III. Die Reaktion gegen Materialismus und Sensualismus. Sokrates, Plato, Aristoteles

[42] Wenn wir diejenigen Erzeugnisse hellenischer Spekulation, welche man als die höchsten und vollkommensten zu betrachten gewohnt ist, unter den Gesichtspunkt einer Reaktion gegen den Materialismus und Sensualismus bringen, so liegt die Gefahr nahe, jene Erzeugnisse zu unterschätzen und mit derselben Bitterkeit zu kritisieren, welche man gewöhnlich gegen den Materialismus richtet. Denn in der Tat haben wir hier, sobald man von allen andern Seiten der großen Krisis absieht, eine Reaktion im schlimmsten Sinne des Wortes vor uns: eine Erhebung des niederen, mit Bewußtsein und guter Geistesarbeit überwundenen Standpunktes über den höheren, eine Verdrängung der Anfänge besserer Einsicht durch Anschauungen, in welchen die alten Irrtümer des unphilosophischen Denkens in neuer Form, mit neuer Pracht und Macht, aber nicht ohne ihren alten verderblichen Charakter wiederkehren.

Der Materialismus leitete die Naturerscheinungen aus unveränderlichen, mit Notwendigkeit wirkenden Gesetzen ab; die Reaktion ließ eine nach menschlichem Bilde geschaffene Vernunft mit der Notwendigkeit markten und durchbrach so die Basis aller Naturforschung durch ein dehnbares Werkzeug der launenhaften Willkür.38

Der Materialismus begriff das Zweckmäßige als die höchste Blüte der Natur, ohne ihm die Einheit seines Erklärungsprinzips zu opfern; die Reaktion kämpfte mit Fanatismus für eine Theologie, welche auch in ihren glänzendsten Formen doch nur den platten Anthropomorphismus verhüllt und deren radikale Beseitigung die unerläßliche Bedingung alles wissenschaftlichen Fortschritts ist.39

Der Materialismus bevorzugte die mathematische und physikalische Forschung, d. h. diejenigen Gebiete, auf welchen der menschliche Geist in der Tat sich zuerst zu Erkenntnissen von bleibendem Werte zu erheben vermag; die Reaktion verwarf die Naturforschung gegenüber der Ethik anfangs ganz und als sie mit Aristoteles das verworfene Gebiet wieder aufnahm, verdarb sie es gründlich durch unbesonnene Einführung ethischer Begriffe.40[42]

Haben wir in diesen Punkten unzweifelhafte Rückschritte vor uns, so sind die Fortschritte, wenigstens diejenigen, in welchen sich der bestimmte Gegensatz der großen athenischen Philosophenschule gegen Materialismus und Sensualismus aussprechen soll, sehr zweifelhafter Natur. Wir verdanken Sokrates das Phantom der Definitionen, welche eine eingebildete Kongruenz von Wort und Sache voraussetzen, Plato die trügerische Methode, welche eine Hypothese durch eine noch allgemeinere stützt und im Abstraktesten die größte Gewißheit findet; wir verdanken Aristoteles das Gaukelspiel von Möglichkeit und Verwirklichung und die Einbildung eines in sich geschlossenen und alles wahre Wissen in sich begreifenden Systems. Daß alle diese Errungenschaften der athenischen Schule, zumal in Deuschland, bis in die Gegenwart hinein fortwirken, unterliegt keinem Zweifel, und insofern ist auch über die historische Bedeutung dieser Schule weiter kein Wort zu verlieren aber war diese historische Bedeutung eine glückliche oder eine unglückliche?

Solange wir, wie gesagt, diese Punkte für sich und in ihrem rein theoretischen Gegensatz gegen den Materialismus betrachten, muß unser Urteil notwendig ein ungünstiges sein, und wir können hier noch einen guten Schritt weiter gehen. Man sagt gewöhnlich, mit Protagoras habe die ältere griechische Philosophie sich selbst aufgelöst und es habe einer durchaus neuen Begründung bedurft, die durch Sokrates und sein Zurückgehen auf die Selbsterkenntnis gegeben wurde. Wir werden gleich sehen, inwieweit diese Anschauung kulturhistorisch berechtigt ist; sie kann sich aber auch nur auf die Betrachtung des Gesamtinhaltes des griechischen Geisteslebens stützen. Die Philosophie, zumal die theoretische, für sich genommen, kann doch wohl nicht durch Erreichung einer richtigen Anschauung aufgehoben werden, um mit dem Irrtum aufs neue von vorn anzufangen. Man könnte freilich auf diesen Gedanken kommen, wenn man z. B. den Übergang von Kant auf Fichte betrachtet; aber alle solche Erscheinungen sind kulturhistorisch zu erklären, da Philosophie im Geistesleben eines gegebenen Volkes niemals isoliert steht. Die Sache rein theoretisch betrachtet, war der Relativismus der Sophisten ein durchaus gesunder Fortschritt in der Erkenntnistheorie und keineswegs das Ende der Philosophie, sondern vielmehr erst der rechte Anfang. Am deutlichsten sehen wir dies in der Ethik; denn gerade die Sophisten, welche scheinbar jede Basis der Sittlichkeit auflösten, gaben sich mit Vorliebe als[43] Lehrer der Tugend und der Staatskunst. An die Stelle eines an sich Guten setzten sie dasjenige, was dem Staate nützt. Wie stark nähert sich dies Prinzip schon der ethischen Grundregel Kants: handle so, daß die Maxime deiner Handlungen zugleich das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnte!

Es ist in der Tat der Schritt vom Einzelnen zum Allgemeinen, welcher hier in richtiger Weise hätte folgen sollen und, abstrakt genommen, auch hätte folgen können, ohne die Errungenschaften des Relativismus und Individualismus der Sophisten aufzugeben. In der Ethik ist dieser Schritt im Grunde schon geschehen, sobald die Tugend, nach Auflösung aller äußerlich gegebenen objektiven Normen, nicht einfach beiseite gesetzt, sondern auf das Prinzip der Erhaltung und Förderung einer menschlichen Gemeinschaft übertragen wird. Die Sophisten betraten diesen Weg noch ohne sich seiner prinzipiellen Bedeutung bewußt zu sein, aber hätte das Bewußtsein sich nicht aus seiner Lehre entwickeln können? Damit war freilich noch nicht auf einmal das Höchste erreicht, aber man hätte sich auf durchaus gesundem und sicherem Boden weiter bewegt.

Sokrates erklärte die Tugend für ein Wissen; ist dies Prinzip, rein theoretisch geprüft, dem Standpunkt der Sophisten gegenüber wirklich ein höheres? Was denn nun eigentlich der objektive Begriff des Guten sei, erfahren wir aus sämtlichen platonischen Dialogen so wenig, wie aus den alchimistischen Schriften, was der Stein der Weisen sei. Will man das Wissen der Tugend in ein Bewußtsein von den richtigen Prinzipien des Handelns umdeuten, so ist es mit der Begründung auf das Wohl aller im Staate sehr wohl vereinbar. Argumentiert man mit dem sokratischen Beispiel des Unmäßigen, der nur sündigt, weil er die bittern Folgen der gegenwärtigen Lust nicht hinlänglich im Bewußtsein hat, so wird kein Sophist leugnen, daß der Mensch, welcher so gebildet ist, daß ihm dies Bewußtsein niemals fehlt, der besser gebildete ist, aber für ihn ist infolgedessen auch rein subjektiv und individualistisch genommen das Bessere das Gute. Er wählt das Bessere nicht durch ein Wissen um den Begriff des Guten, sondern durch einen andern psychischen Zustand im Moment der Wahl, als der Zustand des Unmäßigen. Immerhin hätte sich aus der Betrachtung solcher Beispiele auch hier, für das Individuum, die Notwendigkeit eines allgemeinen, die verschiedenen Zeitmomente zusammenfassenden Begriffes des Guten ergeben können. Einen solchen Begriff besaß[44] ja Demokrit schon! Ein Schüler von Demokrit und Protagaras, der sich, wenn der Ausdruck gestattet ist, von der Philosophie jener Männer aus in der Tangente weiter bewegt hätte, statt den sokratischen Umschwung mitzumachen, hätte ganz wohl zu dem Satz gelangen können: Der Mensch ist das Maß der Dinge; der einzelne Mensch in seinem momentanen Zustande für die einzelne Erscheinung, der Durchschnittsmensch für eine Summe von Erscheinungen.

Protagoras und Prodikus befaßten sich auch schon mit den Anfängen grammatischer und etymologischer Betrachtungen, und wir wissen nicht, wieviel von demjenigen, was wir jetzt Plato und Aristoteles zuschreiben, eigentlich ihr Verdienst ist. Doch es genügt für unsern Zweck, zu wissen, daß die Sophisten schon ihr Augenmerk auf Worte und Wortbedeutungen gerichtet hatten. Nun steht aber das Wort in der Regel da als Zeichen für eine Summe von Empfindungen. Lag es da nicht nahe, auf diesem Wege schon zu einer Lehre von den Allgemeinbegriffen im Sinne des mittelalterlichen Nominalismus zu gelangen? Das Allgemeine wäre dann freilich in einer solchen Lehre nicht realer und gewisser gewesen, als das Besondere, sondern im Gegenteil weiter entfernt vom Objekt und ungewisser, und zwar im direkten Gegensatze zu Plato, um so ungewisser, je allgemeiner.

Wenn endlich die Sophisten unter den menschlichen Handlungen, die doch vom streng individualistischen Standpunkte betrachtet, alle gleich gut sind, zwischen empfehlenswerten und tadelnswerten unterscheiden, und zwar nach einer Norm, die aus dem allgemeinen Leben im Staate genommen wird, hätten sie nicht auch darauf verfallen können, unter den Wahrnehmungen, die an sich alle gleich wahr sind, normale und abnorme nach dem Gesichtspunkte des allgemeinen Denkens zu unterscheiden? Es wäre dann durchaus unangetastet geblieben, daß streng genommen wahr, d. h. gewiß, nur die einzelne Empfindung des einzelnen Individuums ist, aber daneben hätte man eine Wertbestimmung für die verschiedenen Wahrnehmungen nach ihrer Geltung im menschlichen Verkehr erhalten können.

Wollte man nun vollends eine solche Skala des Verkehrswertes auch auf die eben entwickelten allgemeinen Begriffe im nominalistischen Sinne anwenden, so hätte sich fast mit zwingender Notwendigkeit der Begriff der Wahrscheinlichkeit ergeben. So nahe lag hier scheinbar die reifste Frucht des modernen Denkens beim[45] Standpunkt der griechischen Sophisten! Die Bahn der Entwicklung lag anscheinend offen. Warum mußte der große Umschwung eintreten, der die Welt auf Jahrtausende in den Irrweg des platonischen Idealismus leitete?

Die Antwort ist bereits angedeutet. Es gibt keine sich aus sich selbst, sei es in Gegensätzen, sei es in direkter Linie, fortentwickelnde Philosophie, sondern es gibt nur philosophierende Männer, welche mit samt ihren Lehren Kinder ihrer Zeit sind. Ja, der bestechende Schein einer Entwicklung in Gegensätzen, wie Hegel sie annimmt, beruht eben gerade darauf, daß die Gedanken, welche ein Zeitalter beherrschen, oder welche als philosophische Ideen hervortreten, nur einen Teil des geistigen Gesamtlebens der Völker ausmachen, und daß ganz andere Strömungen, manchmal nur um so mächtiger, je weniger sie sich sichtbar an die Oberfläche drängen, daneben sich bewegen, bis auf einmal diese die herrschenden werden und jene zurücktreten.

Schnell ihrem Zeitalter voraneilende Ideen leben sich aus und müssen erst am Kampf mit einer Reaktion wieder erstarken und sich mühsam, aber dann nachhaltiger wieder hervorringen. Wie aber geht das in Wirklichkeit zu? Je schneller die Träger neuer Vorstellungen und Anschauungen die Herrschaft in der öffentlichen Meinung an sich reißen, desto mächtiger wird der Widerstand der überlieferten Vorstellungen in den Köpfen ihrer Zeitgenossen. Eine Zeitlang gleichsam geblendet und übertäubt, rafft sich das Vorurteil bald um so mächtiger empor, um entweder mit äußerer Verfolgung und Unterdrückung, oder mit neuen geistigen Schöpfungen das Unbequeme zu beseitigen und zu überwinden. Sind solche neue geistige Schöpfungen innerlich leer und arm und nur vom Haß gegen den Fortschritt getragen, so können sie nur, wie der Jesuitismus gegenüber der Reformation, im Bunde mit List und Gewalt und gemeiner Unterdrückungssucht ihr Ziel verfolgen; haben sie aber neben ihrer reaktionären Bedeutung einen eignen Lebenskeim, einen Inhalt, der in andrer Beziehung wieder zum Fortschritt führt, so können sie uns oft glänzendere und erfreulichere Erscheinungen darbieten, als das Treiben einer Partei, welche im Besitz neuer Wahrheiten übermütig geworden ist und, wie es nur zu oft geschieht, nach Erringung eines glänzenden Erfolges innerlich erlahmt und zum weiteren gedeihlichen Ausbau des Errungenen untüchtig wird.

