III. Nachwirkungen des Materialismus in England

[262] Fast ein volles Jahrhundert liegt zwischen der Ausbildung materialistischer Systeme auf dem Boden der Neuzeit und zwischen jener rücksichtslosen Schriftstellerei eines De la Mettrie, der mit besonderem Wohlgefallen gerade jene Seiten des Materialismus hervorhob, welche der christlichen Welt ein Ärgernis geben mußten. Allerdings hatten auch Gassendi und Hobbes sich den ethischen Konsequenzen ihrer Systeme nicht völlig entzogen; allein beide hatten auf einem Umwege ihren Frieden mit der Kirche gemacht: Gassendi durch Oberflächlichkeit, Hobbes durch eine eigensinnige und unnatürliche Konsequenz. Liegt schon hierin ein durchgreifender Unterschied zwischen den Materialisten des siebzehnten und denen des achtzehnten Jahrhunderts, so ist doch die Kluft, ganz abgesehen vom spezifisch Kirchlichen, in der Ethik weitaus am größten. Während De la Mettrie, ganz in der Weise der philosophischen Dilettanten des alten Rom, die Lust als das Prinzip des Lebens mit frivolem Behagen hervorhob und durch seine niedrige Auffassung das Andenken Epikurs noch nach Jahrtausenden befleckte, hatte Gassendi durchaus die ernstere und tiefere Seite der Ethik Epikurs hervorgehoben; Hobbes billigte, wenn auch nach sonderbaren Winkelzügen, doch schließlich die gewöhnliche christlich-bürgerliche Tugendlehre, die ihm zwar als Beschränktheit galt, aber als berechtigte Beschränktheit. Beide Männer lebten selbst einfach und rechtschaffen nach den gewöhnlichen Begriffen ihrer Zeit.

Trotz dieses großen Unterschiedes gehört der Materialismus des siebzehnten Jahrhunderts mit den verwandten Bestrebungen bis auf das système de la nature hin in eine gemeinsame Kette, während die Gegenwart, obwohl auch zwischen De la Mettrie und Vogt oder Moleschott wieder gerade ein Jahrhundert liegt, durchaus einer gesonderten Betrachtung bedarf. Kants Philosophie und noch mehr die großen naturwissenschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte fordern diese gesonderte Betrachtung ebenso entschieden vom Standpunkte der theoretischen Wissenschaft, als anderseits ein Blick in die materiellen Lebensverhältnisse und in die[262] kulturgeschichtlichen Zustände uns dazu veranlassen muß, die ganze Periode bis zur französischen Revolution hin in ihrer innern Einheit aufzufassen.

Wenden wir zunächst unsern Blick auf den Staat und die bürgerliche Gesellschaft, so zeigt sich eine Analogie zwischen jenen beiden vergangenen Perioden, welche dieselben streng von der gegenwärtigen scheidet. Hobbes und Gassendi lebten an den Höfen oder in den aristokratischen Kreisen Englands und Frankreichs. De la Mettrie wurde beschützt von Friedrich dem Großen. Der Materialismus beider vergangener Jahrhunderte fand eine Stütze in der weltlichen Aristokratie, und seine verschiedene Stellung zur Kirche ist zum Teil bedingt durch die verschiedene Stellung, welche die weltliche Aristokratie und die Höfe der Kirche gegenüber einnahmen. Der Materialismus unsrer Zeit hat dagegen eine durchaus volkstümliche Tendenz; er stützt sich auf nichts, als auf sein gutes Recht der Aussprechung einer Überzeugung und auf die Empfänglichkeit eines großen Publikums, dem die Resultate der Wissenschaft, vielfach vermengt mit materialistischen Lehren, in möglichst handgreiflicher Form zugänglich gemacht werden. Um daher den immerhin bedeutungsvollen Übergang von dem Materialismus des siebzehnten auf den des achtzehnten Jahrhunderts zu verstehen, müssen wir die Verhältnisse der höheren Schichten der Gesellschaft und die Veränderungen, welche in denselben um diese Zeit vorgingen, ins Auge fassen.

Am auffallendsten war die eigentümliche Wendung aller Bestrebungen, welche in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts eintrat, in England. Nach der Wiedereinsetzung des Königtums erfolgte dort gegen die exzentrische und heuchlerische Strenge des Puritanismus, welcher die Zeit der Revolution beherrscht hatte, ein gewaltiger Rückschlag.

Begünstigung des Katholizismus ging am Hofe Karls II. Hand in Hand mit weltlicher Ausgelassenheit. Die Staatsmänner jener Zeit waren nach Macaulay179 vielleicht der verdorbenste Teil einer verdorbenen Gesellschaft, und ihre Frivolität und Genußsucht wurde nur noch übertroffen von der Gewissenlosigkeit, mit welcher sie ohne alle politischen Grundsätze die Politik als ein Spiel ihres Ehrgeizes betrieben.

Der Charakter der Frivolität in Religion und Sitten war der Charakter der Höfe. Zwar ging Frankreich mit dem tonangebenden Beispiele voran, allein Frankreich erlebte um diese Zeit die Blüte[263] seiner sogenannten klassischen Literatur, und der Glanz des auswärtigen Einflusses auf literarischem wie auf politischem Gebiet vereinigte sich in dem Zeitalter Ludwigs XIV., um den Bestrebungen der Nation wie des Hofes einen gewissen Schwung und eine Würde zu geben, die von der materialistischen Richtung auf das Nützliche weit abführten. Unterdessen bereitete aber die wachsende Zentralisation im Bunde mit Unterdrückung und Ausbeutung des Volkes jene große Gärung in den Gemütern vor, aus welcher die Revolution hervorgehen sollte. In Frankreich wie in England fand der Materialismus Boden; allein in Frankreich entnahm man ihm nur seine negativen Elemente, während man in England begann, seine Grundsätze in immer großartigerem Maßstabe auf die Ökonomie des ganzen Volkslebens anzuwenden. Der Materialismus Frankreichs läßt sich daher mit dem der römischen Kaiserzeit vergleichen; man nahm ihn an, um ihn zu verderben und sich von ihm verderben zu lassen. Ganz anders in England. Auch hier herrschte unter den Großen der Ton der Frivolität. Man konnte gläubig oder ungläubig sein, weil man für keine Richtung Prinzipien hatte, und man war im Grunde beides, je nachdem es den Leidenschaften besseren Vorschub leistete. Allein Karl II. hatte von Hobbes außer der Doktrin von seiner eignen Omnipotenz doch auch noch etwas Besseres gelernt. Er war ein eifriger Physiker und besaß selbst ein Laboratorium. Seinem Beispiele folgte die gesamte Aristokratie. Selbst ein Buckingham ließ sich auf Chemie ein, die damals freilich von dem mystischen Reiz der Alchimie, des Suchens nach dem Stein der Weisen noch nicht befreit war. Lords, Prälaten und Juristen widmeten ihre Mußestunden Untersuchungen über Hydrostatik. Man verfertigte Barometer und optische Instrumente für den mannigfachsten Gebrauch; elegante Damen der Aristokratie fuhren bei den Laboratorien vor und ließen sich die Kunststücke magnetischer und elektrischer Anziehung zeigen. Planlose Neugier und eitler Dilettantismus der Großen vereinigten sich mit dem ernsten und gediegenen Studium der Fachmänner, und England geriet auf eine Bahn des Fortschrittes in den Naturwissenschaften, die als Erfüllung der Prophezeiung Bacos erscheint.180 Hier war ein echt materialistischer Geist nach allen Seiten rege, der, weit entfernt davon, zerstörend aufzutreten, vielmehr um dieselbe Zeit dies Land einer nie gesehenen Blüte entgegenführte, zu welcher in Frankreich die Splitter des erneuerten Epikureismus sich mit wachsender Bigotterie vereinigten, jenes[264] haltlose Schwanken zwischen den Extremen herbeizuführen, welches die Zeit vor dem Auftreten Voltaires charakterisiert. Hier mußte daher der Geist der Frivolität mehr und mehr zunehmen; während er in England eine Durchgangserscheinung bildete, die beim ersten Übergang von den spiritualistischen Grundsätzen der Revolution zu den materialistischen der großen merkantilen Epoche hervortrat.

»Der Krieg zwischen Witz und Puritanismus,« schreibt Macaulay von jener Zeit, »wurde bald ein Krieg zwischen Witz und Sittlichkeit. Was nur immer die heuchlerischen Puritaner mit Ehrfurcht betrachtet hatten, wurde verhöhnt; was sie verpönt hatten, wurde begünstigt. Wie jene den Mund nicht ohne eine Bibelstelle vorzubringen geöffnet hatten, so tat man es jetzt nicht ohne die derbsten Flüche. In der Poesie trat Drydens üppiger Stil an die Stelle Shakespeares, nachdem in der Zwischenzeit eine puritanische Feindschaft gegen die weltliche Poesie überhaupt alle Talente unterdrückt hatte.«181

Um jene Zeit begann man die weiblichen Rollen auf dem Theater, die früher von Jünglingen gespielt wurden, den Schauspielerinnen zu überlassen; die Anforderungen an die Lizenz derselben stiegen immer höher, und das Theater wurde ein Mittelpunkt der Immoralität. Allein die steigende Vergnügungssucht ging mit dem steigenden Erwerbsbetrieb Hand in Hand, und bald erlangte dieser das Übergewicht. Im Wetteifer der Jagd nach Reichtum ging die Gemütlichkeit der früheren Periode mit einem Teil ihrer Laster unter, und an die Stelle des Materialismus der Lust trat der Materialismus der politischen Ökonomie.182 Handel und Industrie erhoben sich auf eine Höhe, die frühere Zeiten nicht hatten ahnen können. Die Verkehrsmittel wurden verbessert, längst verlassene Schächte wieder geöffnet, alles mit jener Energie, welche den Epochen materieller Schöpfungen eigen ist, und die stets, wo sie mächtig angeregt ist, auf Energie und Unternehmungsgeist in andern Beziehungen günstig zurückwirkt. Damals begannen die ungeheuren Städte Englands teils aus dem Boden hervorzuwachsen, teils sich in jenem riesigen Maßstabe zu vergrößern, der binnen weniger als zwei Jahrhunderten England zum reichsten Land der Erde machte.183

In England schoß die materialistische Philosophie ins Kraut; es ist keine Frage, daß der ungeheure Aufschwung des Landes mit den Taten der Philosophen und Naturforscher von Baco und Hobbes bis auf Newton ebenso innig zusammenhängt, als die französische[265] Revolution mit dem Auftreten Voltaires. Ebenso leicht läßt sich aber übersehen, daß die Philosophie, die ins Leben aufgegangen war, sich selbst eben damit aufgegeben hatte. Die Vollendung des Materialismus in Hobbes ließ im Grunde keine weitere Vervollständigung der Lehre zu.

Die spekulative Philosophie dankte ab und ließ den praktischen Bestrebungen das Feld. Epikur wollte dem einzelnen nützen, und zwar durch seine Philosophie selbst; Hobbes suchte die ganze Gesellschaft zu fördern, aber nicht durch seine Philosophie selbst, sondern durch die aus ihr abgeleiteten Resultate. Bei Epikur ist die Beseitigung der Religion der wesentliche Zweck; Hobbes braucht die Religion, und im Grunde müssen ihm diejenigen Bürger besser scheinen, welche dem öffentlichen Aberglauben von Natur huldigen, als diejenigen, welche dazu eine philosophische Vermittlung brauchen. Der Zweck des Glaubens wird für die Masse besser und billiger erreicht, wenn der Glaube sich einfach von Generation zu Generation fortpflanzt, als wenn die einzelnen Individuen erst durch Respekt vor der Autorität und Einsicht in die Notwendigkeit derselben zur Regelung ihrer religiösen Vorstellungen gelangen sollen.

Weiterhin ist aber auch die Philosophie für die gesamte Ökonomie des bürgerlichen Lebens überflüssig, sobald die Bürger das, was das Resultat derselben ist, auch ohne die Philosophie ausüben, d.h. sobald sie sich der Staatsgewalt in der Regel fügen, nur dann revoltieren, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben, und in gewöhnlichen Zeiten ihre ganze Kraft und Tätigkeit auf materielle Verbesserung ihrer Lage, auf Erzeugung neuer Güter und Vervollkommnung bestehender Einrichtungen verwenden. Da die Philosophie nur dazu dient, dieses Verhalten als das beste und vorteilhafteste zu befördern, so wird es offenbar lediglich ersparte Arbeitskraft sein wenn es gelingt, die Völker zu solchem Verhalten zu bewegen ohne jedem Einzelnen die Lehre der Philosophie mitzuteilen. Nur für die Könige und ihre Ratgeber oder für die Spitzen der Aristokratie wird die Philosophie von Wert sein, da diese dafür sorgen müssen, das Ganze in seiner Richtung zu erhalten.

