I. Die Stellung des Menschen zur Tierwelt

Durch die ganze Geschichte des Materialismus geht der bestimmte Zug, daß die kosmischen Fragen allmählich an Interesse verlieren, während die anthropologischen einen immer größeren Eifer des Streites herbeiführen. Zwar kann es scheinen, daß diese anthropologische Richtung des Materialismus im vorigen Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht habe; denn gerade die großartigen Entdeckungen der Neuzeit auf den Gebieten der Chemie, der Physik, der Geologie, der Astronomie haben eine Reihe von Fragen hervorgerufen, zu welchen der Materialismus eine bestimmte Stellung einnehmen mußte. Dies konnte jedoch geschehen, ohne daß es wesentlich neuer Prinzipien oder aufregender und zum Streit herausfordernder Anschauungen bedurft hätte. Auf der andern Seite hat auch die Anthropologie die staunenswertesten Fortschritte gemacht; freilich zum Teil in solchen Gebieten, welche die Frage des Materialismus wenig berühren. Man hat die Krankheitsgespenster beseitigt, das medizinische Pfaffentum ein wenig zu erschüttern begonnen und durch die vergleichende und experimentierende Physiologie über die Funktionen der wichtigsten inneren Organe überraschende Aufschlüsse erhalten. In denjenigen Gebieten aber, welche in unmittelbarster Beziehung zu den Fragen des Materialismus stehen, haben die neueren Forschungen die Unzulänglichkeit früherer Vorstellungsweisen dargetan, ohne eine neue Theorie, auf die sich der Materialismus mit Sicherheit stützen könnte, an die Stelle zu setzen. Das Nervensystem ist in seiner Tätigkeit für uns kein solches Mysterium mehr, wie es noch für die Materialisten des vorigen Jahrhunderts war oder hätte sein müssen. Das Gehirn wurde in einigen Beziehungen besser verstanden als früher; es wurde mit riesigem Fleiße anatomisch durchforscht, gemessen, gewogen, analysiert, mikroskopisch betrachtet, in seinen Krankheitsformen studiert, mit Tiergehirnen verglichen und an Tieren dem Experiment unterworfen; allein über den physiologischen Zusammenhang und die Wirkungsweise seiner Teile ist es noch nicht einmal gelungen, eine umfassende Hypothese aufzustellen; um so mehr wird gefabelt; wobei denn freilich die Materialisten[755] nicht zurückstehn. Ein Gebiet, welches ihnen bessere Ausbeute ergab, ist das des Stoffwechsels, wie überhaupt die Anwendung von Physik und Chemie auf die Funktionen des lebenden Organismus. Hier unterliegen zwar manche Resultate einer vermeintlich exakten Forschung noch einer stark reduzierten Kritik; im ganzen aber läßt sich das Unternehmen als gelungen betrachten, den lebenden Menschen, wie er uns äußerlich gegeben ist, gleich allen organischen und unorganischen Körpern als ein Produkt der in der ganzen Natur waltenden Kräfte darzustellen. Ein äußerst wichtiges Gebiet, die Physiologie der Sinnesorgane, hat dagegen entscheidende Gründe für die Beseitigung des Materialismus ergeben, ist jedoch bisher wenig in die Debatte gezogen worden, weil die Gegner des Materialismus teils diese Art der Widerlegung für ihre Zwecke nicht brauchen können, teils aber der nötigen Kenntnisse entbehren. Unterdessen hat man auch versucht, die Psychologie einer naturwissenschaftlichen und sogar einer mathematisch-mechanischen Behandlungsweise zu unterwerfen. In der Psychophysik und in der Moralstatistik sind Wissenschaften aufgestellt worden, welche dies Bestreben zu unterstützen scheinen. Da man den materialistischen Streit in neuerer Zeit oft geradezu als einen Kampf um die Seele bezeichnet hat, so werden wir im Verlauf dieses Abschnittes auf alle diese Gebiete Rücksicht nehmen müssen.

Zunächst haben wir jedoch die Frage nach dem Ursprung und Alter des Menschengeschlechtes und nach der Stellung des Menschen zum Tierreiche zu erörtern: eine Frage, welche zur Zeit des von Büchner und Vogt hervorgerufenen Materialismusstreites zwar schon aufs lebhafteste besprochen wurde, welche jedoch erst seitdem durch einen seltenen Eifer der Forschung in allen beteiligten Kreisen der Willkür subjektiver Meinungen und gewagter Hypothesen einigermaßen entrissen ist. Man behandelt diese Fragen in der Regel im engsten Zusammenhange mit der Theorie Darwins vom Entstehen der Organismen; ja fast als den interessantesten Punkt und das eigentliche Hauptergebnis derselben. Nun ist aber so viel klar, daß das eigentlich naturwissenschaftliche Interesse der Deszendenztheorie mit der Durchführung des allgemeinen Prinzips für das Werden der Organismen zusammenfällt. Daß der Mensch mit in die große Kette dieses Werdens fällt, ist von naturwissenschaftlichem Standpunkte betrachtet durchaus selbstverständlich; insofern aber die Entstehung menschlicher Kultur und menschlichen Geisteslebens einer besondern Erklärung bedarf, ist es ganz[756] naturgemäß, daß die hierauf bezüglichen Untersuchungen sich auch in besondern Wissenschaften im engsten Zusammenhange mit dem großen Gesamtgebiete anthropologischer Fragen vollziehen. So behandelt man ja auch die Weltgeschichte einstweilen noch nicht als einen Teil der Naturgeschichte, so sehr sich auch jetzt schon spüren läßt, daß die Prinzipien des Kampfes um das Dasein auch hier ihre Rolle spielen.