Dieser letzteren Art aber war die Situation in Athen, als Sokrates[46] den Sophisten entgegentrat. Wir haben oben gezeigt, wie, abstrakt genommen, der Standpunkt der Sophisten hätte weiter entwickelt werden können, aber wenn wir die treibenden Kräfte nachweisen sollten, welche vielleicht ohne Dazwischenkunft der sokratischen Reaktion solches geleistet hätten, so würden wir in Verlegenheit geraten. Den großen Sophisten war es wohl bei ihren praktischen Erfolgen. Gerade die Schrankenlosigkeit ihres Relativismus, die vage Anerkennung der bürgerlichen Moral ohne Aufstellung eines Prinzips, der geschmeidige Individualismus, der sich überall das Recht herausnimmt, zu negieren oder stehen zu lassen, was ihm für den Augenblick paßt – das waren offenbar ganz vortreffliche Grundlagen für die Bildung »praktischer Staatsmänner« von dem bekannten Schlage, der von der grauen Vorzeit herab bis auf die Gegenwart überall am meisten äußeren Erfolg erzielt hat. Kein Wunder, daß die Sophisten mehr und mehr von der Philosophie zur Politik, von der Dialektik zur Rhetorik übergingen! Ja, wir finden bei Gorgias schon mit gutem Bewußtsein die Philosophie auf die Stufe einer bloßen Vorschule zum praktischen Leben herabgesetzt.

Unter solchen Umständen darf man sich nicht wundern, daß der jüngere Nachwuchs der Sophisten nicht die mindeste Neigung verrät, die Philosophie auf der Basis der von Protagoras errungenen Einsicht fortzuentwickeln und mit Umgehung des transzendenten und mythischen Allgemeinen, welches Plato zur Geltung brachte, direkt zum Standpunkt des modernen Nominalismus und Empirismus vorzudringen. Im Gegenteil zeichneten die jüngeren Sophisten sich nur aus durch dreiste Übertreibung des Willkürprinzips und durch Überbietung ihrer Meister in der Herstellung einer bequemen Theorie für die Machthaber in den griechischen Staaten. Es ging also rückwärts mit dem eigentlich philosophischen Kern in dieser Philosophie: ein Zeichen, daß die ernsteren und tieferen Naturen sich nicht mehr nach dieser Seite gezogen fühlten.

Alles dies trifft nun freilich den ernsten und strengen Materialismus Demokrits nicht in gleichem Maße; doch haben wir gesehen, daß Demokrit keine Schule bildete. Dies lag gewiß nur zum Teil an seiner eigenen Richtung und Neigung, zum Teil aber im Charakter der Zeit. Einmal war der Materialismus mit seinem Glauben an die von Ewigkeit existierenden Atome schon überboten durch den Sensualismus, der kein Ding an sich hinter der Erscheinung mehr gelten ließ. Es hätte aber ein großer Schritt dazu gehört, ein weit[47] größerer, als die oben angenommenen Fortsetzungen der sensualistischen Philosophie, um das Atom als eine notwendige Vorstellungsweise für einen unbekannten Sachverhalt wieder einzuführen und damit der Naturforschung ihre Basis zu erhalten. Sodann schwand in dieser Zeit das Interesse für objektive Forschung überhaupt. In dieser Beziehung kann fast Aristoteles als der eigentliche Nachfolger Demokrits betrachtet werden; freilich ein Nachfolger, der die Resultate benutzt und die Prinzipien, mit welchen sie gewonnen sind, in ihr Gegenteil verkehrt. In der Blütezeit der jungen athenischen Philosophie aber traten die ethischen und logischen Fragen dermaßen in den Vordergrund, daß alles andere darüber vergessen wurde.

Woher dieses einseitige Hervortreten der ethischen und logischen Fragen? Die Antwort hierauf muß uns zugleich zeigen, welches der innerste Lebensnerv war, durch den sich die neue Richtung erhob und dessen Kraft ihr eine höhere und selbständigere Bedeutung gibt, als die einer bloßen Reaktion gegen Materialismus und Sensualismus. Hier läßt sich nun aber Persönliches und Sachliches, Philosophisches und allgemein Kulturhistorisches nicht trennen, wenn man sehen will, warum gewisse philosophische Neuerungen eine so durchgreifende Bedeutung erlangen konnten. – Sokrates war es, der die neue Richtung ins Leben rief; Plato gab ihr das idealistische Gepräge und Aristoteles schuf aus ihr durch Verbindung mit empiristischen Elementen jenes geschlossene System, welches nachmals die Denkweise so vieler Jahrhunderte beherrschte. Der Gegensatz gegen den Materialismus gipfelte in Plato, den hartnäckigsten Widerstand gegen materialistische Anschauungen leistete das aristotelische System, aber den Angriff eröffnete einer der merkwürdigsten Männer, deren die Geschichte gedenkt, ein Charakter von seltner Bestimmtheit und Größe: der Athener Sokrates. Alle Schilderungen zeigen uns Sokrates als einen Mann von großer physischer und geistiger Kraft: eine derbe, zähe Natur, streng gegen sich selbst und bedürfnislos, mutig im Kampf, ausdauernd in Strapazen und, wenn es sein mußte, auch im geselligen Trinkgelage, so mäßig er auch sonst lebte. Seine Selbstbeherrschung war nicht die Seelenruhe einer Natur, in der es nichts zu beherrschen gibt, sondern das Übergewicht eines großen Geistes über eine kräftige Sinnlichkeit und ein leidenschaftliches Temperament.41 Seine Gedanken und Bestrebungen konzentrierten sich auf wenige, aber bedeutungsvolle Punkte, und die ganze verborgne Glut seines Innern[48] trat in den Dienst dieser Gedanken und Bestrebungen. Der Ernst, welcher in ihm arbeitete, das Feuer, welches in ihm gärte, gab seiner Rede eine wundersame Gewalt. Vor ihm allein unter allen Menschen konnte Alcibiades sich schämen; die Gewalt seiner schmucklosen Rede preßte empfänglichen Gemütern Tränen aus.42 Es war eine Apostelnatur, brennend vor Verlangen, das Feuer, das in ihm lebte, auf seine Mitbürger, auf die Jugend vor allem zu übertragen. Sein Werk war ihm selbst ein heiliges Werk und hinter der schalkhaften Ironie, welche seiner Dialektik eigen war, lauerte die gespannte Kraft eines Geistes, der nichts andres kannte und schätzte, als die Ideen, von welchen er ergriffen war.

Athen war eine fromme Stadt, und Sokrates war ein Mann aus dem Volke. So aufgeklärt er war, so blieb doch seine Weltanschauung eine entschieden religiöse. Die teleologische Auffassung der Natur, an welcher er mit Eifer, um nicht zu sagen mit Fanatismus, festhielt, war ihm nur ein Beweis für das Dasein und die Wirksamkeit der Götter, wie denn in Wahrheit das Bedürfnis, die Götter nach menschlicher Weise schaffen und walten zu sehen, wohl die Hauptquelle aller Teleologie genannt werden darf.43

Daß gerade ein solcher Mann wegen Gottlosigkeit hingerichtet werden konnte, darf uns nicht zu sehr in Verwunderung setzen. Zu allen Zeiten waren es die gläubigen Reformatoren, welche gekreuzigt und verbrannt wurden, nicht die weltmännischen Freigeister; und reformatorisch wirkte Sokrates allerdings auch auf religiösem Gebiete. Der ganze Zug der Zeit ging damals auf Läuterung der Religionsvorstellungen; nicht nur bei den Philosophen, auch bei den einflußreichsten Priesterschaften Griechenlands scheint die Neigung gewaltet zu haben, die Götter bei aller Beibehaltung des Mythus für die gläubige Menge, geistiger zu fassen, die bunte Mannigfaltigkeit lokaler Kulte nach innerer Verwandtschaft der theologischen Grundidee zu ordnen und zu einigen, und nationalen Hauptgöttern, wie dem olympischen Zeus und vor allem dem delphischen Apollo möglichst allgemeine Geltung zu verschaffen.44 Diesen Bestrebungen konnte die Art, wie Sokrates die religiösen Dinge anfaßte, bis zu einem gewissen Punkte willkommen sein, und es ist noch die Frage, ob nicht der seltsame Spruch des Orakels zu Delphi, welcher Sokrates für den weisesten der Hellenen erklärte, als eine versteckte Billigung seines gläubigen Rationalismus aufzufassen ist. Gerade ein solcher Mann aber konnte beim Volke um so leichter als Feind der Religion denunziert werden, je mehr er[49] gewohnt war, offen, und mit der ausgesprochenen Absicht auf seine Mitbürger zu wirken, die verfänglichsten Gegenstände zu besprechen. Dieser religiöse Ernst des großen Mannes bestimmte denn auch sein Tun und Lassen im Leben und beim Tode in einem Maße, welches der Person fast eine höhere Bedeutung gibt, als der Lehre und welches ganz geeignet war, seine Schüler in Jünger zu verwandeln, die das Feuer dieser hohen Begeisterung weiter zu verbreiten bestrebt waren. Die Art, wie Sokrates, seinem Pflichtgefühl folgend, als Prytane dem leidenschaftlich erregten Volke trotzte, wie er den dreißig Tyrannen den Gehorsam versagte45 und wie er nach seiner Verurteilung sich weigerte zu fliehen und, treu dem Gesetze, dem Tode voll Seelenruhe entgegen ging, ist ein deutliches Zeichen dafür, daß bei ihm Lehre und Leben vollkommen in eins geflossen waren.

Man hat neuerdings geglaubt, die philosophische Bedeutung des Sokrates durch den Nachweis erklären zu müssen, daß er nichts weniger als bloßer Morallehrer gewesen sei, sondern daß er durch bestimmte einzelne Neuerungen sehr wesentlich in die Entwicklung der Philosophie eingegriffen habe. Es ist dagegen nichts einzuwenden, nur wünschen wir zu zeigen, wie diese sämtlichen Neuerungen mit ihren Licht- und Schattenseiten zugleich ihre Wurzel haben in dem theologischen und ethischen Grundgedanken, von welchem Sokrates in allem seinem Tun und Lassen geleitet wird.

Wenn man zunächst fragt, wie Sokrates dazu kam, die Spekulationen über das Wesen der Dinge aufzugeben und statt dessen das sittliche Wesen des Menschen zum Hauptgegenstande seiner Philosophie zu machen, so erhalten wir von ihm selbst und seinen Schülern darüber die Auskunft, daß er sich in jüngeren Jahren auch mit Physik beschäftigt habe; es sei ihm aber alles auf diesem Gebiete so unsicher erschienen, daß er diese Art der Forschung als unnütz verworfen habe. Weit wichtiger sei es für ihn, nach dem delphischen Spruche, sich selbst zu erkennen: Zweck dieses Strebens nach Selbsterkenntnis ist aber, so gut als möglich zu werden.