Diese zwingenden Folgerungen aus der Lehre unsres Hobbes sehen in der Tat aus, als ob sie aus der neueren Kulturgeschichte Englands einfach abstrahiert wären, so genau hat sich im ganzen die Nation nach dem von Hobbes vorgezeichneten Bilde entfaltet Die höhere Aristokratie hat sich persönliche Freigeisterei, verbunden[266] mit aufrichtiger (sollen wir sagen aufrichtig gewordener?) Hochachtung gegen die kirchlichen Institutionen vorbehalten. Geschäftsleute betrachten jeden Zweifel an den Wahrheiten der Religion als »unpraktisch«; für das Für und Wider ihrer theoretischen Begründung scheinen sie gar keinen Sinn zu haben, und wenn sie den »Germanism« perhorreszieren, so geschieht das weit mehr mit Bezug auf die feste Ordnung des diesseitigen, als mit Rücksicht auf die Erwartung des jenseitigen Lebens. Frauen, Kinder und Gemütsmenschen sind der Religion unbedingt hingegeben. In den untersten Schichten der Gesellschaft aber, für deren Niederhaltung das verfeinerte Gemütsleben nicht eben erforderlich scheint, besteht wieder von der ganzen Religion fast nur die Furcht vor Gott und den Geistlichen. Die spekulative Philosophie gilt als überflüssig, wo nicht gar schädlich. Der Begriff der Naturphilosophie ist in den der Physik (natural philosophy) übergegangen, und ein gemäßigter Egoismus, der sich mit dem Christentum trefflich abgefunden hat, ist in allen Schichten der Gesellschaft als einzige Grundlage der Moral für den Einzelnen wie für den Staat vollständig anerkannt.

Wir sind weit entfernt, diese ganze originelle, aber in ihrer Art mustergültige Entwicklungsweise des neueren England auf den Einfluß eines Hobbes zurückzuführen; vielmehr ist es der lebendige Grundzug der Natur dieses Volkes in dieser Entwicklungsstufe, es ist der Inbegriff aller geschichtlichen und materiellen Verhältnisse, woraus beides, die Philosophie des Hobbes und die nachfolgende Wendung des Volkscharakters herzuleiten ist. Jedenfalls dürfen wir aber Hobbes in einem höheren Lichte erblicken, wenn wir so in seiner Lehre die späteren Phänomene des englischen Volkslebens gleichsam prophetisch vorgebildet sehen.184 Die Wirklichkeit ist leicht paradoxer als irgendein philosophisches System, und das tatsächliche Verfahren der Menschen birgt mehr Widersprüche in sich, als ein Denker selbst mit Kunst zusammenhäufen könnte. Dafür bietet uns das orthodox-materialistische England ein schlagendes Beispiel.

Auch auf dem Gebiete der Naturwissenschaften entstand in dieser Zeit jene eigentümliche, die Gelehrten des Kontinents noch heute oft in Staunen setzende Verbindung einer durchaus materialistischen Anschauungsweise mit einem großen Respekt vor den Lehrsätzen und Gewohnheiten der religiösen Überlieferung. – Zwei Männer sind es hauptsächlich, welche diesen Geist in der nächsten[267] Generation nach Hobbes repräsentierten: der Chemiker Robert Boyle und Isaak Newton.

Die Nachwelt sieht diese beiden Männer durch eine große Kluft getrennt. Boyle wird nur noch in der Geschichte der Chemie genannt und ist in seiner Bedeutung für das allgemeine Kulturleben der Neuzeit fast vergessen, während der Name Newtons als ein Stern erster Größe leuchtet.185 Die Zeitgenossen sahen die Sache nicht ganz in diesem Lichte und noch weniger wird eine genauere Geschichtsforschung bei diesem Urteile beharren dürfen. Sie wird Newton minder überschwenglich zu preisen haben, als üblich ist, während sie Boyle einen hervorragenden Ehrenplatz in der Geschichte der Wissenschaften schuldig ist; trotzdem bleibt Newton der größere, und wenn auch seine Zurückführung der Bewegung der Himmelskörper auf Gravitation als eine reife Frucht der Zeit erscheint, so war es doch nicht zufällig, daß diese gerade von einem Manne gepflückt wurde, der in so seltenem Grade mathematisches Talent, physikalische Denkweise und ausdauernde Arbeitskraft vereinigte. In der Neigung zu klarer physikalisch-mechanischer Auffassung aller Naturvorgänge stimmten Boyle und Newton vollkommen überein; und Boyle war der ältere von beiden und darf in Beziehung auf die Einführung materialistischer Grundlagen in die Naturwissenschaften als einer der mächtigsten Bahnbrecher betrachtet werden. Die Chemie beginnt mit ihm ein neues Zeitalter;186 der Bruch mit der Alchimie und mit den aristotelischen Begriffen wurde durch Boyle vollendet. Während so diese beiden großen Naturforscher die Philosophie eines Gassendi und Hobbes in den positiven Wissenschaften heimisch machten und ihr durch ihre Entdeckungen den definitiven Sieg verschafften, blieben sie doch beide aufrichtig und nicht mit Hobbistischen Hintergedanken gottesgläubig. Dies war, da sie ganz in der Erscheinungswelt befangen bleiben, nicht ohne große Schwächen und Inkonsequenzen durchführbar; allein wenn sie deswegen als Philosophen tiefer stehen, so ist doch ihr Einfluß auf die Entfaltung der naturwissenschaftlichen Methode dadurch nur um so heilsamer geworden. Wie in so manchen andern Punkten, so können Boyle und Newton auch darin als tonangebend betrachtet werden, daß sie eine strenge Sonderung einführen zwischen dem fruchtbaren Felde der experimentellen Forschung und allen transzendenten, oder wenigstens für den gegenwärtigen Zustand der Wissenschaften unzugänglichen Problemen. Beide verraten daher das lebhafteste Interesse für[268] methodologische, aber nur ein geringes für spekulative Fragen. Sie sind entschieden Empiriker und namentlich auch von Newton muß dies festgehalten werden, wenn man etwa geneigt sein möchte' wegen der großen Allgemeinheit seines Gravitationsprinzips und wegen seiner mathematischen Begabung die deduktive Seite seiner Geistestätigkeit einseitig voranzustellen.

Robert Boyle (geb. 1626) war ein Sohn des Grafen Richard von Cork und benutzte sein beträchtliches Vermögen, um ganz der Wissenschaft leben zu können. Von Natur schwermütig und zur Melancholie geneigt, nahm er die Zweifel am christlichen Glauben, welche vermutlich durch das Studium der Naturwissenschaften in ihm erregt wurden, sehr ernst, und wie er sie bei sich selbst durch Bibellesen und Nachdenken zu bekämpfen suchte, so empfand er auch das Bedürfnis, im Sinne einer Versöhnung von Glauben und Wissen auf andere zu wirken. Er stiftete zu diesem Zweck öffentliche Lehrvorträge, denen unter anderem die Abhandlungen ihre Entstehung verdanken, mittels welcher Clarke die Welt vom Dasein Gottes zu überzeugen suchte. Clarke, der aus der Weltanschauung Newtons eine natürliche Religion zurecht gemacht hatte, zog gegen jede Ansicht, welche zu diesem System nicht passen wollte, zu Felde und schrieb daher nicht nur gegen Spinoza und Leibniz, sondern auch gegen Hobbes und Locke, die Urheber des englischen Materialismus und Sensualismus. Und doch konnte die ganze, so eigentümlich mit den religiösen Elementen verflochtene Weltanschauung der großen Naturforscher Boyle und Newton, in deren Fußtapfen er trat, nicht ohne den gleichen Materialismus zustande kommen, aus welchem dort nur andere Konsequenzen gezogen wurden.

Wenn man die religiöse, zur Grübelei geneigte Charakteranlage Boyles bedenkt, muß man um so mehr bewundern, mit welcher Geradheit des Urteils dieser Mann die Netze der Alchimie zu durchbrechen wußte. Auch läßt sich nicht leugnen, daß seine naturwissenschaftlichen Anschauungen noch hie und da, in der Chemie und namentlich in der Medizin, Spuren der Mystik an sich tragen, welche damals das Gebiet dieser Wissenschaften noch allgemein beherrschte; gleichwohl ist er gerade der einflußreichste Gegner dieser Mystik geworden. Sein »Chemista scepticus« (1661), der schon im Titel der Überlieferung den Krieg angekündigt, wird mit Recht als ein Wendepunkt in der Geschichte der Chemie betrachtet. In der Physik hat er die wichtigsten Entdeckungen gemacht,[269] welche zum Teil später andern zugeschrieben wurden; doch läßt sich nicht leugnen, daß seinen Theorien vielfach die nötige Klarheit und Vollendung mangelt, so daß er ungleich mehr anregt und vorbereitet, als endgültig erledigt.187

Was ihn bei allen Mängeln seiner Naturanlage so sicher leitete, war vor allen Dingen sein aufrichtiger Haß gegen das Phrasenwerk und Scheinwissen der Scholastik und sein ausschließliches Vertrauen auf das, was er als Ergebnis seiner Experimente188 vor sich sah und andern zeigen konnte. Er war unter den ersten Mitgliedern der von Karl II. gestifteten »Royal society«, und schwerlich hat irgendein andres Mitglied eifriger im Geiste ihrer Stiftung gearbeitet. Über seine Experimente führte er ein förmliches Tagebuch189 und unterließ niemals, wenn er etwas Wichtigeres gefunden hatte, es den Fachgenossen und andern urteilsfähigen Personen zu eignem Augenschein vorzulegen. Durch dies Verfahren allein schon verdient er eine Stelle in der Geschichte der neueren Naturwissenschaften, welche ihre jetzige Höhe nicht hätte erreichen können, ohne zum Experiment auch die stetige Kontrolle des Experimentes hinzuzufügen.

Diese Richtung auf das Experiment wird nun aber sehr wesentlich unterstützt durch die materialistische Anschauung vom Wesen der Naturkörper. In dieser Beziehung ist besonders seine Abhandlung vom Ursprung der Formen und Qualitäten190 von Interesse. Hier nennt er eine Reihe von Gegnern des Aristoteles, deren Werke alle ihm genützt hätten, aber mehr als aus allen andern habe er doch aus Gassendis kleinem, aber äußerst reichhaltigem Kompendium der Philosophie Epikurs gewonnen; Boyle bedauert, sich die Anschauungen desselben nicht früher angeeignet zu haben.191 Dasselbe Lob der Philosophie Epikurs finden wir auch in andern Abhandlungen Boyles, freilich verbunden mit den lebhaftesten Protesten gegen die atheistischen Konsequenzen derselben. Wir haben gesehen, daß man bei Gassendi an der Aufrichtigkeit dieses Protestes zweifeln kann; bei Boyle ist keine Rede davon. Dieser vergleicht das Weltall mit der künstlichen Uhr im Münster zu Straßburg,192 es ist ihm ein großer, nach festen Gesetzen sich bewegender Mechanismus, aber gerade deshalb muß es wie die Uhr zu Straßburg, einen intelligenten Urheber haben. Boyle verwirft unter allen Elementen des Epikureismus am meisten die empedokleische Lehre vom Entstehen des Zweckmäßigen aus dem nicht Zweckmäßigen. Seine Weltanschauung begründet, genau wie diejenige Newtons, die Teleologie [270] auf den Mechanismus selbst. Ob hier der Verkehr mit dem jüngeren Zeitgenossen Newton, der auch auf Gassendi große Stücke hielt, auf Boyle eingewirkt, oder ob umgekehrt Newton mehr von Boyle entlehnt hat, wissen wir nicht mit Bestimmtheit zu sagen; genug, daß beide Männer darin übereinstimmten, daß sie den ersten Ursprung der Atombewegung Gott zuschrieben, und daß sie auch späterhin noch Gott modifizierende Eingriffe in den Gang der Natur beilegten, daß sie aber die gewöhnliche Regel alles dessen, was in der Natur geschieht, in den mechanischen Gesetzen der Atombewegung suchten.