Man kann den Dualismus von Geist und Natur kritisch zersetzen oder spekulativ »überwinden«; man kann vom Standpunkte der Naturwissenschaft aus als Axiom hinstellen, daß sich schließlich auch das Geistesleben als ein Produkt der allgemeinen Naturgesetze müsse begreifen lassen; aber man kann nicht verhindern, daß zwischen Natur und Geist unterschieden wird, solange wir zur Erkenntnis beider Gebiete verschiedne Ausgangspunkte und zur Beurteilung ihrer Erscheinungen verschiedne Wertmesser haben. Daß der Mensch sich aus einer tierischen Vorexistenz durch innere Entwicklung erst zum Menschen erhoben habe, wurde von Kant als selbstverständlich behandelt; er betrachtete aber den Durchbruch des Ich-Gedankens als den eigentlichen Moment der Menschenschöpfung.493 So wird auch noch jetzt die Hauptfrage stets diejenige der Urgeschichte des Geistes und der Kultur bleiben, da sich das Hervorgehen des Menschen aus der Tierwelt naturwissenschaftlich ganz von selbst versteht, während dagegen sein Geistesleben noch ein Problem bleibt, wenn auch alle Konsequenzen der Deszendenzlehre zugegeben sind. Gleichzeitig bedurfte es, um die wahre philosophische Anschauung auch weiteren Kreisen zugänglich zu machen, einer aufklärenden und befreienden Vorarbeit, zumal auf dem Gebiete der Geologie und der Paläontologie.

Die Dogmen von den Erdrevolutionen, von dem sukzessiven Auftreten der Geschöpfe, von dem späten Erscheinen des Menschen waren von vornherein dem Materialismus und mehr noch dem Pantheismus entgegengestellt. Während Buffon, De la Mettrie und später die deutschen Naturphilosophen, Goethe an der Spitze, den Gedanken der Einheit der Schöpfung lebhaft ergriffen, und die höheren Formen durchweg aus den niedern zu entwickeln versuchten, war es namentlich Cuvier, der als feinster Kenner des einzelnen diesen Einheitsbestrebungen entgegentrat. Er fürchtete den Pantheismus. Goethe vertrat gerade diese pantheistische Einheitsphilosophie am vollkommensten; schon früher geriet er mit Camper und Blumenbach wegen des Zwischenknochens in Differenz,[757] der angeblich den Affen vom Menschen scheiden sollte, und bis zu seinem Tode folgte er den Streitigkeiten über die Einheit aller Organismen mit der größten Aufmerksamkeit. So teilt er uns denn auch eine mürrische Äußerung Cuviers mit: »Ich weiß wohl, daß für gewisse Geister hinter dieser Theorie der Analogien, wenigstens verworrenerweise, eine andre sehr alte Theorie sich verbergen mag, die, schon längst widerlegt, von einigen Deutschen wieder hervorgesucht worden, um das pantheistische System zu begünstigen, welches sie Naturphilosophie nennen.«494 – Dieser Stolz des positiven Wissens gegenüber der überschauenden Gesamtansicht, der Eifer des unterscheidenden Forschers gegenüber den zusammenfassenden Denkern machte Cuvier blind gegen den großen logischen Unterschied zwischen dem Fehlen eines Beweises und dem Beweis für das Fehlen eines Vorkommnisses. Man kannte keine fossilen Menschen, und er tat den Machtspruch, daß es keine geben könne.

Ein solcher Ausspruch muß um so mehr auffallen, da ein negativer Satz in der Naturgeschichte überhaupt nur einen untergeordneten Wert hat; bei dem äußerst geringen Teil der Erdoberfläche, welcher damals durchforscht war, wäre es geradezu rätselhaft gewesen, daß man sich zu einer so allgemeinen Behauptung veranlaßt finden konnte, wenn nicht der Zusammenhang mit der Lieblingstheorie der sukzessiven Schöpfung eine Erklärung dafür gäbe. Die sukzessive Schöpfung war aber eine Art von Umgestaltung der biblischen Lehre von den Schöpfungstagen, die noch jetzt, wo sie den Tatsachen gegenüber nicht mehr zulässig ist, viele Anhänger findet. Vogt stellt in seiner lebhaften Polemik die damalige Theorie und die Entdeckungen der Gegenwart so prägnant und übersichtlich zusammen, daß wir uns nicht versagen können, dies Bild trotz einiger überflüssigen Witze hier einzufügen: »Es sind kaum dreißig Jahre her, daß Cuvier sagte: Es gibt keinen fossilen Affen und kann keinen geben; es gibt keinen fossilen Menschen und kann keinen geben – und heute sprechen wir von fossilen Affen wie von alten Bekannten und führen den fossilen Menschen nicht nur in die Schwemmgebilde, sondern sogar bis in die jüngsten Tertiärgebilde hinein, wenn auch einige Verstockte behaupten mögen, Cuviers Ausspruch sei eine Tat des Genies und könne nicht umgestoßen werden. Es sind kaum zwanzig Jahre her, als ich bei Agassiz lernte: Übergangsschichten, paläozoische Gebilde – Reich der Fische; es gibt keine Reptilien in dieser Zeit und konnte keine geben,[758] weil es dem Schöpfungsplan zuwider gewesen wäre; – sekundäre Gebilde (Trias, Jura, Kreide) – Reich der Reptilien; es gibt keine Säugetiere und konnte keine geben, aus demselben Grunde; – tertiäre Schichten – Reich der Säugetiere; es gibt keine Menschen und konnte keine geben; – heutige Schöpfung – Reich des Menschen. Wo ist heute dieser Schöpfungsplan mit seinen Ausschließlichkeiten hingeraten? Reptilien in den devonischen Schichten, Reptilien in der Kohle, Reptilien in der Dyas – lebe wohl, Reich der Fische! Säugetiere im Jura, Säugetiere im Purbeck-Kalk, den einige zur untersten Kreide rechnen, – auf Wiedersehen Reich der Reptilien! Menschen in den obersten Tertiärschichten, Menschen in den Schwemmgebilden- ein andermal wiederkommen, Reich der Säugetiere!«495

