier auf die Priorität des Gedankens wohl kein Gewicht zu legen; er lag ganz in der Zeit, und in diesen allgemeinen Fragen (wo nicht Mathematik und Naturwissenschaft ins Spiel kamen) war Hobbes ohne Zweifel längst selbständig, als er Gassendi kennen lernte.

149

Man beachte den ungewöhnlich feierlichen Ton, in welchem Gassendi gegen Schluß des Vorwortes zu seiner Schrift de vita et moribus Epicuri die Kirchenlehre vorbehält: »In Religione Majores, hoc est Ecclesiam Catholicam, Apostolicam et Romanam sequor, cuius hactenus decreta defendi a porro defendam, nec me ab illa ullius unquam docti aut indocti separabit oratio.«

150

De vita et moribus Epicuri, Schluß der Vorrede (an Luiller): »Habes ipse jam penes te duplicem illius effigiem, alteram ex gemma expressam, quam dum Lovanio facerem iter, communicavit mecum vir ille eximius Erycius Puteanus, quamque etiam in suis epistolis cum hoc eulogio evulgavit: ›Intuere, mi amice, et in lineis istis spirantem adhuc mentem magni viri. Epicurus est, sic oculos, sic ora ferebat. Intuere imaginem dignam istis lineis istis manibus, et porro oculis omnium.‹ Alteram expressam ex statua, Romae ad ingressum interioris Palatii Ludovisianorum hortorum exstante, quam ad me misit Naudaeus noster (der Herausgeber der im vor. Abschnitt erwähnten Abhandlung des Hieronymus Rorarius!) usus opera Henrici Howenii in eadem familia Cardinalitia pictoris. Tu huc inserito utram voles, quando et non male altera, ut vides, refert alteram, et memini utramque congruere cum alia in amplissimo cimeliarcho Viri nobilis Casparis Monconisii Lierguii, propraetoris Lugdunensis, asservata.«

151

Excercitationes Paradoxicae adversus Aristoteleos, Hagae Comitum 1656, praef.: »uno verbo docet (1. VII.) Epicuri de voluptate sententiam: ostendendo videlicet, qua ratione summum bonum in voluptate constitutum sit et quemadmodum laus virtutum actionumque humanarum ex hoc principio dependeat.«

152

Das Beispiel »ich gehe spazieren, also bin ich« rührt nicht von Gassendi her, sondern von Descartes, der es, übrigens dem Sinne dieses Einwandes durchaus entsprechend, in seiner Entgegnung anwendet.

153

Buckle, hist. of civil. II, p. 281 ed. Brockhaus.

154

Die Priorität für diese Bemerkung scheint übrigens Kant zu gebühren, der in der Krit. d. r. Vern. Elementarl. II, 2, 2, 1, Hauptst. (Paralogismen d. r. Vern.) äußert: »Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können.« Gleichwohl behält Lichtenbergs Fassung, welche die Erschleichung des Subjektes auf einfachste Weise, ohne alle Anlehnung an ein System, evident macht, ihre großen Verdienste. – Beiläufig sei hier erwähnt, daß der Versuch, aus dem Zweifel selbst das Dasein der Seele zu erweisen, zuerst in auffallender Übereinstimmung mit dem »Cogito ergo sum« vom Kirchenvater Augustinus angestellt wurde, der im 10. Buch de trinitate folgendermaßen argumentiert: »Si quis dubitat, vivit; si dubitat, unde dubitet meminit; si dubitat, dubitare se intelligit.« Diese Stelle findet sich zitiert in der einst viel verbreiteten »Margarita philosophica« (1486, 1503 und öfter) im Anfange des 10. Buches, de anima. Descartes, der auf die Übereinstimmung derselben mit seinem Prinzip aufmerksam gemacht wurde, scheint sie nicht gekannt zu haben, er räumt ein, daß Augustinus in der Tat auf diesem Wege die Gewißheit unsrer Existenz habe beweisen wollen; er selbst aber habe diese Schlußweise benutzt, um zu zeigen, daß jenes Ich, welches denkt, »eine immaterielle Substanz sei.« Descartes hebt also ganz richtig gerade dasjenige als sein besonderes Eigentum hervor, was am offenbarsten erschlichen ist. Vgl. Oeuvres, tome 8, ed. Cousin, p. 421.