Die absolute Unteilbarkeit, von welcher die Atome Demokrits ihren Namen haben, wird von den Neueren durchweg am ehesten preisgegeben. Hier ist entweder die Rücksicht maßgebend, daß doch Gott, der die Atome erschaffen, sie auch müsse teilen können, oder es ist jener Relativismus im Spiel, der am bewußtesten bei Hobbes hervortritt: man läßt auch in den Elementen der Körperwelt kein absolut Kleinstes mehr zu. Boyle kümmert sich um diesen Punkt wenig. Er bezeichnet seine Ansicht als »philosophia corpuscularis«, ist aber weit entfernt davon, sich den großen Modifikationen, welche Descartes mit der Atomistik vorgenommen hatte, anzuschließen. Er schreibt der Materie Undurchdringlichkeit zu und Glaubt an den leeren Raum, welchen Descartes bestritt. Wegen dieser Frage geriet er auch mit Hobbes, der im luftleeren Raum nur eine feinere Luftart suchte, in eine ziemlich bittre Polemik.193 Jedem kleinsten Bruchteile der Materie schreibt Boyle seine bestimmte Gestalt, Größe und Bewegung zu; wo mehrere derselben zusammentreten, kommt außerdem ihre Lage im Raum und die Ordnung, in welcher sie verbunden sind, in Betracht. Aus den Verschiedenheiten dieser Elemente werden dann, ganz wie bei Demokrit und Epikur, die verschiedenen Eindrücke der Körper auf die Sinnesorgane des Menschen abgeleitet.194 Ein weiteres Eintreten auf psychologische Fragen lehnt jedoch Boyle überall ab, er befasse sich nur mit der Welt, wie sie am Abend des vorletzten Schöpfungstages gewesen sei, d.h. soweit wir sie schlechthin als ein System körperlicher Dinge betrachten dürfen.195 Das Entstehen und Vergehen der Dinge ist für Boyle, wie für die Atomistiker des Altertums, nichts als Verbindung und Trennung der Teile, und im gleichen Lichte betrachtet er – Wunder allezeit vorbehalten196 – auch die Prozesse des organischen Lebens.197 Den von Descartes allgemein hingestellten Satz, daß im Tode die Maschine des Körpers[271] nicht etwa bloß von der treibenden Kraft der Seele verlassen, sondern in ihren inneren Teilen zerstört sei, führt Boyle mit physiologischen Belegen aus und zeigt, daß zahlreiche Erscheinungen, welche man der Tätigkeit der Seele zugeschrieben habe, rein körperlicher Natur seien.198 Mit gleicher Klarheit bekämpft er als einer der ersten Stimmführer der iatromechanischen Richtung die übliche Lehre von den Arzneimitteln und Giften, denen man die Wirkung, welche sie auf den menschlichen Körper ausüben, z.B. Schweiß zu treiben, zu betäuben usw., als eine besondere Kraft und Eigenschaft beilegt, während die Wirkung doch nur das Ergebnis des Zusammentreffens der allgemeinen Eigenschaften jener Stoffe mit der Beschaffenheit des Organismus ist. Sogar dem zerstoßenen Glase habe man noch eine besondre »facultas deleteria« beigelegt, statt sich einfach an die Tatsache zu halten, daß die kleinen Glassplitter die Eingeweide verletzen.199 In einer Reihe kleinerer Abhandlungen sucht Boyle, dessen Eifer in diesen methodischen Fragen fast ebenso groß war, wie sein Fleiß in der positiven Forschung, die mechanische Natur der Wärme, des Magnetismus und der Elektrizität, der Veränderung der Aggregatzustände usw. nachzuweisen. Hier muß er denn freilich sehr häufig nach der Weise Epikurs, wenn auch mit sehr geläuterten Anschauungen, bei der Erörterung bloßer Möglichkeiten stehen bleiben, allein diese Erörterungen genügen überall für seinen nächsten Zweck: die Verbannung der verborgenen Qualitäten und substantiellen Formen und die Durchführung des Gedankens einer anschaulichen Kausalität im ganzen Gebiete der Naturvorgänge.

Weniger vielseitig, aber intensiver war die Wirkung Newtons für die Herstellung einer mechanischen Auffassung des Weltganzen. Nüchterner in seiner Theologie als Boyle, und den Orthodoxen sogar als »Sozinianer« verdächtig, geriet Newton erst in hohem Alter und bei abnehmender Geisteskraft in jene Neigung zu mystischen Spekulationen über die Offenbarung Johannis,200 welche mit seinen großen wissenschaftlichen Taten einen so seltsamen Kontrast bildet. Sein Leben war bis zur Vollendung aller großen Resultate seiner Forschung ein stilles Gelehrtenleben mit voller Muße zur Entfaltung seines staunenswerten mathematischen Talentes und zur ruhigen Vollendung großartiger und weitaussehender Arbeiten; dann plötzlich mit einer glänzenden äußeren Stellung für seine Leistungen belohnt,201 lebte er noch eine lange Reihe von Jahren, ohne den Ergebnissen seiner wissenschaftlichen Arbeiten[272] noch Wesentliches hinzuzufügen. Als Knabe soll er sich nur durch mechanische Fertigkeiten ausgezeichnet haben. Still und schwächlich tat er sich weder in der Schule hervor, noch entwickelte er irgendwelche Fähigkeiten für das Geschäft seiner Eltern: als er aber in seinem 18. Lebensjahr (1660) in das Trinity College zu Cambridge gebracht wurde, setzte er bald seinen Lehrer in Erstaunen durch die Leichtigkeit und Selbständigkeit, mit welcher er sich die Lehrsätze der Geometrie aneignete. Er gehört also in die Reihe jener für Mathematik gleichsam besonders organisierten Köpfe, an denen das siebzehnte Jahrhundert – wie wenn eine allgemeine Entwicklung der europäischen Menschheit dahin gedrängt hätte – einen so überraschenden Reichtum entfaltete. Auch zeigt eine genauere Betrachtung seiner Leistungen, daß fast überall die geniale und zugleich ausdauernde mathematische Arbeit der durchschlagende Punkt war. Schon im Jahre 1664 erfand Newton seine Fluxionsrechnung, die er erst zwanzig Jahre später, als ihm Leibniz den Ruhm der Erfindung zu entreißen drohte, veröffentlichte. Fast ebenso lang trug er die Idee der Gravitation mit sich herum, allein während die Fluxionen sofort sich in der Anwendung bei seinen Rechnungen glänzend bewährten, bedurfte es für den Beweis der Einheit zwischen Fallbewegung und Attraktion der Himmelskörper erst noch einer mathematischen Leistung, für welche einstweilen die Prämissen fehlten. Die Ruhe aber, mit welcher Newton beide große Entdeckungen so lange Zeit für sich behielt, die eine, um sie im stillen zu benutzen, die andre, um sie reifen zu lassen, verdient unsre Bewunderung und erinnert in auffallender Weise an die gleiche Geduld und Ausdauer seines großen Vorläufers Kopernikus. Aber auch darin kann man einen großen Charakterzug Newtons erblicken, daß er die Entdeckung des Zusammenhangs zwischen dem Fallgesetz und den elliptischen Bahnen der Weltkörper, als er der Sache sicher war und die Rechnung vollendet vor sich hatte, doch nicht isoliert veröffentlichte, sondern sie in das große Werk seiner »Principia« (1687) verwob, welches alle mit der Gravitation in Verbindung stehenden mathematischen und physikalischen Fragen in solcher Allgemeinheit behandelte, daß Newton ihm mit Recht den stolzen Titel der »mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie« geben konnte.

Noch wichtiger wurde ein andrer Zug des gleichen Geistes. Wir haben bereits angedeutet, daß Newton weit davon entfernt war, in der Attraktion jene »Grundkraft aller Materie« zu erblicken, als[273] deren Entdecker man ihn jetzt zu preisen pflegt. Wohl aber hat er die Annahme einer solchen universalen Anziehungskraft dadurch befördert, daß er seine unreifen und unklaren Vermutungen über die materielle Ursache der Attraktion vollkommen beiseite ließ und sich rein an das hielt, was er beweisen konnte: die mathematischen Ursachen der Erscheinungen unter Voraussetzung irgendeines Prinzips der Annäherung, welches umgekehrt mit dem Quadrate der Entfernung wirkt, seine Natur sei in physikalischer Hinsicht, welche sie wolle.

Wir stoßen hier auf einen der wichtigsten Wendepunkte in der ganzen Geschichte des Materialismus. Um ihn in das richtige Licht zu setzen, müssen wir einige Bemerkungen über die wahre Leistung Newtons einflechten.

Wir haben uns heute so sehr an die abstrakte, oder vielmehr in einem mystischen Dunkel zwischen Abstraktion und konkreter Fassung schwebende Vorstellung von Kräften gewöhnt, daß wir gar nichts Anstößiges mehr darin finden, ein Teilchen der Materie ohne unmittelbare Berührung auf ein andres wirken zu lassen. Man kann sich sogar einbilden, mit dem Satze: »keine Kraft ohne Stoff« etwas sehr Materialistisches ausgesprochen zu haben, während man doch Stoffteilchen ganz ruhig durch den leeren Raum hin ohne irgendein materielles Band aufeinander wirken läßt. Von einer solchen Vorstellungsweise waren die großen Mathematiker und Physiker des siebzehnten Jahrhunderts weit entfernt. Sie waren alle darin noch echte Materialisten im Sinne des antiken Materialismus, daß sie nur bei unmittelbarer Berührung der Teile eine Wirkung annahmen. Der Stoß der Atome oder der Zug durch hakenförmige Teile, also nur eine Modifikation des Stoßes, waren das Urbild jedes Mechanismus, und auf Mechanismus zielte die ganze Bewegung der Wissenschaft ab.

In zwei wichtigen Punkten war nun das mathematisch formulierte Gesetz der physikalischen Erklärung vorangeeilt: in den Keplerschen Gesetzen und in dem von Galilei entdeckten Fallgesetze. Diese Gesetze ängstigten daher die ganze wissenschaftliche Welt mit der Frage nach der Ursache, natürlich der physikalischen, der mechanisch, also aus dem Stoß kleinerer Körperchen erklärbaren Ursache der Fallbewegung und der Bewegung der Himmelskörper. Insbesondere war die »Ursache der Gravitation« vor und nach Newton geraume Zeit ein Lieblingsgegenstand der theoretischen Physik. Auf diesem allgemeinen Boden der physikalischen Spekulation[274] war natürlich auch der Gedanke der wesentlichen Identität beider Kräfte ein sehr naheliegender, gab es doch im Grunde schon für die Voraussetzung der damaligen Atomistik überhaupt nur eine einzige Grundkraft in allen Naturerscheinungen. Aber diese Kraft wirkte unter sehr verschiedenen Verhältnissen und Formen, und man begnügte sich damals schon nicht mehr mit den blassen Möglichkeiten der epikureischen Physik. Man verlangte die Konstruktion, den Beweis, die mathematische Formel. In der konsequenten Durchführung dieser Forderung liegt das Obergewicht Galileis über Descartes, Newtons und Huyghens' über Hobbes und Boyle, welche sich noch in weit ausgesponnenen Erklärungen der Art, wie die Sache sein könnte, gefielen. Nun geschah es aber in Konsequenz dieses Strebens bei Newton zum drittenmal, daß die mathematische Konstruktion der physikalischen Erklärung voraneilte, und diesmal sollte dieser Umstand eine Bedeutung gewinnen, welche Newton selbst nicht ahnte.

Jene große Generalisation also, welche man mit der Erzählung vom Apfelfall202 feiert, war keineswegs die Hauptsache in Newtons Entdeckung. Abgesehen von der eben hervorgehobenen Einwirkung der Theorie haben wir auch hier Spuren genug davon, daß die Idee eines Hinausreichens der Schwere in den Weltraum nicht ferne lag. Ist doch schon im Altertum der Gedanke aufgetaucht daß der Mond auf die Erde fallen würde, wenn er nicht durch den Umschwung in der Schwebe gehalten würde.203 Newton kannte die Zusammensetzung der Kräfte,204 und so lag es für ihn auf der Hand, jenen Gedanken fortzubilden zu der Annahme: der Mond fällt wirklich gegen die Erde. Aus dieser Fallbewegung und einer geradlinigen in der Richtung der Tangente setzt sich die Bahn des Mondes zusammen.

Als persönliche Leistung einer großen wissenschaftlichen Kraft betrachtet, war hier der Gedanke selbst weniger bedeutend als die an dem Gedanken geübte Kritik. Newton legte bekanntlich seine Rechnungen zurück, weil das Ergebnis keine genaue Übereinstimmung mit der Bewegung des Mondes ergab.205 Newton scheint die Differenz, ohne seinen Grundgedanken gänzlich aufzugeben, im Einfluß irgendeiner andern, ihm unbekannten Wirkung gesucht zu haben, da er aber ohne genaue Kenntnis dieser störenden Kraft seinen Beweis nicht führen konnte, so blieb die ganze Sache einstweilen liegen. Später gab bekanntlich die Picardsche Gradmessung (1670) den Beweis, daß die Erde größer sei, als man bisher angenommen,[275] und die Berichtigung dieses Faktors gab den Rechnungen Newtons die erwünschte Genauigkeit.

Von großer Wichtigkeit, sowohl für die Beweisführung, als auch namentlich wegen der weit führenden Konsequenzen war die Annahme Newtons, daß die Gravitation eines Himmelskörpers nichts sei als die Summe der Gravitation aller seiner einzelnen Massenteile. Es ergab sich daraus unmittelbar die Folgerung, daß auch die terrestrischen Massen gegeneinander gravitieren, und weiterhin, daß auch die kleinsten Teilchen dieser Massen einander anziehen. So entstand die erste Grundlage der Molekularphysik. Aber auch hier lag die Generalisation selbst so nahe, daß sie für jeden Anhänger der Atomistik oder der Korpuskulartheorie mit Händen zu greifen war. Die Wirkung des Ganzen konnte nichts anderes sein, als die Summe der Wirkungen seiner Teile. Glaubt man aber eben die Atomistik hätte diese Lehre unmöglich machen müssen, weil sie alles auf den Stoß der Atome begründet, während es sich hier um »Anziehung« handelt, so verwechselt man wieder dasjenige, was uns seit Kant und Voltaire als »die Lehre Newtons« geläufig ist, mit Newtons wirklicher Ansicht von diesen Dingen.