Merkwürdig ist, daß schon im nächsten Jahre nach dem Todesjahr Cuviers und Goethes ein Fund bekannt gemacht wurde, der allein genügt hätte, die Theorie des ersteren zu stürzen, wenn nicht Autoritätssucht und blindes Vorurteil weit verbreiteter wären, als schlichte Empfänglichkeit für den Eindruck der Tatsachen. Es ist dies der Fund des Dr. Schmerling in den Knochenhöhlen von Engis und Engihoul bei Lüttich. Einige Jahre später begann Boucher de Perthes seine rastlosen Forschungen nach menschlichen Überresten in den Diluvialgebilden, die erst nach langem Suchen durch die Entdeckungen im Tal der Somme belohnt wurden. Ein langer Streit brachte erst endlich diese Aufschlüsse zur Anerkennung, und von da an änderte sich allmählich die Richtung der Forschung. Eine neue Reihe höchst interessanter Entdeckungen bei Aurignac, Lherm und im Neandertal an der Düssel traf der Zeit nach zusammen mit dem allmählichen Siege der Lyellschen Ansicht über die Bildung der Erdrinde und mit Darwins neuer Lehre von der Entstehung der Arten. Mit der veränderten Ansicht der Fachmänner wurde auch manche ältere Notiz hervorgezogen und mit den neueren Entdeckungen zusammengestellt. Das Gesamtresultat war, daß sich in der Tat menschliche Überreste fanden, deren Beschaffenheit und Lagerstätte bewies, daß unser Geschlecht schon mit jenen früheren Arten des Bären, der Hyäne und andrer Säugetiere zusammen bestanden hat, die man nach den Höhlen benennt, in welchen sich ihre Überreste zu finden pflegen.

Welches Alter man nun aber diesen Überresten zuschreiben sollte, darüber sind so wechselnde und so weit auseinandergehende Annahmen gemacht worden, daß man nichts als die große Unsicherheit[759] aller bisherigen Berechnungsweisen daraus entnehmen kann. Vor zehn Jahren neigte man noch allgemein zu der Annahme von Zeiträumen, bei denen mit Hunderttausenden von Jahren gerechnet wurde; gegenwärtig ist dagegen eine starke Reaktion eingetreten, wiewohl sich nicht nur das Material für den Menschen der Diluvialzeit bedeutend vermehrt hat, sondern auch Spuren der Existenz unsres Geschlechtes in der Tertiärzeit vorhanden sind.496

In der Höhle von Cro-Magnons497 fand man (1868) menschliche Überreste von fünf verschiednen Individuen, zusammen mit den Knochen eines großen Bären, des Renntiers und andrer Tiere der Diluvialzeit. Man deutete die Eigentümlichkeiten dieser menschlichen Skelette auf eine Rasse von athletischer Kraft, tierischer Wildheit, aber gleichzeitig schon hoch entwickeltem Gehirn. In einigen tieferen Schichten der gleichen Höhle fand man Steinwerkzeuge und andre Spuren menschlicher Tätigkeit, welche zum Teil einem noch bedeutend älteren Geschlecht angehört haben müssen. In Hohenfels498, unfern Blaubeuren, entdeckte Professor Fraas (1870) einen uralten Aufenthaltsort von Menschen, welche drei verschiedne Arten von Bären, darunter den Höhlenbären, jagten und verzehrten. In der gleichen Höhle finden sich zahlreiche Reste des Rentiers, dessen Geweihe mit Feuersteinmessern zu Werkzeugen verarbeitet wurden. Auch ein Löwe, der an Größe der jetzt lebenden afrikanischen noch weit übertroffen haben muß, erlag den rohen Waffen dieser Höhlenbewohner. Nashorn und Elefant gehörten zu ihren Zeitgenossen.