Es mag dahingestellt bleiben, ob Sokrates wirklich einmal, wie es zu der satirischen Darstellung des Aristophanes stimmen würde, mit Eifer physikalische Untersuchungen getrieben habe oder nicht. In der Periode seines Lebens, die wir aus Plato und Xenophon kennen, war davon keine Rede mehr; dagegen wissen wir aus Plato, daß Sokrates viele Schriften älterer Philosophen gelesen hat,[50] ohne bei ihnen Befriedigung zu finden. So las Sokrates auch einmal den Anaxagoras, und als er fand, daß dieser die Weltschöpfung auf die »Vernunft« zurückführte, da freute sich Sokrates ungemein, denn er dachte, nun würde Anaxagoras auch für alle Einrichtungen der Schöpfung den Vernunftgrund nachweisen und z. B. zeigen, wenn die Erde scheibenförmig sei, warum es so am besten sei, wenn sie in der Mitte des Universums sei, warum es so sein müsse usw. Statt dessen fand er sich gewaltig enttäuscht, als Anaxagoras nur von den natürlichen Ursachen sprach. Das sei, wie wenn jemand sagen wolle, warum Sokrates hier sitzt und wenn er dann anfinge, das Sitzen nach den Regeln der Anatomie und Physiologie zu erklären, statt von der Verurteilung zu reden, die ihn hierher geführt und dem Gedanken, der ihn veranlaßt habe, sich hier niederzusetzen und mit Verschmähung der Flucht sein Schicksal abzuwarten.46

Man sieht an diesem Beispiel, wie Sokrates mit einer vorgefaßten Ansicht an das Studium solcher Schriften heranging. Was bei ihm völlig feststeht, ist, daß die Vernunft, welche das Weltgebäude geschaffen hat, nach Art der menschlichen Vernunft verfährt, daß wir ihren Gedanken überall folgen können, wenn wir ihr auch eine unendliche Überlegenheit zuschreiben. Die Welt wird vom Menschen aus erklärt; nicht der Mensch aus den allgemeinen Naturgesetzen. In den Naturvorgängen wird daher von vornherein jener Gegensatz zwischen Gedanken und Handlungen, Plan und materieller Ausführung vorausgesetzt, den wir in unserm Bewußtsein vorfinden. Allenthalben haben wir ein menschenähnliches Tun. Ein Plan, ein Zweck muß zuerst vorhanden sein, dann der Stoff und die Kraft, ihn in Bewegung zu setzen. Man sieht hier, wie sehr im Grunde noch Aristoteles mit seinem Gegensatz von Form und Stoff und mit der Beherrschung der wirkenden Ursachen durch den Zweck Sokratiker war. Ohne die Physik je zu behandeln, hat ihr doch im Grunde schon Sokrates die Bahnen vorgeschrieben, in welchen sie nachmals mit so zäher Beharrlichkeit wandeln sollte! Das eigentliche Prinzip dieser Weltanschauung aber ist das theologische. Der Baumeister der Welten muß eine Person sein, welche der Mensch fassen und sich vorstellen, wenn auch nicht in allen ihren Handlungen begreifen kann. Selbst der scheinbar unpersönliche Ausdruck, »die Vernunft« habe alles dies getan, erhält sofort sein religiöses Gepräge durch den unbedingten Anthropomorphismus, mit welchem die Arbeit dieser Vernunft betrachtet wird.[51] Daher finden wir auch beim platonischen Sokrates – und dieser Zug dürfte echt sein – die Ausdrücke »Vernunft« und »Gott« oft ganz synonym gebraucht.

Das Sokrates in seiner Auffassung dieser Dinge auf wesentlich monotheistischen Anschauungen fußt, darf uns nicht wundern, es lag ganz in der Zeit. Zwar tritt dieser Monotheismus nirgend dogmatisch hervor; im Gegenteil: die Mehrheit der Götter wird ausdrücklich festgehalten, aber das Übergewicht des Gottes, der als Schöpfer und Erhalter der Welt gedacht wird, drückt die andern zu Wesen eines tieferen Ranges herab, die bei manchen Spekulationen ganz außer Betracht bleiben können.

So dürfen wir vielleicht gar annehmen, daß die Ungewissheit der physikalischen Spekulationen, welche Sokrates beklagt, nichts anderes war, als die gar zu offen daliegende Unmöglichkeit, jene Vernunftgründe, welche er bei Anaxagoras vergebens gesucht hatte, für den ganzen Bau der Welten durchzuführen; denn die wirkenden Ursachen sind für Sokrates überall, wo er sie berührt, von vornherein etwas höchst Gleichgültiges und Unbedeutendes: sehr begreiflich, wenn sie nicht als allgemeine Naturgesetze, sondern als bloße Werkzeuge einer persönlich denkenden und schaffenden Vernunft aufgefaßt werden. Je erhabener und mächtiger diese gedacht wird, desto gleichgültiger und bedeutungsloser wird das Werkzeug, daher Sokrates nicht verächtlich genug von der Forschung nach äußeren Ursachen glaubt reden zu können.

Man sieht hier, wie im Grund sogar die Lehre von der Identität von Denken und Sein eine theologische Wurzel hat, denn sie setzt voraus, daß die Vernunft einer Weltseele oder eines Gottes, und zwar eine Vernunft, welche von der menschlichen nur gradweise verschieden ist, alles so gedacht und und gefügt habe, wie wir es wieder denken können und bei streng richtigem Vernunftgebrauch sogar wieder denken müssen.

Die religiöse Richtung, welche Sokrates einschlug, kann mit dem Rationalismus der neueren Zeit verglichen werden. Zwar will Sokrates die herkömmlichen Formen der Gottesverehrung beibehalten, allein er leiht ihnen überall einen tieferen Inhalt; so z. B. wenn er verlangt, man solle nicht um bestimmte Güter beten, sondern vielmehr nur das Gute von den Göttern verlangen, da diese selbst am besten wissen, was uns gut ist. Diese Lehre scheint ebenso harmlos als verständig, solange man nicht bedenkt, wie tief im hellenischen Glauben das Gebet und bestimmte Güter mit dem ganzen[52] Wesen bestimmter Götter verschmolzen war. Die Götter des Volksglaubens wurden so bei Sokrates nur Stellvertreter eines reineren Glaubens. Die Einheit des Kultus zwischen dem Volk und den Aufgeklärten wurde gewahrt, aber mittels einer Umdeutung des Überlieferten, die wir wohl rationalistisch nennen dürfen. Daß Sokrates die Orakel empfiehlt, ist mit dieser Richtung wohl vereinbar, denn warum sollte die Gottheit, welche bis in das kleinste hinein auf den Nutzen des Menschen bedacht gewesen ist, nicht auch in Verkehr mit ihm treten und ihm Ratschläge zukommen lassen? Ist doch auch in der neueren Kulturgeschichte, sowohl in England als auch namentlich in Deutschland, eine Richtung einflußreich hervorgetreten, welche gerade aus Eifer für die Herstellung der Religion und ihres Einflusses reinere Glaubensvorstellungen verbreiten zu müssen glaubte und deren Grundtendenz also bei allem Rationalismus eine positive war! Gerade der Eifer gegen den Materialismus und die Sorge um Erhaltung der idealen Güter des Glaubens an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit war wohl nirgend größer, als bei Männern dieser Richtung. So will auch Sokrates, der unter dem doppelten Einfluß der zersetzenden Kultur und der Liebe zum idealen Gehalt des Glaubens steht, den letzteren vor allen Dingen retten. Der konservative Zug, welcher sein ganzes Wesen durchzieht, hindert ihn ja auch auf dem Gebiete der Politik nicht, zu sehr radikalen Neuerungen zu greifen, um das Innerste und Edelste des Staatswesens, den lebendigen Gemeinsinn, dauernd vor den Fluten des überhandnehmenden Individualismus zu sichern!

Lewes, der uns in mancher Beziehung ein vortreffliches Bild von Sokrates gibt, möchte aus seiner Lehre, daß die Tugend ein Wissen, den Beweis führen, daß Philosophie und nicht Sittlichkeit seine eigentliche Lebensaufgabe war Diese Unterscheidung führt zu Mißverständnissen. Ein bloßer »Moralist« war Sokrates jedenfalls nicht, wenn man darunter einen Mann versteht, der ohne Rücksicht auf die tiefere Begründung seiner Lehren nur darauf ausgeht, sich und andere moralischer zu machen. Wohl aber war seine Philosophie ihrem innersten Wesen nach Moralphilosophie und zwar Moralphilosophie auf einem religiösen Grunde. Hier liegt die Triebfeder alles seines Tuns und Lassens, und in der Eigentümlichkeit seines religiösen Standpunktes liegt die Voraussetzung der Verständlichkeit und Lehrbarkeit des Sittlichen von Anfang an eingeschlossen. Daß Sokrates weiter ging und nicht nur Verständlichkeit des Sittlichen behauptete, sondern die praktische Tugend mit[53] dem theoretischen Verständnis des Sittlichen identifizierte, ist eine persönliche Auffassung des Verhältnisses und auch hier dürften sich religiöse Einflüsse nachweisen lassen.

Der delphische Gott, der doch vorzüglich ein Gott der sittlichen Erhebung war, rief dem Menschen durch die Inschrift an seinem Tempel zu: »Erkenne dich selbst«. Dies Wort wurde für Sokrates in doppelter Hinsicht zum Wegweiser seiner philosophischen Laufhahn: einmal im Anbau der Geisteswissenschaft statt der anscheinend fruchtlosen Naturwissenschaft; sodann aber in dem Prinzip, die sittliche Veredlung auf dem Wege der Erkenntnis zu erstreben.

Der Relativismus der Sophisten mußte einem Manne von dieser Geistesrichtung von Hause aus verhaßt sein. Das religiöse Gemüt verlangt seine festen Punkte, zumal in allem, was Gott, die Seele und die Richtschnur des Lebens betrifft. Für Sokrates ist es daher ein Axiom, daß es ein ethisches Wissen geben muß. Der Relativismus, der es verflüchtigt, stützt sich auf das Recht des individuellen Eindrucks. Diesem gegenüber muß also vor allen Dingen das Allgemeine und das Allgemeingültige festgestellt werden.

Wir haben oben gesehen, wie auch vom Relativismus aus, ohne prinzipielle Umkehr, der Schritt zum Allgemeinen hätte geschehen können. Das Allgemeine wäre aber dann von vornherein streng nominalistisch gefaßt worden. Das Wissen hätte sich auf diesem Boden ins Unendliche ausdehnen können, ohne sich jemals über Empirie und Wahrscheinlichkeit zu erheben. Es ist interessant zu beobachten, wie der platonische Sokrates da, wo er den Relativismus des Protagoras bekämpft, oft ganz so anfängt, wie ein echter Schüler der Sophisten hätte anfangen müssen, der den Schritt zur Betrachtung des Allgemeinen wagen wollte. Aber niemals bleibt die Debatte dabei stehen; stets schießt sie über das nächste Ziel hinaus, um das Allgemeine in jenem transzendenten Sinne zu fassen, in welchem Plato es in die Wissenschaft eingefürt hat. Ohne Zweifel hat hier schon Sokrates selbst den Grund gelegt. Wenn der platonische Sokrates z. B. (im Kratylus) beweist, daß die Wörter nicht durch bloße Übereinkunft den Dingen beigelegt seien, sondern daß sie der inneren Natur der Sache entsprechen, so ist in dieser Natur der Dinge schon im Keime jenes »Wesen« enthalten, welches Plato später so hoch über die Einzeldinge erhob, daß diese zum bloßen Scheine herabgedrückt wurden.

Aristoteles führt auf Sokrates zwei wesentliche methodische[54] Neuerungen zurück: den Gebrauch der Definitionen und die Induktion. Beide Mittel der Dialektik drehen sich um die allgemeinen Begriffe, und die Disputierkunst, in welcher Sokrates Meister war, bestand hauptsächlich im gewandten und sichern Hinüberführen des einzelnen Falls auf ein Allgemeines und Benutzung des allgemeinen, um auf das Einzelne zurückzuschließen. Gerade hier finden sich nun freilich in den platonischen Dialogen die logischen Sprünge, die Erschleichungen und Sophismen aller Art massenweise auf seiten des stets siegreichen Sokrates. Er spielt oft mit seinen Gegnern, wie die Katze mit der Maus, lockt sie in weitgehende Zugeständnisse, um gleich nachher selbst zu zeigen, daß die Argumentation einen Fehler hatte; aber kaum ist dieser verbessert, so wird der Gegner wieder in einer Schlinge gefangen, die im Grunde um nichts stärker ist, als die erste.

Ohne Zweifel ist hier das allgemeine Verfahren echt sokratisch, wenn auch die besondern Argumente meist platonisch sind. Auch wird man zugeben, daß diese sophistische Art, die Sophisten zu bekämpfen, im Gespräch, im unmittelbaren Ringkampf des Wortes, wo Mann gegen Mann seine geistige Kraft erprobt, weit erträglicher ist, als in der kühlen literarischen Behandlung, die, wenigstens nach unsern Begriffen, mit einem viel strengeren Maßstab der Stichhaltigkeit ihrer Beweise gemessen werden muß.

Sokrates hat schwerlich jemals seine Gegner mit Bewußtsein getäuscht und bloß überlistet, statt sie gründlich zu widerlegen. Es ist der feste Glaube an die eignen Fundamentalsätze, der ihn gegen die eignen Fehler der Argumentation blind macht, während er den kleinsten Fehler des Gegners blitzschnell entdeckt und mit der Kraft des geübten Ringers benutzt. Wenn wir aber Sokrates keinerlei Unredlichkeit im Disput zuschreiben können, so ist doch die Verwechslung der Überwindung des Gegners mit der Widerlegung seiner Meinung auch ihm eigen, wie übrigens schon seinen Vorgängern und der ganzen griechischen Dialektik von ihren ersten Anfängen an. Das Bild des geistigen Ringkampfes, oder, wie wir es namentlich bei Aristoteles finden, des Streites zweier Parteien vor Gericht, drängt sich überall vor; der Gedanke erscheint an die Person gebunden, und die anschauliche Plastik des Disputes ersetzt die ruhige und allseitige Analyse.