Hier muß man sich erinnern, wie schon Hobbes die Atomistik umgestaltet hatte! Seine Relativierung des Atombegriffes trug ihre physikalischen Früchte in der bestimmteren Unterscheidung des Äthers von der »ponderablen« Materie. Es kann nach Hobbes Körper geben, welche für unsere Sinne unerkennbar klein sind und welche in gewisser Hinsicht mit Recht Atome genannt werden können. Gleichwohl sind dann neben diesen wieder andere anzunehmen, welche im Vergleich mit ihnen verschwindend klein sind, neben diesen wieder im gleichen Verhältnisse noch kleinere und so bis ins Unendliche. Die Physik braucht einstweilen nur das erste Glied dieser Reihe, um die Urbestandteile aller Körper in schwere, d.h. der Gravitation unterworfene Atome aufzulösen und neben ihnen andere, unendlich viel feinere, nicht schwere und den noch materielle, denselben Gesetzen des Stoßes, der Bewegung usw. unterworfene Teilchen anzunehmen. In diesen wurde die Ursache der Schwere gesucht, und kein hervorragender Physiker dachte damals an eine andere Art der Ursache, als an den Mechanismus der Stoßbewegung.

Descartes stand also mit seiner Ableitung der Schwere aus dem Stoß ätherischer Körperchen206 durchaus nicht vereinzelt. Es ist heutzutage üblich geworden, seine verwegenen Hypothesen gegenüber[276] den Demonstrationen eines Huyghens und Newton sehr scharf zu beurteilen, darüber vergißt man anzuerkennen, was unzweifelhaft der Fall ist, daß diese Männer in der einheitlichen und mechanischen, und zwar anschaulich mechanischen Auffassung der Naturvorgänge doch alle mit Descartes übereinstimmten, durch dessen Schule sie gegangen waren.

Die jetzt herrschende Annahme einer Wirkung in die Ferne hielt man einfach für absurd. Newton machte davon keine Ausnahme. Wiederholt erklärt er im Laufe seines großen Werkes, daß er die unbekannten physikalischen Ursachen der Schwere aus methodischen Gründen beiseite lasse, aber an ihrem Vorhandensein nicht zweifle. So bemerkt er z.B., daß er die Zentripetalkräfte als Anziehungen betrachte, »obgleich sie vielleicht, wenn wir uns der Sprache der Physik bedienen wollen, richtiger Anstöße (impulsus) genannt werden müßten.«207 Ja, als der Eifer seiner Anhänger dazu überging, die Schwere für eine Grundkraft aller Materie zu erklären (womit dann jede weitere mechanische Erklärung aus dem Stoße »imponderabler« Teilchen abgeschnitten wurde), sah sich Newton veranlaßt, noch im Jahre 1717, in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Optik ausdrücklich gegen diese Anschauung zu protestieren.208

Schon bevor diese letzte Erklärung Newtons erschienen war, äußerte sein großer Vorgänger und Zeitgenosse Huyghens, er könne nicht glauben, daß Newton die Schwere als eine wesentliche Eigenschaft der Materie betrachte. Derselbe Huyghens erklärte aber auch im ersten Kapitel seiner Abhandlung über das Licht rund heraus, daß in der wahren Philosophie die Ursachen aller natürlichen Wirkungen »per rationes mechanicas« erklärt werden müßten. Mann sieht jetzt, wie diese Anschauungen zusammenhängen, und man begreift, daß auch Männer wie Leibniz und Johann Bernoulli an dem neuen Prinzip Anstoß nahmen; ja daß der letztere sogar nicht abließ, zu versuchen, ob sich nicht aus Descartes' Prinzipien eine mathematische Konstruktion ableiten ließe, welche den Tatsachen ebenfalls genügte.209

Alle diese Männer wollten die Mathematik von der Physik nicht trennen, und als physikalisch vermochten sie die Lehre Newtons nicht zu begreifen.

Es trat hier die gleiche Schwierigkeit ein, welche sich der Lehre des Kopernikus entgegengestellt hatte, und doch war der Fall in einem sehr wesentlichen Punkte verschieden. In beiden Fällen galt es, ein[277] Vorurteil der Sinne zu überwinden, allein bei der Umdrehung der Erde konnte man doch schließlich die Sinne selbst wieder zu Hilfe ziehen, um sich zu überzeugen, daß wir nur relative, nicht absolute Bewegung empfinden. Hier galt es, sich eine physikalische Grundvorstellung anzueignen, welche dem anschaulichen Prinzip aller Physik widersprach und noch heute widerspricht.210 Newton selbst teilte, wie wir gesehen haben, dies Bedenken vollkommen, allein er trennte entschlossen die mathematische Konstruktion, die er geben konnte, von der physikalischen, die er nicht fand, und damit wurde er wider Willen zum Begründer einer neuen, den offenbaren Widerspruch in die ersten Elemente aufnehmenden Weltanschauung. Sein »hypotheses non fingo« warf die alte Grundlage des theoretischen Materialismus zu Boden, in demselben Augenblick, in welchem sie bestimmt schien, ihre höchsten Triumphe zu feiern.211

Wir haben schon angedeutet, daß Newtons eigentümliche Leistung vor allen Dingen in dem durchgeführten mathematischen Beweise zu suchen ist. Auch der Gedanke, daß die Keplerschen Gesetze durch eine Zentralkraft zu erklären seien, die umgekehrt mit dem Quadrate der Entfernung proportional ist, war mehreren englischen Mathematikern gleichzeitig aufgegangen.212 Newton war aber nicht nur der erste, der zum Ziele gelangte, sondern er löste auch die Aufgabe mit einer so großartigen Allgemeinheit und Sicherheit und entwickelte gleichsam beiläufig eine solche Fülle von Lichtstrahlen über alle Teile der Mechanik und Physik, daß die Prinzipien ein bewundernswertes Buch sein würden, auch wenn der Hauptsatz der neuen Lehre sich nicht in so glänzender Weise bewährt hätte, wie es in Wirklichkeit der Fall gewesen ist. Sein Beispiel soll die englischen Mathematiker und Physiker so geblendet haben, daß sie an Selbständigkeit verloren und auf längere Zeit den Deutschen und Franzosen die Führung in den mechanischen Naturwissenschaften überlassen mußten.213

Aus dem Triumph der rein mathematischen Leistung erwuchs so in seltsamer Weise eine neue Physik. Man beachte wohl, daß ein rein mathematisches Band zwischen zwei Erscheinungen, wie Fall der Körper und Bewegung des Mondes, nur insofern zu jener großen Generalisation führen konnte, als eine gemeinsame, durch das ganze Weltall hinwirkende materielle Ursache der Erscheinungen vorausgesetzt wurde. Der Gang der Geschichte hat diese unbekannte materielle Ursache eliminiert und das mathematische Gesetz[278] selbst in den Rang der physikalischen Ursache eingesetzt. Der Stoß der Atome sprang um in einen einheitlichen Gedanken, der als solcher ohne alle materielle Vermittlung die Welt regiert. Was Newton für eine so große Absurdität erklärte, daß kein philosophisch denkender Kopf darauf verfallen könnte,214 das preist die Nachwelt als Newtons große Entdeckung der Harmonie des Weltalls! Und richtig verstanden ist es auch seine Entdeckung, denn diese Harmonie ist dieselbe, einerlei, ob eine alles durchdringende feine Materie sie nach den Gesetzen des Stoßes bewirke, oder ob die Massenteilchen ohne alle materielle Vermittlung ihre Bewegung nach dem mathematischen Gesetz richten. Will man in letzterem Falle die »Absurdität« beseitigen, so muß man den Gedanken beseitigen, daß ein Ding da wirke, wo es nicht ist; d.h. der ganze Begriff des »Wirkens« der Atome aufeinander fällt als ein Anthropomorphismus dahin, und selbst der Begriff der Kausalität muß eine abstraktere Form annehmen.

Der englische Mathematiker Cotes, welcher im Vorwort zu der von ihm besorgten zweiten Auflage der Prinzipien (1713) die Schwere zur Grundeigenschaft aller Materie machte, begleitete diesen seitdem herrschend gewordenen Gedanken mit einer Philippika gegen die Materialisten, welche alles durch Notwendigkeit, nichts durch den Willen des Schöpfers entstehen lassen. Ihm scheint es ein besonderer Vorzug des Newtonschen Systems, daß es alles aus der freiesten Absicht Gottes entstehen lasse. Die Naturgesetze, meint Cotes, verraten viele Spuren der weisesten Absicht, aber keine Spur von Notwendigkeit.

Noch war seitdem kein halbes Jahrhundert verflossen, als Kant in seiner »Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels« (1755) mit der Popularisierung der Newtonschen Lehre jene kühne Erweiterung verband, die man gegenwärtig als die Kant-Laplacesche Hypothese zu bezeichnen pflegt. In der Vorrede zu diesem Werke anerkennt Kant, daß seine Theorie mit derjenigen des Epikur, Leucipp und Demokrit viele Ähnlichkeit habe.215 Niemand dachte mehr daran, in der allgemeinen Anziehung materieller Teile etwas anderes zu sehen, als ein mechanisches Prinzip, und heutzutage wird von den Materialisten mit Vorliebe dem Newtonschen Weltsystem die Rolle zugewiesen, welche man bis in das 18. Jahrhundert hinein der antiken Atomistik zuwies. Es ist die Theorie des Entstehens aller Dinge aus Notwendigkeit kraft einer Eigenschaft, welche aller Materie als solcher zukommt.[279]

Die religiöse Richtung Newtons und Boyles trennte sich in der Wirkung ihrer Arbeiten auf den allgemeinen Kulturfortschritt leicht und schnell von der wissenschaftlichen Bedeutung ihrer Errungenschaften. Auf England selbst scheint sie jedoch nachgewirkt zu haben, wie denn auch jene seltsame Mischung von Materialismus und Religiosität von Anfang an als ein dem englischen Boden eigentümliches Produkt betrachtet werden darf. Gleichwohl mag der konservative Zug in ihrem Charakter auch einigermaßen mit der Zeit und den Verhältnissen, unter welchen sie lebten und wirkten, zusammenhängen. Buckle hat die interessante Bemerkung gemacht, daß die Revolutionszeit, und namentlich die mächtigen politischen und sozialen Stürme der ersten Revolution in England einen großen und durchgreifenden Einfluß auf die Gesinnung der Schriftsteller geübt haben, namentlich durch Erschütterung der Autoritäten und Weckung des skeptischen Geistes.216 Er betrachtet auch Boyles Skeptizismus in der Chemie als eine Frucht des Zeitgeistes, zumal unter Karl II. die Bewegung der Revolution wenigstens in einer Hinsicht ununterbrochen weiter ging: in der Ausbreitung des Geistes der experimentellen Forschung. Anderseits darf man freilich auch bemerken, daß die Blütezeit der Forschungen Boyles und Newtons eben doch in die vergleichsweise ruhige und reaktionäre Periode zwischen den beiden Revolutionsstürmen fällt, und daß sie persönlich von der Politik wenig berührt wurden.217 Ganz anders griffen die politischen Kämpfe ein in das Leben des Mannes, der nach Baco und Hobbes als der hervorragendste Träger der philosophischen Bewegung in England zu betrachten ist, und dessen Einfluß auf den Kontinent bedeutender war, als der seiner beiden Vorgänger.

John Locke (geb. 1632), das Haupt der englischen Sensualisten, steht auch zur Geschichte des Materialismus in mannigfacher Beziehung. Seinem Lebensalter nach zwischen Boyle und Newton stehend, übte er seine größte Tätigkeit doch erst, nachdem Newton die seinige in der Hauptsache geschlossen hatte, und auf seine schriftstellerische Tätigkeit übten die Ereignisse, welche die zweite englische Revolution herbeiführten und begleiteten, einen entscheidenden Einfluß. Für Locke wurde, wie für Hobbes, der Eintritt in eine der ersten Familien Englands zur Grundlage seiner späteren Lebensstellung. Gleich Hobbes wurde er auf der Universität zu Oxford in die Philosophie eingeweiht, allein die Geringschätzung der scholastischen Bildung, welche bei Hobbes erst spät sich[280] festsetzte, begleitete ihn schon während seiner Studienzeit. Descartes, den er damals kennen lernte, übte einigen Einfluß auf ihn, allein bald wandte er sich der Medizin zu, wie er denn auch zunächst als ärztlicher Ratgeber in das Haus des Lord Ashley (des nachmaligen Grafen von Shaftesbury) eintrat. In seiner Auffassung der Medizin harmonierte er trefflich mit dem berühmten Arzte Sydenham, der damals eine ähnliche Reform der verwilderten Heilkunde von England aus anbahnte, wie später Boerhaave von den Niederlanden her. Schon hier zeigt er sich als der Mann von gesundem Menschenverstande, dem Aberglauben und der Metaphysik gleich abgeneigt. Auch trieb Locke mit Eifer Naturwissenschaften. So finden wir in Boyles Werken ein viele Jahre hindurch von Locke geführtes Tagebuch über Beobachtungen der Luft mittels Barometer, Thermometer und Hygrometer. Lord Ashley lenkte jedoch seine Aufmerksamkeit auf politische und religiöse Fragen, denen er dann auch einen ebenso andauerndes als intensives Interesse zuwandte.