Gerade der Entdecker dieser Denkmäler der Vergangenheit ist nun aber ein Hauptvertreter der kurzen Zeiträume. Mit großem Scharfsinn sucht Fraas in den Traditionen des Altertums und des Mittelalters überall noch Spuren auf für eine dämmernde Erinnerung an die Kulturzustände jener Höhlenzeit und den Verkehr mit der damaligen Tierwelt. In der Tat scheinen die Ansichten von besondern, Jahrtausenden dauernden Perioden des Mammut, des Höhlenbären, des Rentiers unhaltbar. Alle diese Tiere haben auf dem Boden von Mitteleuropa zusammengelebt, wenn auch die eine Gattung früher, die andre später vom Schauplatz verschwand. Die Erhaltung oder Zerstörung ihrer Knochen zeigt sich fast ausschließlich durch den Grad der Feuchtigkeit ihrer Lagerstätte bestimmt, und ihr Zustand gibt kein Kennzeichen ihres Alters. Wenn dabei Fraas durch seine eigentümliche Verbindung geologischer Kritik und mythologischer oder etymologischer Überlieferung auf[760] Zeiträume herabkommt, welche sich innerhalb der 6000 Jahre der biblischen Schöpfungsgeschichte bewegen, so ist dagegen, soweit gute Gründe vorliegen, nichts zu erinnern. Die vollständige Unabhängigkeit der Naturforschung von jener Tradition muß sich eben nicht nur darin zeigen, daß man in astronomischen und geologischen Theorien beliebig große Zeiträume annimmt, wo man deren bedarf, sondern auch darin, daß man ohne Rücksicht auf das stille Triumphlächeln der Feinde freier Wissenschaft sich mit Perioden von einigen tausend Jahren begnügt, wenn die Tatsachen darauf führen. Die freie Forschung erleidet dadurch so wenig eine wahre Einbuße, als der christliche Glaube nach seiner inneren Seite dadurch eine Stütze erhält, die zu seinem Fortbestande unentbehrlich wäre. Gleichwohl müssen wir auch hier wieder daran erinnern, daß es methodisch durchaus ungerechtfertigt ist, die großen Zahlen als etwas an sich Unwahrscheinliches zu behandeln, während vielmehr in zweifelhaften Fällen in der Regel die größere Zahl die größere Wahrscheinlichkeit für sich hat. Der Beweis muß für das Minimum geführt werden, und von einem solchen Beweise sind denn doch auch die Betrachtungen, welche Fraas aus der Tradition in der Sprache und Sage herbeigezogen hat, noch weit entfernt. Das entscheidende Wort in dieser Frage wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Astronomie zu sprechen haben. Schon jetzt bringt man die Spuren der Eiszeit auf zwei verschiedne Arten mit astronomischen Tatsachen in Verbindung: einmal mit dem periodischen Wechsel der Schiefe der Ekliptik und sodann mit den Veränderungen der Exzentrizität der Erdbahn. Während aber die letztere Erklärung die Eiszeit um mindestens 200000 Jahre, wenn nicht 800000, von der Gegenwart entfernt, führt die erstere auf eine Periode von nur 21000 Jahren, innerhalb welcher bald die nördliche, bald die südliche Hälfte der Erde ihre Eiszeit haben würde.499 Hier müssen sich ja wohl die verschiednen Ansichten darüber, ob diese Veränderungen einen so tiefgreifenden Einfluß auf die klimatischen Verhältnisse der Erde üben konnten oder nicht, mit der Zeit zu einer unanfechtbaren Entscheidung bringen lassen. Sollte das Resultat ein negatives sein, so würden dann einzig die terrestrischen Änderungen in der Höhe der Kontinente und der Meere, dem Lauf kalter und warmer Meeresströmungen usw. zur Erklärung übrigbleiben, wobei freilich die Hoffnung auf eine genaue Chronologie dieser Veränderungen sehr schwach werden müßte. Übrigens ist wohl zu beachten, daß nicht nur die beiden astronomischen[761] Ursachen einer Eiszeit nebeneinander bestehen könnten, sondern daß auch eine Zusammenwirkung derselben mit terrestrischen Veränderungen ernstlich ins Auge zu fassen ist. Nehmen wir z.B. an, daß die nördliche Hemisphäre vor etwa 11000 Jahren ein Maximum der Kälte hatte, so kann in der Übergangszeit von diesem Zustande zu dem gegenwärtigen, namentlich etwa in der Periode von 8000 bis etwa 4000 Jahren rückwärts gerechnet, sehr wohl unter dem Einflusse terrestrischer Ursachen die Eiszeit mehrmals geschwunden und wieder zurückgekehrt sein, bis endlich die zunehmende Wärme den Gletschern festere Schranken zog.

Danach wären selbst die Spuren vom Dasein des Menschen, welche bis in die Tertiärzeit zurückreichen, noch kein Beweis für eine nach hunderttausenden von Jahren zu berechnende Existenz unsres Geschlechtes.