155

In der Abhandlung »de motu impresso a motore translato«, welche angeblich gegen den Willen des Verfassers zugleich mit einem Briefe Galileis über die Vereinbarkeit der H. Schrift mit der Lehre von der Bewegung der Erde in Lyon 1649 gedruckt wurde.

156

Dabei ist mir jedoch sehr zweifelhaft, ob die Darstellung in Ueberwegs Grundriß, III, S. 15 u. f. richtig ist, welche vermutlich zum Teil auf einem Mißverständnis der Darstellung in der 1. Aufl. der Gesch. d. Mat., zum Teil aber auch auf einem wirklichen Irrtum dieser Darstellung beruht. Ueberweg sagt von Gassendi: »Sein Atomismus ist ein lebensvollerer als der des Epikur. Die Atome besitzen nach Gassendi Kraft und selbst Empfindung: wie den Knaben das Bild des Apfels bewegt von seinem Wege abzubiegen und sich dem Baume zu nähern, so bewegt den geworfenen Stein die zu ihm hingelangende Einwirkung der Erde, von der geraden Linie abzubiegen und sich der Erde zu nähern.« Irrtümlich scheint hauptsächlich die Verlegung der Empfindung in die Atome, welche in der 1. Aufl. der Gesch. d. Mat. S. 125 angenommen war, während ich bei der Revision nicht imstande bin, dafür einen Beweis zu finden. Der Irrtum scheint dadurch entstanden, daß Gassendi allerdings bei der schwierigen Frage, wie das Empfindende aus dem Nichtempfindenden hervorgehe, in einem sehr bemerkenswerten Punkte über Lucrez hinausgeht. Ich bedaure freilich, hier nur Bernier, abrégé de la philos. de Gassendi VI, p. 48 u. f. zitieren zu können, da mir bei der Revision keine vollständige Ausgabe der Werke Gassendis zu Gebote steht und der Druck nicht länger verschoben werden kann. Es heißt a. a. O.: »Ein second lieu« (unter den Gründen, welche Lucrez nicht angeführt hat, aber nach Gassendi hätte anführen können) »que toute sorte de semence estant animée, et que non seulement les animaux qui naissent de l'accouplement mais ceux mesme qui s'engendrent de la pourriture estant formes de petites molécules seminales qui ont este assemblées, et formées ou des le commencement du Monde, ou depuis, on ne peut pas absolument dire que les choses sensibles se fassent de choses insensibles, mais plutost qu'elles se font de choses qui bien qu'elles ne sentent pas effectivement, sont néanmoins, ou contiennent en effet les principes du sentiment, demesme que les principes du feu sont contenus, et caches dans les veines des cailloux, ou dans quelque autre matière grasse.« Gassendi nimmt hier also wenigstens die Möglichkeit an, daß organische Keime, mit der Anlage zur Empfindung, von Anbeginn der Schöpfung an bestehen. Diese Keime sind aber trotz ihrer (mit der Kosmogonie Epikurs natürlich unvereinbaren) Ursprünglichkeit nicht Atome, sondern schon Atomverbindungen, wenn auch einfachster Art. – Ein Mißverständnis läge in der Deutung des Bildes vom Knaben, der einen Apfel sieht, auf eine rein geistige Wirkung. Damit soll zunächst nur ein komplizierterer Prozeß der Anziehung, die gleichwohl auf physischem Wege vor sich geht, angedeutet werden. Fraglich bleibt jedoch allerdings, ob Gassendi hier den Materialismus mit gleicher Konsequenz durchgeführt hat, wie Descartes in den »passiones animae«, wo alles auf Druck und Stoß der Körperchen zurückgeführt ist.

157

Voltaire berichtet in seinen Elem. der Phil. Newtons (Oeuvres compl., 1784, t. 31, p. 37): »Newton suivait les anciennes opinions de Démocrite, d'Epicure et d'une foule de philosophes rectifiées par notre célèbre Gassendi. Newton a dit plusieurs fois a quelques Français qui vivent encore, qu'il regardait Gassendi comme un esprit très-juste et très-sage, et qu'il ferait gloire d'être entièrement de son avis dans toutes les choses dont on vient de parler.«

158

Bernier, abrege de la phil. de Gassendi, Lyon 1684, VI. p. 32-34.

159

Joannis Launoii, de varia Aristotelis in academia Pariensi fortuna, cap. XVIII; S. 328 der von mir benutzten Ausgabe von 1720, Wittenberg.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 233-247.
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