Stand Hobbes auf der Seite des Absolutismus, so gehörte Locke der liberalen Richtung an; ja man hat ihn vielleicht nicht mit Unrecht als den Vater des neueren Konstitutionalismus bezeichnet. Der Grundsatz von der Trennung der gesetzgebenden und der ausübenden Gewalt, welcher gerade während der Lebenszeit Lockes in England sich praktische Geltung verschaffte, wurde von ihm zuerst in theoretischer Bestimmtheit entwickelt.218 Mit seinem Freunde und Beschützer Lord Shaftesbury wurde Locke, nachdem er eine kurze Zeit lang eine Stelle im Ministerium des Handels bekleidet hatte, in den Strudel der Opposition fortgerissen. Lange Jahre lebte er auf dem Kontinent, teils in freiwilliger Verbannung, teils geradzu von der Regierung verfolgt. In dieser Schule stählte sich sein Eifer für die Toleranz und die bürgerliche Freiheit. Das Anerbieten mächtiger Freunde, die ihm die Verzeihung des Hofes erwirken wollten, schlug er mit Berufung auf seine Schuldlosigkeit aus, und erst die Revolution von 1688 gab ihn seinem Vaterlande wieder.

Schon im ersten Beginn seiner politischen Tätigkeit, im Jahre 1669, arbeitete Locke eine Konstitution für die Provinz Carolina in Nordamerika aus, die sich jedoch schlecht bewährte und dem späteren gereiften Liberalismus Lockes wenig entspricht. Um so bedeutender sind dagegen seine Abhandlungen über das Münzwesen, welche zwar in einseitiger Weise das Interesse der Staatsgläubiger[281] wahrnahmen, aber in der Diskussion eine solche Fülle von lichtvollen Bemerkungen entwickelten, daß man sie als wichtige Vorläufer der englischen Nationalökonomie betrachten darf.219

Wir haben hier also wieder einen jener englischen Philosophen vor uns, die, mitten im Leben stehend und mit reicher Weltkenntnis ausgerüstet, sich der Lösung abstrakter Fragen zuwandten. Locke entwarf sein berühmtes Werk über die menschliche Erkenntnis schon im Jahre 1670, und erst zwanzig Jahre später wurde es in seinem vollen Umfange veröffentlicht. Wirkte auch hierauf die Abwesenheit des Verfassers von seinem Vaterlande, so ist es doch keinem Zweifel unterworfen, daß Locke sich beständig mit dem einmal erfaßten Gedanken beschäftigte und seinem Werke immer größere Vollkommenheit zu geben suchte.

Wie er durch einen einfachen Anlaß – durch einen resultatlosen Streit einiger Freunde – auf die Frage nach dem Ursprung und den Grenzen der menschlichen Erkenntnis gekommen sein will,220 so bedient er sich auch allenthalben einfacher, aber durchschlagender Gesichtspunkte bei seinen Untersuchungen. Wir haben in Deutschland noch heutzutage sogenannte Philosophen, welche in einer Art von metaphysischer Tölpelhaftigkeit große Abhandlungen über die Vorstellungsbildung schreiben – wohl gar noch mit dem Anspruch auf »exakte Beobachtung mittels des inneren Sinns« –, ohne auch nur daran zu denken, daß es, vielleicht in ihrem eigenen Hause, Kinderstuben gibt, in welchen man wenigstens die Symptome der Vorstellungsbildung mit seinen Augen und Ohren beobachten kann. Dergleichen Unkraut kommt in England nicht auf. Locke beruft sich in seinem Kampf gegen die angebornen Vorstellungen auf Kinder und Idioten. Alle Ungebildeten sind ohne Ahnung von unsern abstrakten Sätzen, und doch sollen diese angeboren sein? Den Einwand, daß jene Vorstellungen zwar im Verstande seien, aber ohne dessen Wissen, bezeichnet er als widersinnig. Eben das wird ja gewußt, was im Verstande ist. Auch kann man nicht sagen, daß die allgemeinen Sätze gleich mit dem Beginn des Verstandesgebrauches zum Bewußtsein kämen. Vielmehr ist die Erkenntnis des Speziellen früher. Längst bevor das Kind den logischen Satz des Widerspruchs kennt, weiß es, daß süß nicht bitter ist.

Locke zeigt, daß der wirkliche Weg der Verstandesbildung der umgekehrte ist. Es finden sich nicht zuerst gewisse allgemeine Sätze im Bewußtsein ein, die sich sodann durch die Erfahrung mit[282] speziellem Inhalte erfüllen, sondern die Erfahrung, und zwar die sinnliche Erfahrung ist der erste Ursprung unsrer Erkenntnisse. Zuerst geben uns die Sinne gewisse einfache Ideen, ein Ausdruck, der bei Locke ganz allgemein ist und etwa das besagt, was die Herbartianer »Vorstellungen« nennen. Solche einfachen Ideen sind die Töne, die Farben, das Widerstandsgefühl des Tastsinnes, die Vorstellungen der Ausdehnung und der Bewegung. Wenn die Sinne solche einfache Ideen häufig gegeben haben, so entsteht die Zusammenfassung des Gleichartigen und dadurch die Bildung der abstrakten Vorstellungen. Zur Empfindung (Sensation) gesellt sich die innere Wahrnehmung (Reflexion), und dies sind »die einzigen Fenster«, durch welche das Dunkel des ungebildeten Verstandes erhellt wird. Die Ideen der Substanzen, der wechselnden Eigenschaften und der Verhältnisse sind zusammengesetzte Ideen. Wir kennen von den Substanzen im Grunde nur ihre Attribute, welche aus einfachen Sinneseindrücken, als Tönen, Farben usw. entnommen werden. Nur dadurch, daß diese Attribute sich häufig in einer gewissen Verbindung zeigen, kommen wir dazu, uns die zusammengesetzte Idee einer Substanz, welche den wechselnden Erscheinungen zugrunde liegt, zu bilden. Selbst Gefühle und Affekte entspringen aus der Widerholung und mannigfachen Verbindung der einfachen, durch die Sinne vermittelten Empfindungen.

Jetzt erst gewannen die alten aristotelischen oder vermeintlich aristotelischen Sätze, daß die Seele ursprünglich eine »tabula rasa« sei, und daß nichts im Geiste sein könne, was nicht vorher in den Sinnen war, die Bedeutung, welche man ihnen heutzutage beizulegen pflegt, und in diesem Sinne können diese Sätze auf Locke zurückgeführt werden.221

Indem nun der menschliche Geist, der sich den Sinneseindrücken und auch der Bildung zusammengesetzter Ideen gegenüber bloß rezeptiv verhält, dazu fortschreitet, die gewonnenen abstrakten Ideen durch Worte zu fixieren und diese Worte nun willkürlich zu Gedanken zu verbinden, gerät er auf die Bahn, wo die Sicherheit der natürlichen Erfahrung aufhört. Je weiter sich der Mensch vom Sinnlichen entfernt, desto mehr unterliegt er dem Irrtum, und die Sprache ist die wichtigste Trägerin desselben. Sobald die Worte als adäquate Bilder von Dingen genommen, oder mit wirklichen anschaulichen Dingen verwechselt werden, während sie doch nur willkürliche, mit Vorsicht zu gebrauchende Zeichen für gewisse Ideen sind, ist das Feld zahlloser Irrtümer erschlossen. Lockes[283] Vernunftkritik läuft daher in eine Kritik der Sprache aus, die ihrem Grundgedanken nach wohl von höherem Wert ist, als irgendein andrer Teil des Systems. In der Tat ist die wichtige Unterscheidung des rein logischen und des psychologisch-historischen Elementes in der Sprache von Locke angebahnt, aber, von den Vorarbeiten der Linguistiker abgesehen, bisher kaum wesentlich gefördert worden. Und doch sind weitaus die meisten Schlüsse, welche in den philosophischen Wissenschaften überhaupt angewandt werden, logische Vierfüßer, weil Begriff und Wort beständig verwechselt werden. – Die alte materialistische Ansicht von der bloß konventionellen Geltung der Worte verwandelt sich also bei Locke in das Streben, die Worte bloß konventionell zu machen, weil sie nur in dieser Beschränkung einen sichern Sinn haben.

Im letzten Buche untersucht Locke das Wesen der Wahrheit und unseres Erkenntnisvermögens. Wahrheit ist die richtige Verbindung von Zeichen (z.B. Worten), welche ein Urteil bilden. Wahrheit in bloßen Worten kann übrigens rein chimärisch sein. Der Syllogismus hat wenig Nutzen, denn unser Denken bezieht sich mittelbar oder unmittelbar stets auf einzelnes. »Offenbarung« kann uns keine einfache Vorstellung geben und daher auch unser Wissen nicht wahrhaft erweitern. Glauben und Denken verhalten sich so, daß letzteres allein maßgebend ist, so weit es reicht; doch werden schließlich von Locke einige Dinge anerkannt, welche die Vernunft übersteigen und daher Gegenstände des Glaubens sind. Die begeisterte Überzeugung aber ist kein Zeichen der Wahrheit; auch über die Offenbarung muß die Vernunft richten, und die Schwärmerei ist kein Zeugnis für den göttlichen Ursprung einer Lehre. Von großem Einfluß waren ferner Lockes Briefe über die Toleranz (1685-1692), die Gedanken über die Erziehung (1693), die Abhandlung über die Regierung (1689) und das vernunftmäßige Christentum (1695); doch gehören alle diese Schriften nicht in die Geschichte des Materialismus. Mit sicherm Blick hatte Locke den Punkt erkannt, wo die vererbten mittelalterlichen Institutionen faul waren: die Vermischung der Politik und der Religion und die Verwendung der Staatsgewalt zur Behauptung oder Vertilgung von Ansichten und Meinungen.222 Es ist selbstverständlich, daß mit Erreichung der Ziele, welche Locke erstrebte, mit der Trennung der Kirche vom Staat und mit der Einführung allgemeiner Toleranz in Sachen der Lehrmeinungen, auch die Stellung des Materialismus eine andre werden mußte. Das frühere Versteckenspielen mit der[284] eignen Ansicht, welches sich bis tief in das achtzehnte Jahrhundert hinein fortsetzte, mußte allmählich schwinden. Der Deckmantel einfacher Anonymität wurde am längsten beibehalten; allein auch dieser schwand, als anfangs die Niederlande, später der Staat Friedrichs des Großen den Freidenkern sicheres Asyl boten, bis endlich die französische Revolution dem alten System den Todesstoß versetzte.

Unter den englischen Freidenkern, welche sich an Locke anschlossen und seine Gedanken weiterführten, kommt keiner dem Materialismus näher als John Toland, vielleicht der erste, welcher den Gedanken faßte, auf eine rein naturalistische, wenn nicht materialistische Lehre einen neuen religiösen Kultus zu begründen. In seiner Abhandlung »Clidophorus«, d.h. der Schlüsselträger, erwähnt er die Sitte der alten Philosophen, eine exoterische und eine esoterische Lehre aufzustellen, von denen die erstere für das große Publikum, die letztere aber nur für den eingeweihten Schülerkreis Geltung hatte. Hierauf sich beziehend schaltet er im dreizehnten Kapitel der Abhandlung folgende Mitteilung ein: »Mehr als einmal habe ich angedeutet, daß die äußere und innere Lehre jetzt so gebräuchlich sind als je, obwohl die Unterscheidung nicht so offen und ausdrücklich anerkannt wird, wie bei den Alten. Dies erinnert mich daran, was mir ein naher Verwandter von Lord Shaftesbury erzählte. Als der letztere sich eines Tages mit Major Wildmann über die mancherlei Religionen in der Welt unterhielt, kamen sie zuletzt zu dem Schluß, daß ungeachtet jener unzähligen, durch das Interesse der Priester und die Unwissenheit der Völker geschaffenen Teilungen doch alle weisen Männer der nämlichen Religion angehörten. Da tat eine Dame, die bisher mehr auf ihre Handarbeit als auf die Unterhaltung zu achten schien, mit einiger Bekümmernis die Frage, welche Religion das sei? worauf Lord Shaftesbury rasch zur Antwort gab: ›Madame, das sagen die weisen Männer niemals.‹« – Toland billigt dies Verfahren, glaubt aber ein unfehlbares Mittel zur Verallgemeinerung der Wahrheit angeben zu können: »Man lasse jedermann seine Gedanken frei aussprechen, ohne daß er jemals gebrandmarkt oder gestraft wird, außer für gottlose Handlungen, indem man spekulative Ansichten von jedem, der will, billigen oder widerlegen läßt: dann seid ihr sicher, die ganze Wahrheit zu hören; bis dann aber nur sehr kümmerlich oder dunkel, wenn überhaupt.«