Was heißt nun aber im Lichte der Wissenschaft überhaupt das »Alter des Menschengeschlechtes?« Da der Mensch so gut wie alle andern Organismen seinen physischen Ursprung von dem ersten Entstehen des organischen Lebens auf der Erde ableitet, so kann es sich also nur um die Frage handeln: zu welchem Zeitpunkt finden sich zuerst Wesen, welche in ihrer Organisation uns gleich sind, so daß also von jenem Zeitpunkte an keine wesentliche Entwicklung der äußeren Form und Anlage mehr stattgefunden hat? An diese Frage schließt sich dann auf der einen Seite sofort die jenige nach den Übergangsformen und Vorstufen des menschlichen Wesens, auf der andern die Frage nach den Anfängen der menschlichen Kultur. Die Übergangsformen haben wir aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht auf dem Boden des heutigen Europa zu suchen, welchen der Mensch erst nach Erlangung seiner fertigen Organisation als Einwanderer scheint betreten zu haben. »Die große Unterbrechung,« sagt Darwin, »in der organischen Stufenreihe zwischen dem Menschen und seinen nächsten Verwandten, welche von keiner ausgestorbenen oder lebenden Spezies überbrückt werden kann, ist oft als ein schwerwiegender Einwurf gegen die Annahme vorgebracht worden, daß der Mensch von einer niederen Form abgestammt ist; für diejenigen aber, welche durch allgemeine Gründe überzeugt an das allgemeine Prinzip der Evolution glauben, wird dieser Einwurf kein sehr großes Gewicht zu haben scheinen. Solche Unterbrechungen treten unaufhörlich an allen Punkten der Reihe auf, einige sind weit, sehr scharf abgeschnitten und bestimmt, andre in verschiedenen[762] Graden weniger nach diesen Beziehungen hin, so z.B. zwischen dem Orang und seinen nächsten Verwandten – zwischen dem Tarsius und den andern Lemuriden – zwischen dem Elefanten, und in einer noch auffallenderen Weise zwischen den Ornithorhynchus oder der Echidna und den andern Säugetieren. Aber alle diese Unterbrechungen beruhen lediglich auf der Zahl der verwandten Formen, welche ausgestorben sind. In irgendeiner künftigen Zeit, welche nach Jahrhunderten gemessen nicht einmal sehr entfernt ist, werden die zivilisierten Rassen der Menschheit beinahe mit Bestimmtheit auf der ganzen Erde die wilden Rassen ausgerottet und ersetzt haben. Wie Professor Schaaffhausen bemerkt hat, werden zu derselben Zeit ohne Zweifel auch die anthropomorphen Affen ausgerottet sein. Die Unterbrechung wird dann noch weiter gemacht werden, denn sie tritt dann zwischen dem Menschen in einem noch zivilisierteren Zustande als dem kaukasischen, wie wir hoffen können, und irgendeinem so tief in der Reihe stehenden Affen wie einem Pavian auf, statt daß sie sich gegenwärtig zwischen dem Neger oder Australier und dem Gorilla findet.«500

Um so mehr Lichtblicke hat man in neuester Zeit gewonnen hinsichtlich des Kulturzustandes jener Urbewohner Europas; ja, es scheint sogar, daß man einen ziemlich festen Faden gefunden hat, der vom Diluvialmenschen bis in die historische Zeit hineinreicht. Es sind hauptsächlich die Werkzeuge, die Produkte und Mittel seines Kunstfleißes, welche von der Lebensweise des Menschen in den verschiedenen Perioden des Kulturfortschrittes Zeugnis ablegen. In der Höhle von Lherm fand man die Menschenreste vermengt mit Knochen und Zähnen des Höhlenbären und der Höhlenhyäne unter einer dicken Tropfsteinschicht. »Außer den Menschenresten fanden sich Zeugnisse seiner Industrie, ein dreieckiges Kieselsteinmesser, ein Röhrenknochen des Höhlenbären, der zu einem schneidenden Instrumente umgeformt ist, drei Unterkiefer des Höhlenbären, dessen aufsteigender Ast mit einem Loche durchbohrt wurde, um sie aufhängen zu können, und der Augenzinken eines Hirschgeweihes, der zugeschnitzt und am Grunde zugespitzt ist. Die merkwürdigsten Waffen aber bestehen aus zwanzig halben Kinnladen des Höhlenbären, an welchen der aufsteigende Ast weggeschlagen und der Körper des Unterkiefers so weit zugespitzt wurde, daß er eine bequeme Handhabe bot. Der stark vorstehende Eckzahn bildete auf diese Weise einen Zacken der ebenso als Waffe wie als Hacke zum Aufreißen der Erde dienen[763] konnte. Hätten wir nur ein einziges dieser seltsamen Instrumente gefunden,« sagen die Verfasser (eines zu Toulouse erschienenen Berichtes, die Herren Rames, Garrigou und Filhol), »so könnte man uns einwerfen, daß es einem Zufalle seine Entstehung verdankte; wenn man aber zwanzig Kiefer findet, die alle in derselben Weise bearbeitet wurden, kann man dann auch noch von Zufall reden? Übrigens kann man der Arbeit folgen, mittels welcher der Urmensch der Kinnlade diese Gestalt gab. Man kann an jedem dieser zwanzig Kinnbacken die Einschnitte und Sägen züge zählen welche mit der Schneide eines schlecht zugeschärften Kieselmessers gemacht wurden.«501 In großen Massen hat man die Steininstrumente im Tal der Somme gefunden, und Boucher de Perthes hat der Anerkennung seiner Entdeckungen nicht wenig dadurch geschadet, daß er manchen Stücken eine zu künstliche Deutung zu geben versuchte. Der Kreideboden jener Gegenden ist reich an Feuersteinknollen, welche man nur so lange aufeinander schlagen muß, bis einer bricht, um aus den Bruchstücken Teile zu erhalten, welche nach einiger ferneren Behandlung die Äxte und Messer der Diluvialmenschen ergeben. Da nun auch der Affe schon gelegentlich sich des Steins als eines Hammers bedient, so könnte es scheinen als ertappten wir hier den Menschen auf einer noch ganz nah an die Entwicklung des Tieres grenzenden Stufe. Doch ist der Unterschied ein ungeheuer großer; denn eben die Ausdauer, welche auf die Fertigung eines Instrumentes verwandt wird, das sich nur mäßig über die Leistungen eines natürlichen Steines oder Steinsplitters erhebt, zeigt eine Fähigkeit, von den unmittelbaren Bedürfnissen und Genüssen des Lebens zu abstrahieren, und die Aufmerksamkeit um des Zweckes willen ganz auf das Mittel zu wenden welche wir sonst bei den Säugetieren und auch bei den Affen nicht leicht finden werden. Die Tiere bauen sich bisweilen recht künstliche Wohnungen, aber wir haben noch nicht gesehen, daß sie sich zur Herstellung derselben auch künstlicher Werkzeuge bedienen. Die Volkswirtschaft sucht bekanntlich an der Herstellung des ersten Werkzeuges das Wesen der Kapitalbildung zu entwickeln. Dieser Anfang menschlicher Entwicklung war jedenfalls beim Diluvialmenschen vorhanden. Unser heutiger Orang oder Schimpanse würde neben ihm volkswirtschaftlich ein Lump sein, ein reiner Vagabund. Nimmt man eine Entwicklung des Menschengeschlechtes durch endlose Stufen an, von den unscheinbarsten organischen Formen bis zu der heutigen Periode, dann ist gewiß[764] nicht der kleinste Zeitraum verflossen von da an, wo der Mensch bei einer kräftigen Organisation über wohlgebildete Hände und starke Arme verfügte, bis zu dem Augenblick, wo er diese Organe durch mühsam gearbeitete Kieselsteinmesser und Bärenkinnbacken unterstützte.