Dabei ist die sokratische »Ironie«, mit welcher er sich unwissend stellt und vom Gegner Belehrung verlangt, oft nur eine schwache Hilfe für einen Dogmatismus, der stets bereit ist, bei der geringsten[55] Verlegenheit harmlos und scheinbar nur versuchsweise eine fertige Ansicht unterzuschieben und unvermerkt zur Anerkennung zu bringen. Dieser Dogmatismus hat aber nur sehr wenige und einfache Dogmen, die immer wiederkehren: die Tugend ist ein Wissen; der Gerechte allein ist wahrhaft glücklich; Selbsterkenntnis ist die höchste Aufgabe des Menschen; sich selbst zu bessern ist wichtiger als alle Sorge für äußere Dinge usw.

In Beziehung auf den eigentlichen Inhalt der Selbsterkenntnis und der Tugendlehre bleibt Sokrates ein ewig Suchender. Er sucht mit der Kraft eines gläubigen Gemütes, aber er wagt nicht, bestimmte Resultate festzustellen. Sein definierendes Verfahren führt ungleich häufiger zum bloßen Postulat einer Definition, zur Darlegung der Idee dessen, das man wissen sollte, und worin die Entscheidung liege, als zur wirklichen Aufstellung der Definition. Kommt es zu dem Punkte, wo etwas mehr gegeben werden sollte, so erscheint entweder ein bloßer Versuch, oder das bekannte sokratische Nichtwissen. Er begnügt sich scheinbar mit der Negation der Negation und entspricht dem Orakel, das ihn für den weisesten der Hellenen erklärt, indem er sein eignes Nichtwissen einsieht, während die andern nicht einmal das wissen, daß sie unwissend sind. Dieses scheinbar rein negative Resultat ist aber von Skepsis himmelweit verschieden, denn während der Skeptiker die Möglichkeit des sichern Wissens selbst hinwegnimmt, ist für Sokrates gerade der Gedanke, daß es ein solches geben müsse, der Leitstern seines ganzen Strebens. Er begnügt sich aber, dem echten Wissen Platz zu machen durch Zerstörung des Scheinwissens und durch Aufstellung und Übung einer Methode, welche fähig sein soll, das echte Wissen vom Scheinwissen zu unterscheiden. Kritik im Gegensatze zur Skepsis ist also die Aufgabe dieser Methode und in der Hervorhebung der Kritik als Werkzeug der Wissenschaft liegt jedenfalls eine Errungenschaft seiner Tätigkeit von bleibendem Werte. Seine Hauptbedeutung für die Geschichte der Philosophie liegt aber doch wohl nicht hier, sondern in seinem Glauben an das Wissen und an den Gegenstand desselben: das allgemeine Wesen der Dinge, den ruhenden Pol in der Flucht der Erscheinungen. Schoß dieser Glaube auch weit über sein Ziel hinaus, so kam es doch auf diesem Wege zu dem unerläßlichen Schritte, den der ermattende Relativismus und Materialismus nicht mehr zu tun vermochte; zur Behandlung des Allgemeinen in seinem Verhältnisse zum Individuellen, der Begriffe im Gegensatz zur bloßen Wahrnehmung.[56] Das Unkraut des platonischen Idealismus ging mit dem Weizen auf, aber das Feld war doch wieder bestellt. Von starker Hand gepflügt trug der Acker der Philosophie wieder hundertfältige Frucht, während er eben noch schien veröden zu wollen.

Unter allen Sokratikern war Plato derjenige, welcher am tiefsten von jener religiösen Glut ergriffen war, die von Sokrates ausging, und Plato war es auch, der die Gedanken des Meisters am reinsten, aber auch am einseitigsten weiter bildete. Vor allen Dingen sind es die Irrtümer, welche in der sokratischen Weltanschauung begründet liegen, die nun bei Plato eine mächtige, Jahrtausende dominierende Entwicklung gewinnen. Diese platonischen Irrtümer aber sind durch ihren tiefen Gegensatz gegen jede von der Erfahrung ausgehende Weltanschauung für uns von vorzüglicher Wichtigkeit. Sie sind zugleich welthistorische Irrtümer gleich denen des Materialismus, denn wenn sie auch nicht durch so unmittelbare Anknüpfungspunkte mit der Natur unsers Denkvermögens verbunden sind, wie der Materialismus, so beruhen sie doch nur um so sicherer auf der breiten Basis unsrer gesamten psychischen Organisation. Beide Weltanschauungen sind notwendige Durchgangspunkte des menschlichen Denkens, und wenn auch der Materialismus gegenüber dem Platonismus in allen einzelnen Fragen stets recht behält, so steht doch das Gesamtbild der Welt, welches der letztere gibt, der unbekannten Wahrheit vielleicht näher; auf alle Fälle hat es tiefere Beziehungen zum Gemütsleben, zur Kunst und zur sittlichen Aufgabe der Menschheit. So edel aber auch diese Beziehungen sein mögen, so wohltätig durch sie der Platonismus in manchen Epochen auf die Gesamtentwicklung der Menschheit gewirkt hat, so bleibt doch nichtsdestoweniger die Aufgabe unerläßlich, die Irrtümer des Platonismus unbekümmert um seine erhabnen Seiten ganz und gründlich aufzudecken.

Vorab ein Wort über Platos allgemeine Geistesrichtung. Wir nannten ihn den reinsten Sokratiker und wir sahen in Sokrates einen Rationalisten. Dazu stimmt die weit verbreitete Ansicht wenig, welche Plato für einen Mystiker und poesievollen Schwärmer hält; aber diese Ansicht ist auch grundfalsch. Lewes, der diesem Vorurteil mit besondrer Schärfe entgegentritt, charakterisiert ihn mit folgenden Worten: »In seiner Jugend schrieb er Poesie; in seinem reifen Alter schrieb er heftig gegen sie. In seinen Dialogen erscheint er nichts weniger als träumerisch, nichts weniger als idealistisch, wie der Ausdruck gewöhnlich verstanden wird. Er ist ein eingefleischter[57] Dialektiker, ein strenger abstrakter Denker und ein großer Sophist. Seine Metaphysik ist von einer so abstrakten und spitzfindigen Art, daß sie nur die entschiedensten Gelehrten nicht abschreckt. Seine Ansichten über Sittlichkeit und Politik sind weit davon entfernt, eine romantische Färbung zu haben, sie sind vielmehr das Äußerste von logischer Strenge; hart, ohne Kompromiß über menschliches Maß hinaus. Er hatte menschliche Leidenschaft als eine Krankheit, menschliche Lust als etwas Nichtsnutziges ansehen lernen. Das einzige, was des Strebens wert sei, wäre die Wahrheit, Dialektik die edelste Übung für die Menschheit.«47

Bei alledem läßt sich nicht leugnen, daß der Platonismus historisch oft genug mit Schwärmerei verbunden erscheint und daß selbst die weit abschweifenden neuplatonischen Systeme doch in Platos Lehre eine Stütze finden; ja schon unter den nächsten Nachfolgern des großen Meisters fanden sich solche, welche als Mystiker bezeichnet werden dürfen und die pythagoreischen Elemente, welche sie mit den Überlieferungen Platos verbanden, finden in diesen Überlieferungen selbst passende Anhaltspunkte. Daneben haben wir freilich die überaus nüchterne »mittlere Akademie«, welche auf denselben Plato zurückging und für deren Wahrscheinlichkeitslehre sich auch bei Plato die Anfänge nachweisen lassen.

Die Sache ist die, daß bei Plato der sokratische Rationalismus sich überstürzt und in dem Bestreben, das Gebiet der Vernunft recht hoch über die Sinnlichkeit zu erheben, so weit ging, daß ein Rückfall in die mythischen Formen nicht ausbleiben konnte. Plato verstieg sich in ein Gebiet, für welches dem Menschen weder Sprache noch Vorstellungsvermögen gegeben ist. Er sah sich hier zum bildlichen Ausdruck gezwungen, allein sein System ist der sprechende Beweis dafür, daß der bildliche Ausdruck für schlechthin Übersinnliches ein Unding ist und daß der Versuch, auf dieser Leiter in unmögliche Höhen der Abstraktion emporzusteigen, sich einfach dadurch rächt, daß das Bild den Gedanken beherrscht und zu Konsequenzen fortreißt, bei welchen alle logische Konsequenz unter dem Zauber sinnlicher Ideenassoziation zugrunde geht.48

Plato war, bevor er sich Sokrates anschloß, in die Philosophie Heraklits eingeführt worden und hatte also gelernt, daß es ein ruhiges beharrendes Sein gar nicht gebe, daß alle Dinge sich beständig im Fluß befinden. Als er nun in den sokratischen Definitionen und in dem allgemeinen Wesen der Dinge, welches durch diese Definitionen ausgedrückt wird, etwas Beharrendes zu finden glaubte, da[58] verband er diese Lehre mit einem heraklitischen Element in der Weise, daß er dem Allgemeinen allein wahres Sein und davon unzertrennlich ruhiges Beharren zuschrieb; die Einzeldinge dagegen sind eigentlich gar nicht, sondern sie werden bloß. Die Erscheinungen fließen wesenlos dahin, das Sein ist ewig.

Heutzutage wissen wir, daß man nur abstrakte selbstgeschaffene Begriffe definieren kann, wie sie der Mathematiker braucht, um sich der quantitativen Beschaffenheit der Dinge ins Unendliche nähern zu können, ohne sie jedoch jemals mit seinen Formeln zu erschöpfen. Jeder Versuch Dinge zu definieren schlägt fehl; man kann den Sprachgebrauch eines Wortes willkürlich fixieren, aber wenn dies Wort eine Klasse von Gegenständen nach ihrem gemeinsamen Wesen bezeichnen soll, so zeigt sich stets früher oder später, daß die Dinge anders zusammengehören und andre maßgebende Eigenschaften haben, als ursprünglich angenommen wurde. Die alte Definition wird unbrauchbar und muß durch eine neue ersetzt werden, die ihrerseits durchaus nicht mehr Anspruch auf ewigen Bestand hat, als die erste. Keine Definition eines Fixsterns kann diesen verhindern, sich zu bewegen, keine Definition vermag zwischen Meteoren und anderen Himmelskörpern eine ewige Grenze zu ziehen. So oft die Forschung einen großen Schritt weiter rückt, müssen die Definitionen weichen und die Einzeldinge richten sich nicht nach unsern allgemeinen Begriffen, sondern diese müssen sich nach den Einzeldingen richten, welche unsrer Wahrnehmung begegnen.

Plato bildete die von Sokrates übernommenen Elemente der Logik weiter. Bei ihm finden wir zuerst eine klare Vorstellung von Gattungen und Arten, von Beiordnung und Überordnung der Begriffe und mit Vorliebe wendet er diese neue Errungenschaft an, um durch Einteilungen Licht und Ordnung in den Gegenstand der Verhandlung zu bringen. Gewiß war das ein großer und wichtiger Fortschritt, aber auch dieser trat alsbald in den Dienst eines ebenso großen Irrtums. Es entstand jene Hierarchie der Begriffe, in welcher je der inhaltleerste am höchsten gestellt wurde. Die Abstraktion wurde die Himmelsleiter, auf welcher der Philosoph zur Gewißheit emporstieg. Je weiter von den Tatsachen, desto näher glaubte er der Wahrheit zu sein.

Indem aber Plato die allgemeinen Begriffe als das Beharrliche der zerfließenden Erscheinungswelt gegenüberstellte, sah er sich ferner zu dem verhängnisvollen Schritte gedrängt, das Allgemeine[59] von dem Einzelnen zu trennen und ihm eine gesonderte Existenz zuzuschreiben. Das Schöne ist nicht nur in den schönen Dingen das Gute nicht nur in guten Menschen, sondern das Schone, das Gute, ganz abstrakt genommen, ist ein für sich bestehendes Wesen. Es würde uns zu weit führen, hier die platonische Ideenlehre eingehend zu behandeln; für unsern Zweck genügt es, ihre Grundlagen nachzuweisen und zu sehen, wie aus diesen Grundlagen jene Geistesrichtung erwuchs, welche sich vermeintlich so hoch über die gemeine Empirie erhob und welche doch in allen Punkten der Empirie wieder weichen muß, wo immer es sich um den positiven Fortschritt der Wissenschaft handelt.