Toland selbst hat seine esoterische Lehre in dem anonym erschienenen[285] Pantheistikon (»Kosmopolis 1720«) offen genug dargelegt. Er verlangt darin unter gänzlicher Beseitigung der Offenbarungen und des Volksglaubens eine neue Religion, welche mit der Philosophie übereinstimmt. Sein Gott ist das All, aus dem alles geboren wird und zu dem alles zurückkehrt. Sein Kultus gilt der Wahrheit, Freiheit und Gesundheit, den drei höchsten Gütern des Weisen. Seine Heiligen und Kirchenväter sind die erhabenen Geister und die vorzüglichsten Schriftsteller aller Zeiten, besonders des klassischen Altertums; aber auch diese bilden keine Autorität, welche den freien Geist des Menschen fesseln dürfte. In der Sokratischen Liturgie ruft der Vorsteher: »Schwöret auf keines Meisters Worte!« Und die Antwort schallt ihm aus der Gemeinde entgegen: »Selbst nicht auf die Worte des Sokrates.«223

Im Pantheistikon hält sich übrigens Toland in einer solchen Allgemeinheit der Anschauung, daß sein Materialismus nicht bestimmt hervortritt. Was hier z.B. nach Cicero (Acad. Quaest. I, c. 6 u. 7) über das Wesen der Natur, die Einheit von Kraft und Stoff (vis und materia) gelehrt wird, ist in der Tat mehr pantheistisch als materialistisch; dagegen finden wir eine materialistische Naturlehre in zwei Briefen an einen Spinozisten niedergelegt, welche den Letters to Serena (London 1704) angehängt sind. Serena, deren Namen die Briefsammlung trägt, ist Sophie Charlotte, Königin von Preußen, deren Freundschaft mit Leibniz bekannt ist, und die auch unsern Toland, der längere Zeit in Deutschland lebte, huldreich aufgenommen und seine Ansichten mit Interesse gehört hatte. Die drei ersten, an Serena gerichteten Briefe der Sammlung sind allgemeinen Inhaltes; doch bemerkt Toland in der Vorrede ausdrücklich daß er mit der erlauchten Dame auch über andere, weit interessantere Gegenstände korrespondiert habe, daß er aber von diesen Briefen keine Reinschrift besitze und deshalb die beiden andern Briefe anfüge. Der erste derselben enthält eine Widerlegung Spinozas, welche von der Unmöglichkeit ausgeht, nach Spinozas System die Bewegung und innere Mannigfaltigkeit der Welt und ihrer Teile zu erklären. Der zweite Brief trifft den Kernpunkt der ganzen materialistischen Frage. Er könnte die Überschrift »Kraft und Stoff« tragen, wenn man nicht die wirkliche Überschrift »Bewegung als wesentliche Eigenschaft der Materie« (Motion essential to matter) noch deutlicher nennen müßte.

Wiederholt haben wir gesehen, wie tief der alte Begriff der Materie als einer toten, starren und trägen Substanz in alle metaphysischen[286] Fragen eingreift. Diesem Begriff gegenüber hat der Materialismus einfach recht. Es handelt sich hier nicht um verschiedene gleich wohlbegründete Standpunkte, sondern um verschiedene Grade der wissenschaftlichen Erkenntnis. Wenn auch die materialistische Weltanschauung noch einer ferneren Läuterung bedarf, so wird diese doch niemals rückwärts führen können. Als Toland seine Briefe schrieb, hatte man sich bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert an die Atomistik Gassendis gewöhnt; die Undulationstheorie von Huyghens hatte einen tiefen Blick in das Leben der kleinsten Teile eröffnet, und wenn auch erst siebzig Jahre später durch Priestleys Entdeckung des Sauerstoffes das erste Glied der endlosen Kette der chemischen Vorgänge erfaßt wurde, so war doch das Leben der Materie bis in die kleinsten Teile erfahrungsmäßig festgestellt. Newton, der von Toland stets mit größter Hochachtung erwähnt wird, hatte freilich durch die Annahme des ursprünglichen Stoßes und durch die Schwachheit, mit der er eine zeitweise Nachhilfe des Schöpfers für den Gang seiner Weltmaschine in Anspruch nahm, der Materie ihre Passivität gelassen; allein der Gedanke der Attraktion als Eigenschaft aller Materie emanzipierte sich bald von dem eitlen Flickwerk, das der theologisch befangene Sinn Newtons ihm angehängt hatte. Die Welt der Gravitation lebte in sich, und es ist nicht zu verwundern, daß die Freigeister des achtzehnten Jahrhunderts, Voltaire an der Spitze, sich als die Apostel der Newtonschen Naturphilosophie betrachten.

Toland geht, gestützt auf Andeutungen Newtons, zu der Behauptung über, daß kein Körper in absoluter Ruhe ist;224 ja, in tiefsinniger Anwendung des altenglischen Nominalismus, der diesem Volke für die Naturphilosophie einen so großen Vorsprung verlieh, erklärt er schon Aktivität und Passivität, Ruhe und Bewegung für bloß relative Begriffe, während die ewige innere Tätigkeit der Materie in gleicher Kraft walte, wenn sie einen Körper andern Kräften gegenüber vergleichsweise in Ruhe hält, als wenn sie ihm eine beschleunigte Bewegung verleiht.

»Jede Bewegung ist passiv in Beziehung auf den Körper, welcher sie gibt, und aktiv in Beziehung auf den Körper, welchen sie demnächst bestimmt. Nur der Umstand, daß man die relative Bedeutung solcher Wörter in eine absolute verwandelt, hat die meisten Irrtümer und Streitigkeiten über diesen Gegenstand veranlaßt.«225 Unhistorisch, wie seine meisten Zeitgenossen verkennt Toland, daß die absoluten Begriffe naturwüchsig sind, die relativen dagegen[287] erst ein Produkt der Bildung und der Wissenschaft. »Die Bestimmungen der Bewegung in den Teilen der festen und ausgedehnten Materie bilden das, was wir die Naturerscheinungen nannten, denen wir Namen geben und Zwecke, Vollkommenheit oder Unvollkommenheit zuschreiben, je nachdem sie unsre Sinne affizieren, unserm Körper Schmerz oder Lust verursachen und zu unserer Erhaltung oder Zerstörung beitragen; allein wir benennen sie nicht immer nach ihren wirklichen Ursachen oder nach der Art, wie sie einander hervorbringen, wie die Elastizität, die Härte, Weichheit, Flüssigkeit, Quantität, Figur und Verhältnisse besonderer Körper. Im Gegenteil schreiben wir häufig manche Besonderheiten der Bewegung gar keiner Ursache zu, wie die willkürlichen Bewegungen der Tiere. Denn wiewohl diese Bewegungen von Gedanken begleitet sein mögen, so haben sie doch, als Bewegung betrachtet, ihre physischen Ursachen. Wenn ein Hund einen Hasen verfolgt, so wirkt die Gestalt des äußeren Objektes mit ihrer ganzen Gewalt von Stoß oder Anziehung auf die Nerven, welche so mit den Muskeln, Gelenken und andern Teilen geordnet sind, daß sie mannigfache Bewegungen in der tierischen Maschine möglich machen. Und jeder, der auch nur einigermaßen die Wechselwirkung der Körper aufeinander durch unmittelbare Berührung oder durch die unbemerklichen Teilchen, die beständig von ihnen ausströmen, versteht und mit dieser Kenntnis diejenige der Mechanik, Hydrostatik und Anatomie verbindet, wird überzeugt sein, daß alle die Bewegungen des Sitzens, Stehens, Liegens, Aufstehens, Laufens, Gehens und dergleichen mehr ihre eigentümliche, äußerliche, materielle und verhältnismäßige Bestimmung haben,«226

Eine größere Deutlichkeit kann niemand verlangen. Toland betrachtet offenbar den Gedanken als eine den materiellen Bewegungen im Nervensystem inhärierende begleitende Erscheinung, wie etwa das Leuchten infolge eines galvanischen Stromes. Die willkürlichen Bewegungen sind Bewegungen des Stoffes, welche nach denselben Gesetzen entstehen wie alle anderen, nur in komplizierteren Apparaten.

Wenn Toland sich demnächst noch hinter eine weit allgemeiner gehaltene Äußerung Newtons verschanzt und endlich sich dagegen ausdrücklich verwahrt, daß sein System die Annahme einer regierenden Vernunft überflüssig mache, so können wir nicht umhin, dabei uns an seine Unterscheidung der exoterischen und esoterischen[288] Lehre zu erinnern. Das anonym erschienene und daher wohl als esoterisch zu betrachtende Pantheistikon verehrt keinen transzendenten Weltgeist irgendwelcher Art, sondern nur das All, in unabänderlicher Einheit von Geist und Materie. So viel aber dürfen wir jedenfalls aus der Schlußbetrachtung des merkwürdigen Briefes entnehmen, daß Toland die gegenwärtige Welt nicht gleich den Materialisten des Altertums als nach unzähligen unvollkommenen Versuchen zufällig geworden betrachtet, sondern eine großartige, dem All unabänderlich innewohnende Zweckmäßigkeit an nimmt.227

Toland gehört zu jenen wohltuenden Erscheinungen, bei denen wir eine bedeutende Persönlichkeit in voller Harmonie aller Seiten des menschlichen Wesens vor uns sehen. Nach einem vielbewegten Leben genoß er in heiterer Seelenruhe die abgeschiedene Stille des Landlebens. Kaum ein Fünfziger, wurde er von einer Krankheit ergriffen, die er mit der Ruhe eines Weisen ertrug. Wenige Tage vor seinem Tode verfaßte er seine Grabschrift; er nahm Abschied von seinen Freunden und entschlummerte in ungetrübtem Frieden des Geistes.[289]

179

Macaulay, hist. of England I, chap. 2; vgl. insbes. die Abschnitte: »Change in the morals of the community« und »Profligacy of politicians.«

180

Macaulay, hist. of England I, chap. 3, »state of science in England«; vgl. auch Buckle, hist. of civilisation in England II, p. 78 u. ff. der Brockhausschen Ausgabe, wo insbesondere der Einfluß der Gründung der »Royal society« hervorgehoben wird, in deren Tätigkeit der induktive Geist der Zeit seinen Mittelpunkt fand. – Hettner, Literaturgesch. d. 18. Jahrh. I (3. Aufl.) S. 17 nennt die Gründung der »Regalis societas Londini pro sientia naturali promovenda« (15. Juli 1662) »die ruhmvollste Tat Karls II.«, was freilich genau genommen noch nicht viel sagen will.

181

Hist. of England I, chap. 3, »immorality of the polite literature of England.« – Vgl. hierzu ferner Hettner, Literaturgesch. des 18. Jahrhunderts I, S. 107 u. ff.

182

Wenn auch die klassische Nationalökonomie der Engländer als ausgebildete Wissenschaft erst später entstand, so liegen doch in dieser Zeit ihre Wurzeln. Vollständig ausgebildet erscheint der »Materialismus der politischen Ökonomie« bereits in Mandevilles Bienenfabel ( 1708); vgl. Hettner Literaturg. des 18. Jahrh. I, S. 206 u. ff. – Vgl. auch Karl Marx, das Kapital, I, S. 339 Anm. 57 über Mandeville als Vorgänger von A. Smith und ebendas. S. 377, Anm. 111 über den Einfluß Descartes' und der englischen Philosophen, insbesondere Locke, auf die Nationalökonomie. Über Locke vgl. ferner unten Anm. 74.

183

Macaulay, hist. of England, I, 3, »Growth of the towns«.

184

Buckle, hist. of civil., II, p. 95 sagt von Hobbes: »The most dangerous opponent of the clergy in the seventeenth century was certainly Hobbes, the subtlest dialectician of his time; a writer, too, of singular clearness, and, among British metaphysicians, inferior only to Berkeley.« [?]... »during his life, and for several years after his death every man who ventured to think for himself was stigmatized as a Hobbist, or as it was sometimes called, a Hobbian.« Diese Bemerkungen sind nicht unrichtig, geben aber, wenn man die Kehrseite der Sache nicht beachtet, ein unrichtiges Bild von Hobbes und seinem Einflusse. Diese Kehrseite schildert Macaulay, hist. of England I. 3, »charge in the morals of the community«: »Thomas Hobbes had, in language more precise and luminous than has ever been employed by any other metaphysical writer, maintained that the will of the prince as the standard of right and wrong and that every subject ought to be ready to profess Popery, Mahometanism, or Paganism at the royal command. Thousands who were incompetent to appreciate what was really valuable in his speculations, eagerly welcomed a theory which, while it exalted the kingly office, relaxed the obligations of morality, and degraded religion into a mere affair of state. Hobbism soon became an almost essential part of the character of the fine gentleman.« Weiterhin heißt es dann aber sehr richtig von dieser nämlichen Sorte leichtfertiger Herren, daß durch sie die englische Hochkirche wieder zu Reichtum und Ehren kam. So wenig diese vornehmen Genußmenschen geneigt waren, ihr Leben nach den Vorschriften der Kirche zu regeln, so schnell waren sie bereit, für ihre Kathedralen und Paläste, für jede Zeile ihrer Formulare und jeden Faden ihrer Gewänder »knietief im Blute zu fechten«. – In Macaulays bekannter Abhandlung über Bacon findet sich folgende bemerkenswerte Stelle über Hobbes: ... »his quick eye soon discerned the superior abilities of Thomas Hobbes. It is not probable, however, that he fully appreciated the powers of his disciple, or foresaw the vast influence, both for good or for evil, which that most vigorous and acute of human intellects was destined to excercise on the two succeeding generations.«

185

Richtiger urteilt Buckle, hist. of civil. II, p. 75: »After the death of Bacon, one of the most distinguished Englishmen was certainly Boyle, who, if compared with his contemporaries, may be said to rank immediately below Newton, though, of course, very inferior to him as an original thinker.« Wir möchten das letztere nicht gerade unterschreiben, denn Newtons Größe bestand keineswegs in der Originalität seines Denkens, sondern in der Vereinigung eines seltenen mathematischen Talentes mit den im Text geschilderten Charaktereigenschaften.