Neben jenen rohen Werkzeugen finden wir aber auch unzweideutige Spuren des Feuers. Schon in den ältesten Zeiten scheinen die Urbewohner Europas dies wichtigste aller menschlichen Hilfsmittel gekannt und benützt zu haben.502 »Das Tier,« sagt Vogt, »freut sich des Feuers, das zufällig entstanden ist und wärmt sich daran; der Mensch sucht es zu erhalten, zu erzeugen und zu verschiedenen Zwecken sich dienstbar zu machen.« In der Tat könnte ein Ritter des absoluten Unterschiedes zwischen Mensch und Tier keinen schöneren Satz finden, um noch den neuesten Entdeckungen gegenüber seinen Standpunkt damit zu verteidigen. Eben dies Voraussinnen, das Sorgen für ein späteres Bedürfnis ist es ja, was den Menschen Schritt für Schritt zur höheren Kultur geleitet hat, und was wir sonach schon in seiner so fernen Vorzeit charakteristisch finden. Trotzdem ist es bei ruhiger Überlegung selbstverständlich, daß wir von einem solchen absoluten Unterschiede nichts wissen und im Bereich der Wissenschaft nicht die leiseste Veranlassung finden, dergleichen anzunehmen. Wir haben weder irgendeine Kenntnis von der ferneren Entwicklungsfähigkeit der Tierwelt,503 noch von den Stufen, durch welche der Mensch wandeln mußte, bis er dahin kam, das Feuer zu pflegen und seinen Zwecken dienstbar zu machen.

Mit äußerstem Scharfsinn hat man die Ergebnisse einiger Fundstätten kombiniert, um hier auf die Reste eines Kannibalenschmauses, dort auf Begräbniszeremonien zu schließen. Wir übergehen diese interessanten Versuche, um noch kurz der Schlüsse über die Organisation der Diluvialmenschen zu gedenken, die man auf die Beschaffenheit der gefundenen Skeletteile gegründet hat. Hier ist nun leider zu berichten, daß es mit dem Material ziemlich traurig aussieht. Der Fund von Aurignac, vielleicht der interessanteste von allen, ist zu einem Denkmal der Unwissenheit eines Mediziners geworden, welcher 17 diluviale Skelette verschiedenen Alters und Geschlechtes auf dem Kirchhof verscharren ließ, wo man später, vermutlich durch Fanatismus veranlaßt, den Ort der Beerdigung nicht mehr wissen wollte. Nach acht Jahren sollten sämtliche dabei beschäftigte Personen, samt Zuschauern, diese Stelle vergessen haben![765] Vielleicht wird man sich später einmal besser erinnern. Einstweilen wird nun behauptet, daß sämtliche Skelette sehr kleiner Statur gewesen seien.504 Das Skelett aus dem Neandertal läßt auf einen Mann von mittlerer Statur und von außerordentlich kräftigem Muskelbau schließen. Der Neandertaler Schädel ist der affenähnlichste von allen, welche wir kennen. Man könnte daraus auf einen Zustand großer Wildheit dieser diluvialen Rasse schließen. Daneben haben wir nun aber einen Schädel aus der Höhle von Engis bei Lüttich, welcher durchaus wohlgebaut ist und kein Merkzeichen einer tieferen Entwicklungsstufe an sich trägt. An den Skeletten von Cro-Magnon endlich findet sich ein hoch entwickelter Schädelbau, verbunden mit einer ungünstigen Bildung des Gesichts und einer Entwicklung der Kinnlade, welche auf Brutalität deutet, während die Beschaffenheit des Skeletts nicht nur von einer gewaltigen Ausbildung der Muskelkraft zeugt, sondern auch mehrere affenartige Züge verrät.505