Klar ist so viel, daß wir des Allgemeinen und der Abstraktion bedürfen, um zum Wissen zu gelangen. Selbst die einzelne Tatsache muß, um Gegenstand des Wissens zu sein, über den Individualismus des Protagoras erhoben werden durch Annahme und Nachweis einer normalen Wahrnehmung, d. h. der allgemeinen gegenüber der individuellen, der durchschnittlichen gegenüber den Schwankungen. Damit beginnt aber dann auch schon das Wissen sich über bloßes Meinen zu erheben, bevor es sich noch irgend auf eine gesonderte und gleichartige Klasse von Gegenständen bezieht. Wir bedürfen aber ferner, und auch dies schon vor der genauen Erkenntnis ganzer Klassen, der allgemeinen Ausdrücke, um unser Wissen zu fixieren und mitteilen zu können, aus dem einfachen Grunde, weil keine Sprache ausreichen würde, alles individuell zu bezeichnen und weil in einer Sprache, welche dies täte, keine Verständigung, kein gemeinsames Wissen und Festhalten einer solchen Unendlichkeit von Wortbedeutungen möglich wäre. Hierüber ist zwar erst durch Locke ein klares Licht verbreitet worden aber man darf nie vergessen, daß Locke, solange nach Plato er auch gelebt hat, doch noch mitten in dem großen Prozesse steht, durch welchen die Neuzeit sich von der platonisch-aristotelischen Weltanschauung emanzipierte.

Durch die Wörter ließen Sokrates, Plato und Aristoteles, gleich ihrem ganzen Zeltalter, sich täuschen. Wir haben ja gesehen, wie schon Sokrates glaubte, jedes Wort müsse ursprünglich auch das Wesen der Sache bezeichnen; das allgemeine Wort also auch das Wesen der betreffenden Klasse von Gegenständen. Wo also ein Wort war, wurde ein Wesen vorausgesetzt. Gerechtigkeit, Wahrheit, Schönheit mußte doch »etwas« bedeuten, es mußte also Wesen geben, welche diesen Ausdrücken entsprechen.[60]

Aristoteles hebt hervor, daß erst Plato das allgemeine Wesen der Dinge von den Individuen getrennt habe; Sokrates habe dies noch nicht getan. Aber Sokrates hatte auch noch nicht jene eigentümliche Lehre des Aristoteles vom Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen, die wir gleich noch werden zu betrachten haben. Wohl aber lehrte schon Sokrates, daß unser Wissen auf das Allgemeine sich bezieht und das ist etwas ganz andres als die oben erörterte Unentbehrlichkeit der Allgemeinbegriffe für das Wissen. Der Tugendhafte ist nach Sokrates derjenige, welcher weiß, was fromm oder gottlos, was edel oder schändlich, was gerecht oder ungerecht ist; aber dabei hatte er stets die Definition im Auge, welche er unablässig suchte. Das allgemeine Wesen des Gerechten, des Edlen, nicht was im einzelnen Falle gerecht und edel ist, wird gesucht. Aus dem Allgemeinen soll sich das Einzelne ergeben, nicht umgekehrt; denn die Induktion dient ihm nur, um auf das Allgemeine hinzuführen, es dem Geiste bemerklich zu machen, nicht aber das Allgemeine auf die Summe der einzelnen Fälle zu begründen. Von diesem Standpunkte aus war es nur konsequent, das Allgemeine zunächst auch für sich bestehen zu lassen, weil es nur dadurch die volle Selbständigkeit zu gewinnen schien. Erst später konnte dann der Versuch gemacht werden, dem Allgemeinen eine immanente und dennoch prinzipiell selbständige Stellung zu den Einzelwesen anzuweisen. Es soll aber damit nicht außer acht gelassen werden, daß die heraklitische Grundlage in der Bildung Platos sehr wesentlich dazu beitrug, diese Trennung des Allgemeinen von den Einzelwesen durchzuführen.

Man muß sich nun aber wohl vergegenwärtigen, daß aus dem widersinnigen Anfang von vornherein auch nur widersinnige Folgerungen entstehen konnten. Das Wort ist zur Sache erhoben, aber zu einer Sache, welche mit keiner andern irgendeine Ähnlichkeit hat, welcher nach der Natur des menschlichen Denkens nur negative Prädikate zukommen können. Da aber auch Positives ausgesagt werden soll, so befinden wir uns von Anfang an auf dem Gebiete des Mythus und des Symboles.

Schon das Wort eidos oder idea woraus unser Ausdruck »Idee« entsprungen ist, trägt diesen Stempel des Symbolischen. Mit dem gleichen Begriff wird auch die Spezies gegenüber dem Individuum bezeichnet. Nun kann man sich sehr leicht in der Phantasie gleichsam ein Urbild jeder Spezies vorstellen, welches von allen Zufälligkeiten der Individuen frei ist und daher zugleich als Typus,[61] als Musterbild aller Individuen und auch wieder als ein absolut vollkommenes Individuum erscheinen wird. Man kann sich keinen Löwen als solchen, keine Rose als solche vorstellen, wohl aber kann man sich in der Phantasie ein bestimmt umrissenes Bild eines Löwen oder einer Rose vorstellen, welche von allen Zufälligkeiten der individuellen Bildung, die nunmehr sämtlich als Abweichungen von dieser Norm, als Mängel erscheinen, gänzlich frei ist. Dies ist dann aber keine platonische Idee des Löwen oder der Rose, sondern ein Ideal, d. h. eben doch wieder eine Schöpfung der Sinnlichkeit, welche bestimmt ist, die abstrakte Idee möglichst vollkommen auszudrücken. Die Idee selbst ist nicht sichtbar, denn alles Sichtbare gehört zur fließenden Welt bloßer Erscheinungen; sie hat keine Raumformen, denn das Übersinnliche kann auch nicht räumlich sein. Gleichwohl läßt sich nicht das mindeste Positive von den Ideen aussagen, ohne sie irgendwie sinnlich zu fassen. Man kann sie nicht rein, herrlich, vollkommen, ewig nennen, ohne in diesen Worten selbst sinnliche Vorstellungen an sie heranzubringen. So sieht sich Plato in der Ideenlehre genötigt zum Mythus zu greifen und damit sind wir aus der höchsten Abstraktion mit einem Schlage in dem wahren Lebenselement aller Mystik – dem Sinnlich-Übersinnlichen.

Der Mythus soll nur bildliche Geltung haben; es soll dasjenige, was an sich nur Gegenstand der reinen Vernunft ist, in der Form der Erscheinungswelt dargestellt werden; aber was ist ein Bild, zu dem das Urbild in keiner Weise wiedergegeben werden kann?

Angeblich wird die Idee selbst, wenn auch vom Menschen in seinem irdischen Dasein nur unvollkommen, durch die Vernunft wahrgenommen, welche sich zu diesem übersinnlichen Wesen verhält, wie die Sinne zum Sinnlichen. Hier haben wir den Ursprung jener schroffen Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit, welche seitdem die ganze Philosophie beherrscht und zahllose Mißverständnisse hervorgerufen hat. Die Sinne sollen am Wissen gar keinen Anteil haben, sie können nur empfinden oder wahrnehmen und gehen nur auf Erscheinungen; die Vernunft dagegen soll fähig sein das Übersinnliche zu fassen. Sie wird gänzlich von der übrigen Organisation des Menschen abgesondert, zumal bei Aristoteles, welcher diese Lehre weitergebildet hat. Es werden besondere Objekte der reinen Vernunfterkenntnis angenommen, die »Noumena«, welche im Gegensatz zu den »Phänomena«, den Erscheinungen, den Gegenstand der höchsten Erkenntnisweise bilden. In[62] der Tat aber sind nicht nur die »Noumena« Hirngespinste, sondern auch die »reine Vernunft«, welche sie wahrnehmen soll, ist ein solches Fabelwesen. Der Mensch hat gar keine »Vernunft« und auch keine Vorstellung von einer solchen, die das Allgemeine, das Abstrakte, das Übersinnliche, die Ideen, ohne alle Vermittlung von Empfindung und Wahrnehmung erkennen könnte. Selbst wo uns unser Denken über die Schranken unsrer Sinnlichkeit hinausweist, wo wir auf die Vermutung geführt werden, daß unser Raum mit seinen drei Dimensionen, unsre Zeit mit ihrer gleichsam aus dem Nichts auftauchenden und in das Nichts verschwindenden Gegenwart nur menschliche Formen der Auffassung eines unendlich inhaltreicheren Seins sind – selbst da müssen wir uns noch des gewöhnlichen Verstandes bedienen, dessen Kategorien samt und sonders von der Sinnlichkeit unzertrennlich sind. Wir können uns weder das Eine und Viele, noch die Substanz gegenüber ihren Eigenschaften noch irgendein Prädikat überhaupt ohne Beimischung des Sinnlichen vorstellen.

Wir haben hier also überall Mythus vor uns, und Mythus, dessen innerer Kern und Sinn das schlechthin Unbekannte, um nicht zu sagen, ein Nichts ist. Alle diese platonischen Vorstellungen sind daher für das Denken und Forschen, für die Beherrschung der Erscheinungen durch den Verstand und die sichere, methodische Wissenschaft nur Hemmnisse und Irrlichter gewesen und sind es bis auf den heutigen Tag. Aber wie der Geist des Menschen sich niemals bei der Verstandeswelt beruhigen wird, welche die exakte Empirie uns zu geben vermag, so wird auch stets die platonische Philosophie das erste und erhabenste Vorbild einer dichtenden Erhebung des Geistes über das unbefriedigende Stückwerk der Erkenntnis bleiben, und zu dieser Erhebung auf den Flügeln einer begeisterten Spekulation sind wir so berechtigt, wie zur Ausübung irgendeiner Funktion unsrer geistigen und leiblichen Kräfte. Ja, wir werden ihr einen hohen Wert beimessen, wenn wir sehen, wie der Schwung des Geistes, der mit dem Suchen des Einen und Ewigen im Wechsel der irdischen Dinge verbunden ist, belebend und erfrischend auf ganze Generationen zurückwirkt und indirekt sogar der wissenschaftlichen Forschung oft einen neuen Impuls gibt. Nur darüber muß die Welt einmal definitiv ins klare kommen, daß es sich hier eben nicht um ein Wissen handelt, sondern um Dichtung, wenn auch diese Dichtung vielleicht symbolisch eine wirkliche und wahre Seite des Wesens aller Dinge darstellen sollte, deren[63] unmittelbare Erfassung unsrem Verstande versagt ist – Sokrates wollte dem schrankenlosen Individualismus ein Ende machen und den Weg zum objektiven Wissen bahnen. Das Resultat war eine Methode, welche Subjektives und Objektives total verwechselte, den geraden Fortschritt sicherer Erkenntnis unmöglich machte und dem Dichten und Denken des Individuums scheinbar ein Feld schrankenlosester Willkür öffnete. Aber diese Willkür war dennoch tatsächlich nicht schrankenlos. Das religiös-sittliche Prinzip, von welchem Plato und Sokrates ausgingen, lenkte die große Gedankenschöpfung zu einem bestimmten Ziele und machte sie fähig, dem ethischen Ringen und Streben von Jahrtausenden, in völliger Verschmelzung mit fremdartigen und nichts weniger als hellenischen Vorstellungen und Überlieferungen, einen tiefen Gehalt und einen edlen Zug der Vollendung zu geben. Und noch heute kann die Ideenlehre, die wir aus dem Reiche der Wissenschaft verbannen müssen, durch ihren ethischen und ästhetischen Gehalt eine Quelle reicher Segnungen werden. »Die Gestalt,« wie Schiller so schön und kräftig den abgeblaßten Ausdruck »Idee« wiedergegeben hat, wandelt noch immer göttlich unter Göttern in den Fluren des Lichtes und hat noch heute, wie im alten Hellas, die Kraft, auf ihren Flügeln uns über die Angst des Irdischen zu erheben und in das Reich des Ideals fliehen zu lassen.

Über Aristoteles hier nur wenige Worte, da wir bei Betrachtung des Mittelalters auf den Einfluß seines Systems zurückkommen. Dort werden wir spezieller auf die wichtigsten Begriffe eingehen, welche das Mittelalter und die Neuzeit seinem System unter mannigfachen Umgestaltungen entlehnt haben; hier haben wir es mehr mit dem Gesamtcharakter desselben zu tun und mit seiner Stellung zum Idealismus und Materialismus.