186

So beginnt schon Gmelin, Gesch. d. Chemie, Gött. 1798, die »zwote Hauptepoche«, oder neuere Gesch. d. Ch. mit »Boyles Zeitalter« (1661-1690). Er bemerkt mit Recht (II, 35), daß kein Mann so viel dazu beigetragen, »die Herrschaft, welche sich die Alchimie über so viele Gemüter und Wissenschaften anmaßte, zu stürzen«, als gerade Boyle. – Ausführlich handelt über ihn Kopp, Geschichte der Chemie I, S. 163 u. ff. (»In Boyle sehen wir den ersten Chemiker, dessen Bemühungen in der Chemie zunächst nur in dem edlen Triebe, die Natur zu erforschen, angestellt sind«); sodann häufig in den speziellen Teilen der Geschichte; namentlich in der Gesch. der Affinitätslehre II, S. 274 u. ff., wo u. a. von Boyle bemerkt wird, daß er zuerst die Frage nach den Elementarbestandteilen ganz in dem Sinne auffaßte, wie sie noch jetzt behandelt wird.

187

Buckle, II, p. 75 schreibt Boyle namentlich zu: die ersten exakten Experimente über das Verhältnis von Farbe und Wärme, die Grundlegung der Hydrostatik und die erste Entdeckung des später nach Mariotte benannten Gesetzes, nach welchem sich der Druck der Luft proportional mit ihrer Dichtigkeit ändert. In Beziehung auf die Hydrostatik hebt jedoch Buckle selbst Boyle nur unter den Engländern besonders hervor und anerkennt damit indirekt die größere Bedeutung von Pascal (vgl. Anm. 68 a. a. O., wo sich übrigens noch fragen läßt, ob nicht die Bedeutung beider für die Hydrostatik überschätzt ist. Nach Dühring, Gesch. d. Prinz. der Mechanik, S. 90 u. ff. wäre auch auf diesem Gebiete Galilei der eigentlich grundlegende Kopf; Pascal macht von dessen Prinzipien nur eine geistreiche Anwendung und für Boyle, den Dühring gar nicht erwähnt, bliebe auch auf diesem Gebiete hauptsächlich das Verdienst der Veranschaulichung der neuen Grundsätze durch das Experiment). Was das »Mariottesche Gesetz« betrifft, so ist mir die Vollgültigkeit des Boyleschen Prioritätsanspruches noch etwas zweifelhaft. Boyle hat offenbar eine große Abneigung gegen vorschnelle Generalisationen und, wie es scheint, auch nicht das volle Bewußtsein von der Wichtigkeit scharf formulierter Gesetze. In seinem Hauptwerk über diesen Gegenstand, der »Continuation of new Experiments touching the spring and weight of the air and their effects, Oxf. 1669« ist die Abhängigkeit des Druckes vom Volumen mit Händen zu greifen; Boyle gibt sogar Methoden an zur genauen numerischen Bestimmung des Druckes und der Masse der im Rezipienten verbliebenen Luft; gleichwohl wird das Resultat nirgends deutlich gezogen. So heißt es z.B. Exp. I § 6, p. 4 der von mir benutzten lateinischen Ausgabe Genevae 1694:... »facta inter varios aeris in phiala constricti expansionis gradus, et respectivas succrescentes Mercurii in tubum elati altitudines comparatione, judicium aliquod ferri possit de vi aeris elastica; prout variis dilatationis gradibus infirmati, sed observationibus tam curiosis supersedi.«...

188

Boyle darf auch rühmend erwähnt werden wegen des Nachdruckes, welchen er vielleicht zuerst unter den Physikern der Neuzeit auf die Forderung wohldurchdachter und exakt gearbeiteter Apparate legte.

189

Vgl. namentlich die Abhandlung Experimentorum nov. physicomech. continuatio II. (A continuation of new experiments, London 1680), wo die Tage, an welchen die Versuche angestellt wurden, überall angegeben sind.

190

Origin of forms and qualities, according to the corpuscular philosophy, Oxford 1664 und öfter; lateinisch Oxford 1669 und Genevae 1688. Ich zitiere die letztere Ausgabe.

191

A a. O., discursus ad lectorem: »plus certe commodi e parvo illo sed locupletissimo Gassendi syntagmate philosophiae Epicuri perceperam, modo tempestivius illi me assuevissem.«

192

Vgl. Exercitatio IV. de utilitate phil. naturalis, wo dies Thema am ausführlichsten behandelt ist. Die »Some Considerations touching the usefulness of experimental natural philosophy« erschienen zuerst in Oxford 1663 und 1664. Lateinisch unter dem Titel Exercitationes de utilitate phil. nat. Lindaviae 1692, 4. (Gmelin, Gesch. d. Chem. II, p. 101 erwähnt eine lat. Ausgabe Londini 1692, 4.)

193

Vgl. die Streitschrift: Examen dialogi physici domini Hobbes de natura aeris, Genevae 1695.

194

De origine qualitatum et formarum, Genevae 1688, p. 28 u. f. – Hierbei ist jedoch zu bemerken, daß Boyle die Bewegung nicht als wesentliches Merkmal der Materie gelten läßt; dieselbe bleibt in ihrer Natur unverändert, auch wenn sie ruht. Die Bewegung ist aber der »modus primarius« der Materie und die Teilung derselben in die »corpuscula« ist, wie bei Descartes, eine Folge der Bewegung. Vgl. auch ebendas. p. 44 u. f.

195

Vgl. den Tractatus de ipsa natura (ich kann auch hier nur die lat. Ausg. Genevae 1688 zitieren), eine ebenfalls in philosophischer Hinsicht interessante Abhandlung, Sekt. I, am Schluß, p. 8 ed. Gen.

196

So wird z.B. in Tract. de ipsa natura p. 76 die Regelmäßigkeit des Weltlaufs gepriesen, in welchem selbst anscheinende Störungen, wie z.B. Sonnenfinsternisse, die Überschwemmungen des Nils etc. als vorhergesehene Folgen der ein für allemal vom Schöpfer festgesetzten Regeln des Naturlaufs zu betrachten seien. Daneben werden dann aber der Stillstand der Sonne zu Josuas Zeiten und der Durchgang der Israeliten durch das Rote Meer als Ausnahmen betrachtet, wie sie in seltenen und wichtigen Fällen durch besondere Dazwischenkunft des Schöpfers stattfinden können.

197

De utilitate phil. exper. Exerc. V. § 4 (Lindaviae 1692, p. 308): »Corpus enim hominis vivi non saltem concipio tanquam membrorum et liquorum congeriem simplicem, sed tanquam machinam, e partibus certis sibi adunitis consistentem.« – De origine formarum p. 2: »corpora viventium, curiosas hasce et elaboratas machinas« und anderwärts häufig.

198

De origine formarum, Gen. 1688, p. 81.

199

De origine formarum, p. 8.

200

Newtons Annotationes in vaticinia Danielis, Habacuci et Apocalypseos erschienen London 1713.

201

Newton wurde im Jahre 1699 Vorsteher der könig. Münze mit einem Gehalt von 15 000 Pfund Sterling. Schon im Jahre 1693 soll er durch den Verlust eines Teils seiner Manuskripte in eine Krankheit verfallen sein, welche nachteilig auf seine Geisteskräfte einwirkte. Vgl. die biographische Skizze Littrows in seiner Übersetzung von Whewells Gesch. der ind. Wissenschaftl. (Stuttg. 1840) II. S. 163, Anm.

202

Vgl. Whewell, Gesch. d. ind. Wissensch., übers. von Littrow, II, S. 170. Hiernach wäre nach ziemlich glaubwürdiger Überlieferung durch Pemberton und Voltaire aus Newtons eignen Mitteilungen so viel zu entnehmen, daß derselbe schon im Jahre 1666 (in seinem 24. Lebensjahre) in einem Garten sitzend über die Schwere nachgedacht und gefolgert habe, da die Schwere sich auch in den größten Höhen, die wir kennen, geltend macht, so müsse sie Einfluß auf die Bewegung des Mondes haben.

203

Vgl. Dühring, krit. Gesch. der allg. Prinzipien der Mechanik (Berlin 1873), S. 175; ebendas. S. 180 u. f. bemerkenswerte hierher gehörige Äußerungen von Kopernikus und von Kepler; ferner Whewell, übers. v. Littrow, II, 146 die Ansichten von Borelli. Auch darf wohl erwähnt werden, daß Descartes in seiner Wirbeltheorie zugleich die mechanische Ursache der Schwere fand so daß also die Idee der Einheit beider Erscheinungen damals sogar schulmäßig war. – Dühring bemerkt mit Recht, daß es darauf ankam, die vage Vorstellung einer Annäherung oder eines »Falles« der Himmelskörper nunmehr in Einklang zu bringen mit dem von Galilei gefundenen mathematisch bestimmten Begriff der terrestrischen Fallbewegung. Immerhin zeigen jene Vorläufer, wie naheliegend die Synthesis selbst war, und wir haben im Text gezeigt, wie diese Synthesis durch die Atomistik gefördert werden mußte. Newtons Verdienst bestand aber darin, den allgemeinen Gedanken in ein mathematisches Problem zu verwandeln und vor allen Dingen, dies Problem in einer glänzenden Weise zu lösen.

204

In dieser Beziehung hatte namentlich Huyghens mächtig vorgearbeitet, während die ersten Anfänge der richtigen Theorie auch hier auf Galilei zurückgehen. Vgl. Whewell, übers. von Littrow, II, S. 79, 81, 83. Dühring S. 163 u. ff. und S. 188.

205

Whewell, übers. von Littrow, II, S. 171 u. ff., womit jedoch, was die Erzählung von der Wiederaufnahme der Rechnung betrifft, zu vergleichen Hettner, Literaturg. d. 18. Jahrh. I, S. 23.

206

Prinzipien, IV. In der v. Kirchmannschen Übersetzung S. 183 u. ff.

207

Phil. nat. princ. math. I, 11 zu Anfang; eine Stelle ganz gleicher Tendenz findet sich gegen Schluß dieses Abschnittes. (In der Ausg. Amstelodami 1714 p. 147 und 172; in der Übers. v. Wolfers, Berlin 1872 S. 167 und 190.) – An letzterer Stelle nennt Newton den hypothetischen Stoff, welcher durch seinen Antrieb die Gravitation hervorbringt, »spiritus«. Hier werden freilich auch ganz andre Möglichkeiten erwähnt, darunter wirkliches Hinstreben der Körper zueinander und sogar die Aktion eines unkörperlichen Mediums; allein der Zweck der Stelle ist eben, die unbedingte Allgemeingültigkeit der mathematischen Entwicklung zu zeigen, die physikalische Ursache sei, welche sie wolle. Wo Newtons Lieblingsvorstellung liegt, verrät sich deutlich genug am Schlusse des ganzen Werkes. Wir wollen den ganzen letzten Absatz hier folgen lassen: »Adjicere iam liceret nonnulla de spiritu quodam subtilissimo corpora crassa pervadente et in iisdem latente, cuius vi et actionibus particulae corporum ad minimas distantias se mutuo attrahunt, et contiguae factae cohaerent; et corpora electrica agunt ad distantias majores, tam repellendo, quam attrahendo corpuscula vicina, et lux emittitur, reflectitur, refringitur, inflectitur et corpora calefacit; et sensatio omnis excitatur, et membra animalium ad voluntatem moventur, vibrationibus scilecet huius spiritus per solida nervorum capillamenta ab externis sensuum organis ad cerebrum at a cerebro in musculos propagatis. Sed haec paucis exponi non possunt; neque adest sufficiens copia experimentorum, quibus leges actionum huius spiritus accurate determinari et monstrari debent.«

208

Vgl. Ueberweg, Grundriß, III, 3. Aufl. S. 102.

209

Whewell, übers. v. Littrow, II, S. 145. – Und doch waren Männer wie Huyghens, Bernoulli und Leibniz damals fast die einzigen auf dem Kontinent, welche Newtons Leistungen wenigstens in mathematischer Hinsicht vollkommen zu schätzen vermochten! Vgl. die interessante Anmerkung Littrows a. a. O. S. 141 u. f., namentlich auch hinsichtlich des Widerstandes, welchen die Newtonsche Lehre von der Gravitation anfangs sogar in England fand.