Wir sehen daraus einmal, daß von einer einheitlichen Rasse des Diluvialmenschen nicht die Rede sein kann, und dann ferner, daß eine sehr bedeutende Entwicklung des Gehirns nicht nur in die ältesten Zeiten zurückreicht, von denen wir Kunde besitzen, sondern daß sie auch mit einem Zustand großer Roheit und wilder Kraft vereinbar ist. Ob wir nun daneben den Neandertalschädel als eine pathologische Mißbildung oder als Typus eines besonders tief stehenden Stammes zu betrachten haben, mag hier dahingestellt bleiben. Wir werden jedenfalls annehmen müssen, daß schon in jener Urzeit Europa nicht von einem einzigen, sondern von mehreren verschiedenen menschlichen Stämmen bewohnt war. Keiner dieser Stämme befand sich, selbst in den frühesten Zeiten von denen wir Spuren haben, in einem Zustande, der sehr wesentlich hinter demjenigen der unkultiviertesten Wilden unsrer Zeit zurücksteht. Auch wenn wir den Neandertaler Schädel als Typus eines Stammes betrachten, so haben wir immer noch kein Recht, diesen Stamm auf eine Stufe zu versetzen, welche vom Affen zum Menschen hinüberleitet. Die Forschung übereilt sich leicht bei so neuen und seltsamen Erscheinungen, zumal wenn sie die herrschenden Ideen in glänzender Weise zu bestätigen scheinen. Mit ungeduldiger Hast greift man gern nach jedem neuen Funde, um ihn zur Vervollständigung jener Entwicklungsreihe zu verwerten, welche das Kausalitätsgesetz unsres Verstandes fordert. Allein gerade diese Hast ist noch ein Rest von Mißtrauen in die Sache des Verstandes; gleich als[766] könnte sein Spiel plötzlich wieder zugunsten des Dogmatismus verloren gehen, wenn nicht schleunigst positive Beweise für die Übereinstimmung der Natur mit einer vernünftigen Vorstellungsweise herbeigeschafft würden. Je vollständiger man sich von allen dogmatischen Nebeln irgendwelcher Art befreit, desto gründlicher wird dieses Mißtrauen verschwinden. Für Epikur war es noch das Wichtigste, nur zu zeigen, daß alle Dinge auf irgendeine begreifliche Weise entstanden sein könnten. Diese prinzipielle Begreiflichkeit alles Gegebenen steht ja für uns hinlänglich fest; einerlei, ob man sie aus einer genügenden Erfahrung ableitet, oder a priori deduziert. Wozu denn die Eile? Derselbe Schlag von Menschen, welcher ehemals am eifrigsten auf Cuviers Dogma schwur, daß es keine fossilen Menschen gebe, schwört jetzt auf das Fehlen der Übergangsstufen: das ewige Bemühen, durch negative Sätze die Schwelle zu retten, welche mit positiven Sätzen nicht zu befestigen ist! Man lasse es also ruhig dabei bewenden, daß auch das Diluvium uns bis jetzt nicht zu einem Zustande des Menschen führt, der sich von dem des Australnegers wesentlich unterscheidet.506

Besser steht es mit den Zwischenstufen zwischen dem Diluvialmenschen und der historischen Zeit. Hier ist in den letzten Jahren ein Feld gewonnen worden, dessen eifriger Anbau uns eine vollständige Vorgeschichte der Menschheit verspricht. Dahin gehören jene viel besprochenen »Küchenabfälle«, uralte Anhäufungen entleerter Austern- und Muschelschalen, die sich an einigen Küstenstrecken Dänemarks von unzweifelhaften Spuren menschlicher Tätigkeit begleitet gefunden haben. Dahin gehören namentlich auch die Pfahlbauten der schweizerischen und europäischer Seen; ursprünglich wohl Zufluchtsstätten und Vorratshäuser, später vielleicht gar Stapelplätze für den Handel der Uferbewohner. Die höchst merkwürdigen Bauten wurden schnell nacheinander in großer Anzahl entdeckt, nachdem Dr. Keller die erste solche Fundstätte im Winter 1853 auf 1854 bei Meilen am Zürichsee erblickt und in ihrer Bedeutung erkannt und gewürdigt hatte. Man unterscheidet gegenwärtig in den Gegenständen, welche man namentlich da in reicher Zahl findet, wo die Pfahlbauten Brandspuren tragen, drei verschiedene Zeitalter, von denen das jüngste, das eiserne, bis in die Gegenwart hineinreicht. Die früheren Zeitalter sind aber nicht nach der Mythe der Alten, das silberne und das goldene, sondern sie führen uns in eine Zeit zurück, in welcher die betreffenden[767] Stämme nur Gerätschaften aus Bronze besaßen, und endlich in die Steinzeit, deren Aufdämmern wir schon bei den Diluvialmenschen gefunden haben.