Da Aristoteles und Plato unter den griechischen Philosophen, deren Werke uns erhalten sind, an Einfluß und Bedeutung weit hervorragen, so ergibt sich leicht die Neigung, sie in einen starken Gegensatz zu bringen, als hätte man in ihnen die Vertreter zweier Hauptrichtungen der Philosophie: der aprioristischen Spekulation und der rationellen Empirie. Die Wahrheit ist aber, daß Aristoteles in starker Abhängigkeit von Plato ein System geschaffen hat, welches, nicht ohne innere Widersprüche, den Schein der Empirie mit allen jenen Fehlern verbindet, durch welche die sokratisch-platonische Weltanschauung die empirische Forschung in der Wurzel verdirbt.49[64]

Vielfach ist noch die Meinung verbreitet, Aristoteles sei ein großer Naturforscher gewesen. Seit man weiß, wie viele Vorarbeiten auf diesem Gebiet vorhanden waren,50 wie unbefangen sich Aristoteles fremde Beobachtungen und Mitteilungen aller Art aneignet, ohne die Verfasser zu zitieren, und wie Vieles in seinen Überlieferungen den Schein eigner Beobachtung erregt, was nie beobachtet sein kann, weil es total falsch ist,51 mußte die Kritik gegenüber dieser Meinung erwachen, aber sie ist bisher schwerlich radikal genug zu Werke gegangen. Was aber Aristoteles auf alle Fälle bleibt, ist das Lob, welches Hegel ihm gespendet hat, daß er den Reichtum und die Zerstreuung des realen Universums dem Begriffe unterjocht habe. Wie viel oder wenig er in den einzelnen Wissenschaften selbständig mag geleistet haben – Hauptsache in seiner gesamten Tätigkeit bleibt jedenfalls die Sammlung des Stoffs aller damals vorhandenen Wissenschaften unter spekulativen Gesichtspunkten, also eine Tätigkeit, welche mit derjenigen neuerer Systematiker, Hegels vor allen Dingen, im Prinzip zusammenfällt.

Auch Demokrit beherrschte den ganzen Umfang der Wissenschaften seiner Zeit, und vermutlich mit größerer Selbständigkeit und Gründlichkeit als Aristoteles; allein wir haben keine Spur davon, daß er alle diese Kenntnisse unter das Joch seines Systems gebeugt habe. Bei Aristoteles wird die Durchführung des spekulativen Grundgedankens zur Hauptsache. Das Eine und Beharrende, welches Plato außerhalb der Dinge suchte, will Aristoteles in der Mannigfaltigkeit des Existierenden selbst nachweisen. Wie er aus der äußeren Welt eine geschlossene Kugel macht, in deren Mittelpunkt die Erde ruht, so durchdringt die Welt der Wissenschaften die gleiche Methode, die gleiche Form der Auffassung und Darstellung und alles rundet sich um das erkennende Subjekt, dessen Vorstellungen mit naiver Verkennung aller Schranken der Erkenntnis als die wahren und endgültig begriffenen Objekte betrachtet werden. Baco hat die Behauptung aufgestellt, daß die Zusammenstellung des Wissens zu einem System den ferneren Fortschritt hemme. Dies Bedenken hatte Aristoteles wenig anfechten können, denn er hielt die Aufgabe der Wissenschaft im großen und ganzen für erschöpft und zweifelte keinen Augenblick daran, daß er imstande sei, alle wesentlichen Fragen genügend zu beantworten. Wie er in ethischer und politischer Beziehung sich auf die hellenische Welt als die mustergültige beschränkte und für die großen Veränderungen, die unter seinen Augen vorgingen, wenig Sinn hatte, so kümmerte[65] ihn auch nicht die Fülle neuer Tatsachen und Beobachtungen, welche dem Forscher durch die Züge Alexanders des Großen zugänglich gemacht wurde. Daß er Alexander begleitet habe, um seine Wißbegierde zu befriedigen, oder daß man ihm Tiere und Pflanzen ferner Zonen zur Untersuchung zugesandt habe, sind alles Märchen. Aristoteles hielt sich in seinem System an das, was man zu seiner Zeit wußte und war überzeugt, daß dies die Hauptsache sei, daß es zur Entscheidung aller prinzipiellen Fragen ausreiche.52 Gerade diese Geschlossenheit seiner Weltanschauung und die Sicherheit, mit welcher er sich in dem engen Kreise seines Universums bewegt, machte Aristoteles vorzüglich geeignet zum philosophischen Lehrer des Mittelalters, während die zum Fortschritt und zur Umwälzung neigende Neuzeit nichts Wichtigeres zu tun hatte, als die Fesseln dieses Systems zu sprengen.

Konservativer als Plato und Sokrates sucht Aristoteles sich überall möglichst enge an die Überlieferung, an die Volksmeinung, an die in der Sprache ausgeprägten Begriffe anzuschließen, und seine ethischen Forderungen entfernen sich möglichst wenig von den üblichen Sitten und Gesetzen hellenischer Staaten. Er ist daher zu allen Zeiten der Lieblingsphilosoph konservativer Schulen und Parteiströmungen gewesen.

Die Einheit seiner Weltanschauung erreicht Aristoteles durch den rücksichtslosesten Anthropomorphismus. Die schlechte, vom Menschen und seinen Zwecken ausgehende Teleologie bildet einen der wesentlichsten Bestandteile seines Systems. Wie für das Wirken und Schaffen des Menschen, z. B. wenn er ein Haus oder ein Schiff bauen will, stets die Idee des Ganzen als Zweck der Tätigkeit zuerst auftritt und sodann diese Idee durch Ausführung der Teile sich im Stoffe verwirklicht, so muß notwendig auch die Natur verfahren, weil ihm eben diese Folge von Zweck und Ding, Form und Stoff für alles Existierende mustergültig ist. Nächst dem Menschen mit seinen Zwecken wird die Welt der Organismen zugrunde gelegt. Sie dienen ihm nicht nur, um im Samenkorn die reale Möglichkeit des Baumes zu zeigen, nicht nur als Urbilder für die Einteilung nach Art und Gattung, als Musterbeispiele für das Prinzip der Teleologie usw., sondern namentlich auch um durch Vergleichung der niederen und der höheren Organismen die Anschauung zu begründen, daß alles in der Welt sich nach Rangstufen und Wertbegriffen ordnen lasse: ein Prinzip, welches Aristoteles sodann nicht ermangelt, auf die abstraktesten Verhältnisse, wie oben und unten,[66] rechts und links usw. anzuwenden und zwar mit der unzweideutigen Meinung, daß alle diese Rangverhältnisse nicht etwa nur in der menschlichen Auffassung, sondern in der Natur der Dinge begründet seien. – So wird allenthalben das Allgemeine aus dem Spezialfall, das Leichte aus dem Schwierigen, das Einfache aus dem Zusammengesetzten, das Niedrige aus dem Höheren erklärt; und gerade hierauf beruht zum großen Teil die Popularität des aristotelischen Systems, denn der Mensch, welchem ja nichts vertrauter ist als seine subjektiven Zustände beim Denken und Handeln, neigt stets dazu, auch die Kausalbeziehungen derselben zur Welt der Objekte für einfach und klar zu halten, indem er die offen vorliegende Zeitfolge des Inneren und Äußeren mit dem geheimen Getriebe der wirkenden Ursachen verwechselt. So konnte z. B. Sokrates das »Denken und Wählen«, durch welches die menschlichen Handllungen nach dem Zweckbegriff zustande kommen, für etwas Einfaches halten; das Resultat eines Entschlusses schien nicht minder einfach und die Vorgänge in Muskeln und Nerven werden dabei gleichgültige Nebenumstände. Die Dinge in der Natur scheinen Zweckmäßigkeit zu verraten, also entstehen auch sie durch das so einfache und natürliche Denken und Wählen. Ein menschenähnlicher Schöpfer ist damit gegeben, und da dieser unendlich weise ist, so ist auch der Optimismus der gesamten Weltanschauung damit begründet.

Aristoteles hat nun freilich in der Art, wie er sich den Zweck in den Dingen wirkend denkt, einen bedeutenden Fortschritt gemacht. (Vgl. Anm. 40.) Sobald man überhaupt über die Art und Weise der Verwirklichung des Zwecks näher nachdachte, konnte der naivste Anthropomorphismus, welcher den Schöpfer mit menschlichen Händen arbeiten läßt, nicht mehr in Betracht kommen. Eine rationalistische Weltanschauung, welche überhaupt die Religionsvorstellungen des Volkes als bildliche Darstellung übersinnlicher Verhältnisse ansah, konnte natürlich mit der Teleologie keine Ausnahme machen, und da Aristoteles hier wie überall in seiner Weise zu völliger Klarheit durchzudringen suchte, so mußte er notwendig durch die Teleologie selbst und durch die Betrachtung der organischen Welt zu einem Pantheismus geführt werden, welcher den göttlichen Gedanken überall in die Stoffe eindringen und sich auf immanente Weise im Wachsen und Werden der Dinge verwirklichen läßt. Dieser Anschauung, die sogar mit einer geringen Modifikation zu einem vollständigen Naturalismus fortgebildet werden[67] konnte, steht jedoch bei Aristoteles eine transzendente Gottesidee gegenüber, welche in theoretischer Hinsicht auf dem echt aristotelischen Gedanken ruht, daß alle Bewegung in letzter Instanz von einem Unbewegten ausgehen müsse.53

Die empirischen Anflüge bei Aristoteles finden sich teils in vereinzelten Aussprüchen, von denen die wichtigsten jedenfalls diejenigen sind, welche den Respekt vor den Tatsachen fordern, teils aber in seiner Lehre von der Substanz (ousia), die freilich an einem unheilbaren Widerspruche krankt. Aristoteles – hierin grundverschieden von Plato – nennt im ersten und eigentlichen Sinne die einzelnen Wesen und Dinge Substanzen. In ihnen ist die Form, das Wesentliche, verbunden mit dem Stoff; das Ganze ist ein konkretes und durchaus reales Sein; ja, Aristoteles redet bisweilen so, als komme dem konkreten Dinge eigentlich allein volle Wesenheit zu. Dies ist der Standpunkt der mittelalterlichen Nominalisten, die aber in der Tat die Meinung des Aristoteles durchaus nicht auf ihrer Seite haben; denn Aristoteles verdirbt gleich alles wieder damit, daß er noch eine zweite Art von Substanz zunächst in den Artbegriffen, sodann aber in den allgemeinen Begriffen überhaupt zuläßt. Nicht nur dieser hier vor meinem Fenster stehende Apfelbaum ist eine Wesenheit, sondern auch der Artbegriff bezeichnet eine solche. Nur wohnt das allgemeine Wesen des Apfelbaumes nicht etwa im Nebellande der Ideen, von wo es einen Ausfluß in die Dinge der Erscheinungswelt strahlt, sondern das allgemeine Wesen des Apfelbaumes hat seine Existenz in den einzelnen Apfelbäumen.

Hier liegt in der Tat, solange man sich an die Organismen hält und hier nur Art und Individuen vergleicht, ein verführerischer Schein, der auch manche Neuere geblendet hat. Wir wollen versuchen, den Punkt, wo Wahrheit und Irrtum sich scheiden, scharf zu bezeichnen.

Stellen wir uns zunächst auf den nominalistischen Standpunkt, der ein vollkommen klarer ist! Es gibt nur einzelne Apfelbäume, einzelne Löwen, einzelne Maikäfer usw. und außerdem Namen, mit welchen wir die Summe der existierenden Gegenstände zusammenfassen, die durch ihre Ähnlichkeit zusammen gehören. Das »Allgemeine« ist nichts als der Name. Nun ist es nicht schwer, dieser Auffassungsweise den Schein der Oberflächlichkeit zuzuschieben, indem man darauf hinweist, daß es sich hier nicht um zufällige, beliebig vom Subjekt zusammengefaßte Ähnlichkeiten handelt,[68] sondern daß die objektive Natur uns offenbar geschlossene Gruppen entgegenbringt, welche durch ihre reale Zusammengehörigkeit uns zu dieser Zusammenfassung zwingen. Die verschiedensten Individuen von Löwen oder Maikäfern stehen einander doch ganz anders nahe, als der Löwe dem Tiger oder der Maikäfer dem Hirschkäfer. Diese Bemerkung ist unzweifelhaft richtig. Ihre Tragweite brauchen wir jedoch nicht lange zu prüfen, um zu finden, daß das reale Band, welches wir der Kürze wegen ohne weiteres einräumen wollen, auf jeden Fall etwas ganz anderes ist, als der allgemeine Typus der Art, den wir in unsrer Phantasie mit dem Namen »Apfelbaum« in Verbindung bringen.

Man könnte nun die metaphysische Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen, des Einen zum Vielen hier noch weiter verfolgen. Gesetzt es sei uns eine Formel der Stoffmischung oder der Erregungszustände in einer Keimzelle bekannt, durch welche bestimmt werden könnte, ob der Keim sich zu den Formen des Apfel- oder Birnbaums entfalten wird. Dann wird vermutlich eine jede einzelne Keimzelle außer den Bedingungen dieser Formel auch noch ihre individuellen Abweichungen und Zutaten haben, und wirklich ist im Grunde überall erst das Resultat aus dem Allgemeinen und Individuellen, oder vielmehr das konkret Gegebene, worin gar keine Unterscheidung des Allgemeinen und Individuellen stattfindet. Die Formel liegt rein in unserm Geist.