210

Es ist daher sehr begreiflich, daß die Versuche, die Schwere aus anschaulichen physikalischen Prinzipien zu erklären, immer wiederkehren. So bei Lesage, über dessen Erklärungsversuch (1764) s. Ueberwegs Grundr. III, 3. Aufl., S. 102. – Neuerdings wurde ein solcher Versuch unternommen von H. Schramm, die allg. Bewegung der Materie als Grundursache aller Naturerscheinungen, Wien 1872. Es ist bezeichnend für die Macht der Gewohnheit, daß solche Versuche heutzutage von den Fachmännern sehr kühl aufgenommen werden. Man hat sich mit der Wirkung in die Ferne einmal abgefunden und empfindet gar nicht mehr das Bedürfnis, etwas andres an die Stelle zu setzen. Die Bemerkung Hagenbachs, die Zielpunkte der physik. Wissensch., S. 21, daß immer noch solche auftreten, welche die Anziehung aus vermeintlich »einfacheren« Prinzipien zu erklären suchen, ist ein charakteristisches Mißverständnis.

Es handelt sich bei solchen Versuchen nicht um Einfachheit, sondern um Anschaulichkeit als ein Moment der Begreiflichkeit.

211

Der Ausspruch »hypotheses non fingo« findet sich am Schlusse des Werkes, wenige Zeilen über der oben (Anm. 62) mitgeteilten Stelle mit der Erklärung verbunden: »Quidquid ex phaenomenis non deducitur, hypothesis vocanda est; et hypotheses seu metaphysicae, seu physicae, seu qualitatum occultarum, seu mechanicae, in philosophia experimentali locum non habent.« Als die wirkliche Methode der Experimentalwissenschaft gibt Newton an, daß die Sätze (»propositiones«) aus den Erscheinungen abgeleitet und durch Induktion verallgemeinert wurden. (Vgl. Prinzipien, übers. v. Wolfers, S. 511). In diesen keineswegs richtigen Behauptungen spricht sich, wie auch in den zu Anfang des dritten Buches aufgestellten vier »Regeln zur Erforschung der Natur« der bewußte Gegensatz gegen Descartes aus, gegen welchen Newton sehr eingenommen war. Vgl. die Erzählung Voltaires bei Whewell, übers. v. Littrow, II, S. 143.

212

Newton selbst erkannte, daß Christoph Wren und Hooke (von denen der letztere sogar für den ganzen Beweis der Gravitation die Priorität beanspruchen wollte) das Verhältnis vom umgekehrten Quadrat der Entfernung unabhängig von ihm schon gefunden hatten. Halley, welcher im Gegensatze zu Hooke einer der neidlosesten Bewunderer Newtons wurde, hatte sogar den genialen Gedanken gehabt, daß die Attraktion mit Notwendigkeit in jenem Verhältnis abnehmen müsse, weil die sphärische Oberfläche, über welche die ausstrahlende Kraft sich verbreitet, im gleichen Verhältnisse immer größer werde. Vgl. Whewell, übers. v. Littrow, 11, S.155-157.

213

Vgl. Snell, Newton und die mechan. Naturwissenschaft, Leipzig, 1858, S. 65.

214

So äußerte sich Newton in einem Briefe an Bentley aus dem Jahre 1693. Vgl. Hagenbach, Zielpunkte der physik. Wissensch. Leipzig 1871, S.21.

215

Kants Werke, herausg. v. Hartenstein, Leipzig 1867, I, S.216.

216

Hist. of civilisation II, p. 70 u. ff. – Was das Beispiel der Sinnesänderung von Thomas Browne betrifft (a. a. O. p. 72 u. ff.), so darf wohl das in Morhofs Polyhistor erwähnte Gerücht angeführt werden, derselbe habe die »religio medici« geschrieben, um sich von dem Verdacht des Atheismus zu befreien. Wäre danach auch dies Beispiel nicht so treffend, als es bei Buckle erscheint, so ist doch die allgemeine Anschauung, zu deren Illustration es angeführt wird, unzweifelhaft richtig.

217

Bei Whewell, Gesch. d. ind. Wissensch., übers. v. Littrow II, S. 150 u. ff. findet sich eine Schilderung der Eingriffe der Revolutionsstürme in das Leben und Wirken hervorragender englischer Mathematiker und Naturforscher. Mehrere derselben vereinigten sich 1645 mit Boyle zu dem »unsichtbaren Kollegium«, dem ersten Keim der später von Karl II. begründeten Royal society.

218

Vgl. Mohl, Gesch. u. Liter. der Staatswissensch. I, p. 231 u. f.

219

Über den Streit zwischen Locke und dem Finanzminister Lowndes vgl. Karl Marx, zur Kritik der polit. Ökonomie, Berlin 1859, 1. Heft, S. 53 u. ff. Lowndes wollte bei der Umprägung der schlechten und entwerteten Münzen den Schilling leichter machen, als er früher gesetzlich hätte sein sollen; Locke setzte durch, daß die Prägung nach der gesetzlichen, aber faktisch längst nicht mehr bestehenden Norm erfolgte. Daraus ergab sich daß Schulden (und darunter namentlich die Staatschulden!), welche in leichten Schillingen kontrahiert waren, in schweren zurückbezahlt werden mußten. Lowndes stützte seine materiell richtigere Ansicht mit schlechten Gründen, die von Locke siegreich widerlegt wurden. Mit scharfer Kennzeichnung der Parteistellung des letzteren sagt Marx: »John Locke, der die neue Bourgeoisie in allen Formen vertrat, die Industriellen gegen die Arbeiterklasse und die Paupers, die Kommerziellen gegen die altmodischen Wucherer, die Finanzaristokraten gegen die Staatsschuldner, und in einem eignen Werk sogar den bürgerlichen Verstand als menschlichen Normalverstand nachwies, nahm auch den Handschuh gegen Lowndes auf. Locke siegte, und Geld, geborgt zu 10 oder 14 Schillingen die Guinee, wurde zurückbezahlt in Guineen von 20 Schillingen.« – Übrigens behauptet Marx (bekanntlich wohl der gründlichste jetzt lebende Kenner der Geschichte der Nationalökonomie) weiterhin auch, daß die wertvollsten Beiträge Lockes zur Theorie des Geldes nur eine Verflachung von demjenigen seien, was Petty schon in einer Schrift vom Jahre 1682 entwickelt habe, vgl. Marx, das Kapital, Hamb. 1867, I, S. 60. Kritik der polit. Ökon., I, S. 56.

220

S. die Erzählung in der dem Essay concerning human understanding vorangeschickten »Epistle to the reader«; danach bei Hettner, Literaturg. d. 18. Jahrh. I, S. 150.

221

Das Bild von der »tabula, in qua nihil est actu scriptum« findet sich bei Aristoteles de anima III, c. 4. Bei Locke II, 1 § 2 wird der Geist einfach als »white paper« betrachtet, ohne daß von dem aristotelischen Gegensatz der Möglichkeit und Wirklichkeit die Rede ist. Dieser Gegensatz ist aber gerade hier von großer Bedeutung, da die aristotelische »Möglichkeit« alle verschiedenen Schriftzüge aufzunehmen als eine reale Eigenschaft der Tafel gedacht wird, nicht als die bloße Denkbarkeit oder Abwesenheit verhinderter Umstände. Aristoteles steht daher denjenigen näher, welche wie Leibniz und in tieferer Ausführung Kant zwar nicht fertige Vorstellungen in der Seele annehmen, wohl aber die Bedingungen dafür, daß im Kontakt mit der Außenwelt gerade dasjenige Phänomen entstehe, welches wir »vorstellen« nennen und mit denjenigen Eigentümlichkeiten, welche das Wesen der menschlichen Vorstellung ausmachen. Diesen Punkt, die subjektiven Vorbedingungen des Vorstellens als Fundament unsrer ganzen Erscheinungswelt hat Locke nicht hinlänglich beachtet. – In bezug auf den Satz »nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu« (welchem Leibniz in der Polemik gegen Locke den Zusatz gab »nisi intellectus ipse«; vgl. Ueberwegs Grundr. III, 3. Aufl., S. 127) beachte man Aristoteles de anima III, c. 7 u. 8. Auch Thomas v. Aquino lehrte, daß das wirkliche Denken im Menschen erst durch Zusammenwirken des intellectus mit einem sinnlichen phantasma zustande komme. Aber der Möglichkeit nach enthält der Geist alles Denkbare schon in sich. Dieser wichtige Punkt verliert bei Locke jede Bedeutung.

222

Auch in Beziehung auf den Gedanken, daß der Staat Freiheit der religiösen Meinungsäußerung geben sollte, hatte Locke seine Vorgänger, unter denen besonders Thomas Morus (in der »Utopia«, 1516) und Spinoza zu nennen sind. Auch auf diesem Gebiete gewann er also seine Bedeutung (vgl. Anm. 74) nicht sowohl durch originelle Gedanken, als durch die zeitgemäße und erfolgreiche Durchführung von Ideen, die dem veränderten Zustande der Gesellschaft entsprachen. – Über seine Ausnahmen von der Regel der Toleranz (mit Beziehung auf Atheisten und Katholiken) vgl. Hettner, I, S. 159 u. f.

223

Näheres über Toland, namentlich auch über seine noch ganz an Locke anknüpfende erste Schrift: »Christianity not mysterious« (1696) s. bei Hettner, Lit. d. 18. Jahrh. I, S. 170 u. ff. – Aus der »sokratischen Liturgie« teilt Hettner ebendaselbst S. 180 u. f. »die sprechendsten Züge« mit. Hettner hat auch schon mit Recht auf den Zusammenhang des englischen Deismus mit dem Freimaurer-Bunde hingewiesen. Hier mag noch der spezielle Zug hervorgehoben werden, daß Toland seinen Kultus der »Pantheisten« entschieden im Sinne der esoterischen Lehre der Philosophie als Kultus eines geheimen Bundes der Aufgeklärten behandelt. Die Eingeweihten können daneben bis zu einem gewissen Grade den rohen Vorstellungen des Volkes, das ihnen gegenüber aus unmündigen Kindern besteht, nachgeben, wenn es ihnen nur gelingt durch ihren Einfluß im Staate und in der Gesellschaft den Fanatismus unschädlich zu machen. Diese Gedanken sind besonders in dem Anhang »de duplici Pantheistarum philosophia« niedergelegt. Folgende bezeichnende Stelle aus dem 2. Kapitel dieses Anhangs (Pantheisticon, Cosmopoli 1720, p. 79 u. ff.) möge hier Platz finden: »At cum Superstitio semper eadem sit vigore, etsi rigore aliquando diversa; cumque nemo sapiens eam penitur ex omnium animis evellere, quod nullo pacto fieri potest, incassum tentaverit: faciet tamen pro viribus, quod unice faciendum restat; ut dentibus evulsis et resectis unguibus, non ad lubitum quaquaversum noceat hoc monstrorum omnium pessimum ac perniciosissimum. Viris principibus et politicis hac animi dispositione imbutis, acceptum referri debet, quidquid est ubivis hodie religiosae libertatis, in maximum literarum, commerciorum et civilis concordiae emolumentum. Superstitiosis aut simulatis superum cultoribus, larvatis dico hominibus aut meticulose piis, debentur dissidia, secessiones, mulctae, rapinae, stigmata, incarcerationes, exilia et mortes.«

224

Letters to Serena, London 1704, p. 201. Die das. zitierten Stellen der Principia (p. 7 und p. 162 der 1. Ausg.) finden sich in der Anmerkung zu den vorausgeschickten Erklärungen und im Eingang von Abschnitt 11 des 1. Buches (Übers. von Wolfers, S. 27): »Es kann nämlich sein, daß kein wirklich ruhender Körper existiert,« und S. 166: »Bis jetzt habe ich die Bewegung solcher Körper auseinandergesetzt, welche nach einem unbeweglichen Zentrum hingezogen werden, ein Fall, der kaum in der Natur existiert.«

225

Letters to Serena, p. 100.

226

Letters to Serena, p. 231-233.

227

Vgl. Letters to Serena, p. 234-237. Toland braucht hier gegenüber dem empedokleischen Entstehungsprinzip das, wie es scheint, ernsthaft gemeinte Beispiel, daß man die Entstehung einer Blume oder Fliege aus dem an sich zwecklosen Zusammentreffen der Atome ebensowenig erklären könne, als etwa die Entstehung einer Aeneis oder Ilias aus dem millionenmal wiederholten Zusammenwerfen der Buchdruckerlettern. – Das Argument ist falsch aber plausibel; es gehört unter denselben Punkt der Wahrscheinlichkeitsrechnung, auf dessen totales Mißverständnis von Hartmann seine Philosophie des Unbewußten begründet hat. – Toland huldigt übrigens auch in den wichtigsten übrigen Punkten keineswegs der epikureischen Lehre. Er verwarf die Atome und den leeren Raum und mit ihm zugleich den Begriff eines unabhängig von der Materie bestehenden Raumes überhaupt.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 262-290.
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