Man sieht hier leicht, daß dagegen nun wieder realistische Einsprache erhoben werden könnte; allein um den Irrtum der aristotelischen Lehre vom Allgemeinen zu verstehen, haben wir nicht nötig, diese Kette weiter zu verfolgen. Dieser Irrtum liegt schon weiter oben; denn Aristoteles hält sich direkt an das Wort. Er sucht nichts Unbekanntes hinter dem allgemeinen Wesen des Apfelbaums. Dasselbe ist vielmehr völlig bekannt. Das Wort bezeichnet direkt eine Wesenhaftigkeit, und dies geht so weit, daß Aristoteles, in der Übertragung dessen, was bei den Organismen gefunden wurde, auf andre Gegenstände, sogar an einem Beil noch die Individualität dieses bestimmten Beiles von seinem »Beilsein« unterscheidet. Das »Beilsein« und der Stoff, das Metall, zusammengenommen machen das Beil, und kein Stück Eisen kann Beil werden, ohne von der Form, die dem Allgemeinen entspricht, ergriffen und durchdrungen zu werden. Diese Tendenz, das Wesen unmittelbar aus dem Worte abzuleiten, ist der Grundfehler der aristotelischen Begriffslehre und führt in ihren Konsequenzen, so wenig sich Aristoteles[69] mit denselben zu befassen liebt, doch folgerichtig zu der gleichen Überschätzung des Allgemeinen gegenüber dem Besondern, welche wir bei Plato finden. Denn ist erst einmal zugegeben, daß das Wesen der Individuen in der Art liege, so muß dann auf einer höheren Stufe wieder das Wesentlichste der Art, oder anders ausgedrückt der Grund der Arten, in der Gattung liegen usw.

In der Tat zeigt sich dann auch dieser durchgreifende Einfluß der platonischen Anschauungen klar in der Methode der Untersuchung, welche Aristoteles anzuwenden pflegt. Da sieht man bald, daß sein Ausgehen von den Tatsachen und die Induktion, welche von den Tatsachen zu den Prinzipien aufsteigen soll, eine Theorie geblieben ist, welche Aristoteles selbst fast nirgends anwendet. Höchstens führt er etwa einige vereinzelte Tatsachen an und springt dann sofort von diesen zu den allgemeinsten Prinzipien, die er fortan in rein deduktivem Verfahren dogmatisch festhält.54 So demonstriert Aristoteles aus allgemeinen Prinzipien, daß es außer unsrer geschlossenen Weltkugel nichts geben könne, so kommt er zu seiner verderblichen Lehre von der »natürlichen« Bewegung eines jeden Körpers im Gegensatze zu der »gewaltsamen« Bewegung, zu der Behauptung, daß die linke Seite des Körpers kälter sei als die rechte, zu der Lehre vom Übergang eines Stoffes in einen andern, von der Unmöglichkeit der Bewegung im leeren Raum, zu dem absoluten Unterschied von kalt und warm, schwer und leicht usw. So konstruiert er a priori, wie viele Arten von Tieren es geben könne, beweist aus allgemeinen Prinzipien, warum die Tiere diese oder jene Teile haben müssen, und zahlreiche andre Sätze, die dann stets wieder mit strengster Konsequenz angewandt werden und die in ihrer Gesamtheit eine erfolgreiche Forschung durchaus unmöglich machen. Diejenige Wissenschaft, zu welcher sich die platonische und aristotelische Philosophie am günstigsten stellen, ist natürlich die Mathematik, in welcher das deduktive Prinzip so glänzende Resultate erzielt hat. Aristoteles betrachtet denn auch die Mathematik als das Vorbild aller Wissenschaften, allein ihrer Anwendung in der Erforschung der Natur verschließt er den Weg, indem er überall das Quantitative auf Qualitatives zurückführt, also genau den umgekehrten Weg einschlägt, wie die neuere Naturwissenschaft.

Mit der Deduktion im Bunde steht die dialektische Behandlung der Streitfragen. Aristoteles liebt es, die Ansichten seiner Vorgänger historisch-kritisch zu erörtern. Sie sind ihm die Repräsentanten aller[70] überhaupt möglichen Meinungen, denen dann seine eigne Ansicht abschließend gegenüber tritt. Übereinstimmung aller ist ein vollgültiger Beweis; Widerlegung aller andern Ansichten läßt die scheinbar einzig übrig bleibende als notwendig erscheinen. Schon Plato unterschied das »Wissen« von der »richtigen Meinung« durch die Fähigkeit des Wissenden, alle Einwürfe dialektisch abzuweisen und die eigne Ansicht im Kampf der Meinungen siegreich zu behaupten. Aristoteles führt die Gegner selbst auf; er läßt sie ihre Ansichten (oft mangelhaft genug!) darlegen, disputiert auf dem Papier mit ihnen und sitzt dann in eigner Sache zu Gericht. So tritt der Sieg im Disputan die Stelle des Beweises, der Meinungskampf an die Stelle der Analyse, und das ganze Verfahren bleibt ein völlig subjektives, aus welchem wirkliche Wissenschaft nicht hervorgehen kann.

Wenn man sich nun fragt, wie es möglich war, daß ein solches System nicht nur dem Materialismus, sondern jeder empirischen Richtung überhaupt auf Jahrhunderte den Weg verschließen konnte, und wie es möglich ist, daß »die organische Weltanschauung des Aristoteles« noch heute von einer mächtigen Schule als die gegebene und unumstößliche Basis aller wahren Philosophie gepriesen wird, so dürfen wir dabei zunächst nicht vergessen, daß die Spekulation überhaupt es liebt, an die naiven Anschauungen des Kindes und des Köhlers anzuknüpfen und so gleichsam im Gebiete des menschlichen Denkens das Niedrigste und das Höchste in Verbindung zu bringen gegenüber der relativistischen Mitte. Wir haben bereits gesehen, wie der konsequente Materialismus zwar fähig ist in einer Weise, welche allen andern Systemen versagt bleibt, Ordnung und Zusammenhang in die sinnliche Welt zu bringen und wie er berechtigt ist von hier aus selbst den Menschen mit samt seinen Handlungen als Spezialfall der allgemeinen Naturgesetze zu betrachten, wie aber dabei zwischen dem Menschen als Gegenstand der empirischen Forschung und dem Menschen, so wie das Subjekt unmittelbar sich selbst weiß, eine ewige Kluft befestigt bleibt. Daher kehrt der Versuch immer und immer wieder, ob denn nicht vielleicht das Ausgehen vom Selbstbewußtsein eine befriedigendere Weltanschauung gebe, und so stark ist der geheime Zug des Menschen nach dieser Seite, daß dieser Versuch hundertmal als gelungen betrachtet wird, wenn auch alle früheren Versuche bereits als unzulänglich erkannt sind.

Zwar wird es einer der wesentlichsten Fortschritte der Philosophie[71] sein, wenn diese Versuche endlich definitiv aufgegeben werden; aber nimmer wird das geschehen, wenn der Einheitstrieb der menschlichen Vernunft nicht auf anderem Wege seine Befriedigung erhält. Wir sind nun einmal nicht geschaffen, bloß zu erkennen, sondern auch zu dichten und zu bauen, und mit mehr oder weniger Mißtrauen gegen die definitive Gültigkeit dessen, was Verstand und Sinne uns zu bieten vermögen, wird die Menschheit immer wieder den Mann freudig begrüßen, der es versteht, in genialer Weise, alle Bildungsmomente seiner Zeit benutzend, jene Einheit der Welt und des Geisteslebens zu schaffen, welche unsrer Erkenntnis versagt ist. Diese Schöpfung wird gleichsam nur der Ausdruck der Sehnsucht einer Zeitperiode nach dem Einen und Vollkommenen sein, aber dies ist etwas Großes und für die Erhaltung und Ernährung unsres geistigen Lebens so wichtig wie die Wissenschaft, wiewohl nicht so dauerhaft als diese; denn die Forschung im Stückwerk des positiven Wissens und in den Relationen, welche allein den Gegenstand unsrer Erkenntnis aus machen, ist absolut durch ihre Methode, und die spekulative Erfassung des Absoluten kann nur eine relative Bedeutung als Ausdruck der Anschauungen eines Zeitalters in Anspruch nehmen.

Steht uns nun aber das aristotelische System beständig als eine feindliche Macht gegenüber in Beziehung auf die klare Unterscheidung dieser Gebiete, ist es noch immer das Urbild des Verkehrten, das große Beispiel dessen, was nicht sein soll, in seiner Vermengung und Verwechslung von Spekulation und Forschung und in dem Anspruch, das positive Wissen nicht nur zusammenzufassen sondern auch zu beherrschen; so müssen wir andererseits anerkennen, daß dies System das vollendetste Beispiel wirklicher Herstellung einer einheitlichen und geschlossenen Weltanschauung ist, welches die Geschichte uns bisher gegeben hat. Mußten wir auch den Forscherruhm des Aristoteles schmälern, so bleibt doch allein die Art, wie er das Gesamtwissen seiner Zeit in sich aufnahm und zu einer Einheit verband, eine Riesenarbeit des Geistes und neben dem Verkehrten, das wir hier nachweisen mußten, finden sich auf allen Gebieten reiche Spuren eines durchdringenden Scharfsinns. Dazu verdient Aristoteles schon allein als Urheber der Logik einen hohen Ehrenplatz in der Philosophie, und wenn die völlige Verschmelzung derselben mit seiner Metaphysik auch den Wert der Leistung an sich genommen beeinträchtigt, so steigt dadurch doch wieder die Kraft und der Zauber des Systems. In einem so festgefügten[72] Bau konnten die Geister ausruhen und ihre Stütze finden in gärender und treibender Zeit, als die Trümmer der alten Kultur verbunden mit den ergreifenden Ideen einer neuen Religion in den Köpfen der Abendländer eine so große und trübe Bewegung und ein so stürmisches Ringen nach neuen Formen hervorriefen. Wie wohl war es unsern Vorfahren in dem geschlossenen Ring des sich ewig umwälzenden Himmelsgewölbes auf ihrer ruhenden Erde, und welche Zuckungen rief der scharfe Luftzug hervor, der aus der Unendlichkeit hereindrang, als Kopernikus diese Hülle sprengte! Doch wir vergessen, daß wir noch nicht daran sind, die Bedeutung des aristotelischen Systems für das Mittelalter zu erörtern. In Griechenland gewann dasselbe erst ganz allmählich das Übergewicht über alle andern Systeme, als nach dem Untergang der klassischen Zeit, welche vor Aristoteles liegt, auch jene reiche Blüte des wissenschaftlichen Lebens, welche erst nach ihm eintrat, in Verfall kam und das schwankende Gemüt auch hier nach der stärksten Stütze griff, welche sich ihm zu bieten schien. Für einstweilen strahlte das Gestirn der peripatetischen Schule hell genug neben andern Sternen, aber der Einfluß des Aristoteles und seiner Lehre vermochte noch nicht zu hindern, daß bald nach ihm materialistische Anschauungen mit erheblicher Gewalt wieder hervortraten und selbst in seinem eignen Systeme Anknüpfungspunkte zu finden suchten.[73]

38

Diese Lehre findet sich besonders im platonischen Timäus ausführlich und wiederholt dargelegt; vgl. z. B. die Stellen p. Steph. 48 A; 56 C und 68 E. Hier ist überall ausdrücklich von zweierlei Ursachen die Rede, den göttlichen, vernünftigen, d. h. den theologischen, und den Naturursachen. Von einem Zusammenfallen beider ist keine Rede. Die Vernunft ist höher als die Notwendigkeit, aber sie herrscht nicht unbedingt, sondern nur bis zu einem gewissen Grade, und zwar durch »Überredung«.

39

Am deutlichsten geht sowohl der Anthropomorphismus dieser Theologie, als auch der antimaterialistische Eifer, mit welchem sie gelehrt und behauptet wurde, aus der weiter unten im Texte berührten Stelle des Phädon hervor (p. Steph. 97C-99D), an welcher sich Sokrates so bitter über Anaxagoras beklagt, der bei seiner Kosmogonie von der vielversprechenden »Vernunft« gar keinen Gebrauch gemacht, sondern alles aus materiellen Ursachen erklärt habe.

40

Ethischen Ursprungs ist vor allem die Teleologie. Nun ist zwar unzweifelhaft die platonische Teleologie schon weniger roh anthropomorph als die sokratische, und in der aristotelischen findet sich abermals ein bedeutender Fortschritt, allein der ethische Grundcharakter und die Unvereinbarkeit mit echter Naturforschung sind allen drei Stufen gemeinsam. Bei Sokrates ist noch alles, so wie es ist, für den menschlichen Nutzen geschaffen, bei Plato wird schon ein Selbstzweck der Dinge anerkannt, und ihre Zweckmäßigkeit wird dadurch eine mehr innerliche, bei Aristoteles fällt sogar der Zweck mit dem begrifflichen Wesen des Dinges vollständig zusammen. Gerade dadurch haben wir aber eine Kraft der Selbstverwirklichung in alle Naturwesen gelegt, welche als Naturerscheinung schlechthin unfaßbar ist und dagegen im praktischen Bewußtsein des bildenden und gestaltenden Menschen ihr einziges Urbild hat. – Es gibt aber auch eine große Zahl anderer ethischer Begriffe, welche Aristoteles in die Naturbetrachtung hineingetragen hat, zum größten Nachteil für die Weiterführung der Forschung; so vor allen Dingen die Rangordnung aller Naturdinge und sogar der abstrakten Verhältnisse des »oben« und »unten«, »rechts« und »links«; ferner die »natürliche« und »gewaltsame« Bewegung usw.

41

Es ist hier nicht von den mangelhaft beglaubigten Erzählungen von Zopyrus und ähnlichem die Rede, wonach Sokrates mindestens in seiner Jugend jähzornig und ausschweifend gewesen sein soll (vgl. Zeller 11, 2. Aufl. S. 54, wo übrigens wohl die Erzählungen des Aristoxenos allzu unbedingt verworfen werden), sondern wir halten uns an den Charakter, wie er bei Xenophon und Plato vorliegt, insbesondere an die bekannte Schilderung im Symposium. Daher wird nicht behauptet, daß Sokrates zu irgendeiner Zeit seines Lebens seine leidenschaftliche Natur nicht beherrscht habe; wohl aber soll diese starke Naturbasis seines Wesens, die sich in den Eifergeist des ethischen Apostels umgesetzt hat, hier hervorgehoben werden.

42

Vgl. die Lobrede des Alcibiades im platonischen Symposium; insbesondere 215 D und E.

43

Dies geht, was Sokrates betrifft, wohl am deutlichsten hervor aus seiner Unterredung mit Aristodemus (Xen. Memor. 1, 4), ausführlich mitgeteilt bei Lewes 1, S. 285 u. ff.

44

Von der Theokrasie (Mischung und Verschmelzung verschiedener Götter und Kulte zu einer Einheit) der delphischen Priesterschaft ist schon oben in Anm. 2 die Rede gewesen. – Der apollinische Zug der sokratischen Geistesrichtung ist neuerdings in eigentümlicher Weise scharf hervorgehoben worden von Nietzsche, die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Leipzig 1872). Wie diese Tendenz in Verbindung mit der platonischen Weltanschauung durch Jahrhunderte weiter wucherte und endlich – zu spät zu einer Regeneration des Heidentums – zum völligen Durchbruch kam, zeigt uns besonders der philosophisch-mystische Kultus des »Königs Helios«, welchen Kaiser Julian dem Christentum entgegenstellen wollte. Vgl. Baur, Gesch. d. christl. Kirche 11 (2. Ausg.) S. 23 u. ff.; Teuffel, Studien und Charakteristiken. Leipzig 1871. S. 190.

45

Sokrates war Epistates der Prytanen und hatte als solcher die Abstimmung zu leiten an dem Tage, an welchem die aufgeregte Volksmenge die Feldherren verurteilen wollte, welche nach der Schlacht bei den Arginusen die Bestattung der Toten versäumt hatten. Der Antrag war nicht nur materiell ungerecht, sondern hatte auch einen Formfehler, weshalb Sokrates mit Gefahr seines eigenen Lebens die Abstimmung standhaft verweigerte. – Die dreißig Tyrannen befahlen einmal ihm und vier andern, den Leon aus Salamis nach Athen zurückzuholen; die vier andern gehorchten, Sokrates aber ging ruhig nach Hause, wiewohl er wußte, daß dabei sein Leben auf dem Spiel stand.

46

Lewes, Gesch. d. Phil. I, S. 195 u. ff. teilt diese Stelle des platonischen Phädon (vgl. Anm. 39) ausführlich mit. Er hält den Inhalt mit Recht für echt sokratisch und zeigt (S. 197 u. f.), wie Anaxagoras von Sokrates mißverstanden wurde.

47

Lewes, Gesch. d. Phil. I, S. 312. Vgl. dagegen die anerkennenden Worte Zellers II (2. Aufl.) S. 355 über den dichterischen Charakter der platonischen Philosophie: »Wie eine künstlerische Natur nötig war, um eine solche Philosophie zu erzeugen, so mußte umgekehrt diese Philosophie zur künstlerischen Darstellung auffordern. Die Erscheinung so unmittelbar auf die Idee bezogen, wie wir dies bei Plato finden, wird zur schönen Erscheinung, die Anschauung der Idee in der Erscheinung zur ästhetischen Anschauung. Wo die Wissenschaft und das Leben sich so durchdringen, wie bei ihm, da wird sich die Wissenschaft nur in lebendiger Schilderung mitteilen lassen, und da das Mitzuteilende ein Ideales ist, wird diese Schilderung eine dichterische sein müssen.« – Ohne Zweifel hat Lewes das Künstlerische in Platos Dialogen zu niedrig angeschlagen. Beide Schilderungen sind berechtigt und nicht unvereinbar; denn zunächst ist die plastische, in apollinischer Klarheit gehaltene Schönheit der Form bei Plato zwar »dichterisch« im weiteren Sinne des Wortes, aber nicht mystisch, nicht romantisch. Sodann aber ist jene zähe und anspruchsvolle Dialektik, an welche Lewes sich hält, in der Tat nicht nur übermäßig, bis zur Störung der Kunstform, ausgedehnt, sondern sie steht mit ihrer Rechthaberei und ihrem besonderen Anspruch an ein »Wissen«, welches systematisch errungen werden soll, auch im Widerspruch mit dem echt poetischen Prinzip aller wahren Spekulation, die sich mehr auf ein geistiges Schauen stützt als auf ein vermitteltes Wissen. Platos Philosophie hätte sogar bei einer Durchführung dieses künstlerischen Zuges das beste Vorbild für die Spekulation aller Zeiten werden können; allein die Verbindung desselben mit dem von Lewes so scharf gezeichneten Zuge abstrakter Dialektik und logischer Strenge gibt ein heterogenes Ganze und hat namentlich durch die totale Verwechslung von Wissen und Dichten große Verwirrung in der Philosophie der Folgezeit angerichtet.

48

Zeller II, 2. A. S. 361 u. ff. erkennt ganz richtig, daß die platonischen Mythen nicht etwa Einkleidungen sind von Gedanken, welche der Philosoph auch in anderer Form besaß, sondern daß sie eben da eintreten, wo Plato etwas darstellen möchte, das er in streng wissenschaftlicher Form gar nicht zu geben weiß. Mit Unrecht aber wird dies als eine Schwäche des Philosophen gefaßt, der hier eben noch zu viel Dichter und zu wenig Philosoph sei. Es liegt vielmehr in der Natur der Probleme, an welche sich Plato hier gewagt hat, daß sie gar nicht anders als bildlich behandelt werden können. Ein adäquates Wissen von schlechthin Übersinnlichem ist unmöglich, und neuere Systeme, welche den Schein eines begrifflichen Wissens von transzendenten Gegenständen erwecken, stehen dadurch in Wahrheit durchaus nicht höher als das platonische.

49

Die Beweise hierfür werden wir einem jüngst erschienenen Büchlein entnehmen, das nicht zu diesem Zwecke geschrieben ist: Eucken, Die Methode der aristotelischen Forschung in ihrem Zusammenhang mit den philosophischen Grundprinzipien des Aristoteles. Berlin 1872. In diesem mit großer Gewissenhaftigkeit und Sachkenntnis verfaßten Büchlein zeigt sich die Ansicht, welche wir längst hegten, glänzend bestätigt, daß nämlich gerade die neu-aristotelische Schule, welche von Trendelenburg ausgegangen ist, schließlich am meisten dazu beitragen muß, uns definitiv von Aristoteles zu befreien. Bei Eucken geht die Philosophie auf in der aristotelischen Philologie; aber dafür ist auch diese Philologie gründlich und objektiv. Nirgend findet man die Schäden der aristotelischen Methode so klar und übersichtlich dargelegt als hier, und wenn der Verfasser die Vorzüge dennoch für überwiegend hält, so kann es keinem aufmerksamen Leser entgehen, wie schwach hierfür die Beweise sind. Den geringen Erfolg des Aristoteles in naturwissenschaftlichen Entdeckungen schreibt der Verfasser fast ausschließlich dem Mangel an Instrumenten zur Vervollkommnung der sinnlichen Wahrnehmung zu, während es doch historisch feststeht, daß der Fortschritt der Neuzeit fast auf allen Gebieten der Naturforschung mit denselben Mitteln begann, welche schon den Alten zu Gebote standen und daß er sich die großartigen Waffen, über welche er heute verfügt, größtenteils selbst geschaffen hat. Kopernikus hatte kein Teleskop, aber er wagte es, die Autorität des Aristoteles zu brechen. Das war der entscheidende Schritt, und ähnlich ging es auf allen andern Gebieten.

50

Dieser Punkt ist freilich Eucken entgangen, der im Gegenteil (Meth. d. arist. Forsch., S. 153) zu bedenken gibt, wie wenig vor ihm geleistet worden sei. Ja, wenn die uns erhaltene Literatur alles wäre! Vgl. dagegen oben Anm. 11 über die Benutzung Demokrits und die von Eucken S. 7 u. f. dargelegte Weise des Aristoteles, seine Vorgänger, wo er nichts an ihrer Darstellung auszusetzen hatte, ohne Zitat zu benutzen.

51

Beispiele bei Eucken, S. 154 u. ff.: Der Mensch allein habe Herzklopfen; die männlichen Wesen hätten mehr Zähne als die weiblichen, der Schädel der Weiber hätte, im Gegensatz zu dem der Männer, eine ringsherumgehende Naht, der Mensch hätte im Hinterkopf einen leeren Raum; er besäße acht Rippen. Ferner S. 164 u. f. die angeblichen Experimente, daß auf stark mit Salz gemischtem Wasser Eier schwimmen, daß man in einem verschlossenen Gefäße von Wachs trinkbares Wasser aus dem Meere sammeln könne, daß sich das Gelbe mehrerer zusammengeschütteter Eier in der Mitte vereinige.

52

Schon Cuvier erkannte, daß Aristoteles die ägyptischen Tiere nicht nach eigener Anschauung, sondern nach den Angaben Herodots beschreibt, wiewohl die Beschreibung ganz so lautet, als hätte er die Tiere selbst gesehen. Humboldt bemerkt, daß die zoologischen Schriften des Aritoteles keine Spuren einer durch die Züge Alexanders erweiterten Erkenntnis zeigen (Eucken, a. a. O. S. 16 und S. 160; über die Ansicht vom Abschluß der wissenschaftlichen Erkenntnis ebendas. S. 5 u. f.). –

53

Sehr gut ist in gedrängtester Kürze das Prinzip der aristotelischen Theologie dargestellt bei Überweg, Grundriß, I 4. Aufl. S. 175 u. f. »Die Welt hat ihr Prinzip in Gott, welcher Prinzip ist, nicht nur in der Weise, wie die Ordnung im Heere, als immanente Form, sondern auch als an und für sich seiende Substanz; gleich dem Feldherrn im Heere.« Der Schluß der Theologie mit den Worten Homers: »Ouk agathon polykoiraniê, eis koiranos estô« verrät die zugrunde liegende ethische Tendenz, aber die ontologische Stütze des transzendenten Gottes liegt in dem Satz, daß jede Bewegung, so auch die Entwicklung von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, eine bewegende Ursache habe, die an sich unbewegt ist. »Wie jedes einzelne gewordene Objekt eine aktuelle bewegende Ursache voraussetzt, so die Welt überhaupt einen schlechthin ersten Beweger, der die an sich träge Materie gestalte.«

54

Eucken, a. a. O. S. 167 u. ff. zeigt, daß selbst der genaue Begriff der Induktion bei Aristoteles nicht leicht festzustellen ist, da er oft den Ausdruck für die bloße Analogie gebraucht, von welcher doch die Induktion verschieden sein soll; ja sogar für die bloße Erläuterung abstrakter Begriffe durch Beispiele. Wo der Ausdruck strenger gebraucht wird (Gewinnung des Allgemeinen aus dem Einzelnen), war Aristoteles dennoch geneigt (a. a. O. S. 171), vom Einzelnen rasch zum Allgemeinen überzugehen. So hat er denn in den verschiedenen Gebieten der Naturwissenschaft im allgemeinen wie im besonderen manchmal mit großer Zuversicht von einigen wenigen Erscheinungen aus auf das Allgemeine geschlossen und daher oft Behauptungen aufgestellt, die weit über den Umfang des von ihm tatsächlich Beobachteten hinausgehen. Beispiele hierfür S. 171 u. f. Über Schlüsse a priori, wo statt dessen die Induktion gelten sollte, vgl. Eucken S. 54 u. f., S. 91 u. f., 113 u. f. usw.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 42-74.
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