Aber auch diese Perioden haben, wie die fortschreitende Untersuchung gelehrt hat, nur eine relative Bedeutung. Es können Völkerschaften hier im Zustande der Steinzeit gelebt haben, während anderwärts gleichzeitig schon eine hohe Kultur sich entfaltet hatte. Steinwerkzeuge, an die man sich einmal gewöhnt hatte und die bei gutem Material und gelungener Bearbeitung zu manchen Zwecken Vortreffliches leisteten, konnten sich noch lange Zeit im Gebrauch erhalten, während daneben schon Metalle benutzt wurden, wie wir ja auch heutzutage noch bei wilden Stämmen Stein- und Muschelwerkzeuge aller Art in Gebrauch finden, und zwar oft neben importierten Metallwerkzeugen europäischer Arbeit. – Wir mögen uns also der reichen Aufschlüsse erfreuen, welche uns namentlich die Pfahlbauten für die Geschichte der ältesten Gewerbe, der Lebensweise und der allmählich wachsenden Kultur vorhistorischer Stämme geben: über das, was zuerst den Menschen strenger von den Tiergeschlechtern schied, also über die eigentlichen Anfänge spezifischen Menschendaseins finden wir hier keinen Aufschluß.

Ein Umstand verdient jedoch hervorgehoben zu werden, der allerdings mit den ersten Anfängen des spezifisch Menschlichen in wesentlicher Verbindung zu stehen scheint: es ist das Auftreten des Schönheitssinnes und gewisser Anfänge der Kunst in Zeiten, in welchen der Mensch offenbar noch im wilden Kampf mit den großen Raubtieren lebte und ein Dasein voller Schrecknisse und Wechselfälle der störendsten Art mühsam behauptete. In dieser Beziehung sind vor allen Dingen die Umrißzeichnungen von Tiergestalten auf Steinen und Knochen zu erwähnen, welche man zuerst in den südfranzösischen Höhlen und neuerdings auch unfern von Schaffhausen bei Thaingen gefunden hat. Dazu kommt, daß auch in den ältesten und rohesten Resten von Töpferarbeit fast immer eine gewisse Rücksicht auf Gefälligkeit der Form zu beobachten ist und daß die Elemente der Ornamentik fast so alt scheinen, als die Fertigkeit in der Herstellung von Waffen und Geräten überhaupt.507 Wir haben hier eine bemerkenswerte Bestätigung der Gedanken vor uns, welche Schiller in seinen »Künstlern« niedergelegt hat; denn wenn wir uns die wilde Leidenschaftlichkeit des Urmenschen vorstellen, so haben wir ihr gegenüber kaum eine andre Quelle erziehender[768] und erhebender Ideen als die Gesellschaft und den Schönheitssinn. Man wird dadurch unwillkürlich an die bekannte Frage erinnert, ob der Mensch früher gesungen oder gesprochen habe? Hier schweigt die Paläontologie, aber dafür treten anatomische und physiologische Betrachtungen ein. Nach Jägers scharfsinniger Bemerkung ist die feine Handhabung der Atembewegungen, namentlich die leichte und freie Regelung des Ausatmens, eine Vorbedingung des Sprachgebrauchs und diese Bedingung kann erst durch die aufrechte Stellung vollständig erfüllt werden. Dies gilt natürlich auch für den Gesang, daher die Vögel, welche diese Freiheit des Brustkastens besitzen, die geborenen Sänger sind und zugleich verhältnismäßig leicht sprechen lernen. Darwin neigt dazu, dem Gesang die Priorität einzuräumen. »Wenn wir die geschlechtliche Zuchtwahl behandeln«, bemerkt er, » werden wir sehen, daß der Urmensch oder wenigstens irgendein sehr früher Stammvater des Menschen wahrscheinlich seine Stimme, wie es heutigestags einer der gibbonartigen Affen tut, in ausgedehnter Weise dazu benutzte, echt musikalische Kadenzen hervorzubringen, also zum Singen. Nach einer sehr weit verbreiteten Analogie können wir schließen, daß dieses Vermögen besonders während der Werbung der beiden Geschlechter ausgeübt sein wird, um verschiedene Gemütsbewegungen auszudrücken, wie Liebe, Eifersucht, Triumph, und gleichfalls um als Herausforderung für die Nebenbuhler zu dienen. Die Nachahmung musikalischer Ausrufe durch artikulierte Laute mag Worten zum Ursprung gedient haben, welche verschiedene komplexe Erregungen ausdrückten.«508

Daß bei der Entstehung der Sprache auch die Nachahmung von Tierlauten, wie Darwin annimmt, eine Rolle gespielt habe, ist sehr wahrscheinlich, da hier ein durch den bloßen Nachahmungstrieb hervorgerufener Laut sehr leicht Bedeutung gewinnen mußte. Der Rabe z.B., welcher aus eigner Erfindung das Bellen des Hundes und die gackernden Töne der Hühner nachahmt, verbindet mit diesen Lauten gewiß auch die Vorstellung der betreffenden Tierklasse, da er weiß, wem diese Laute zukommen und wem nicht. Er hat also an seiner Erfindung schon eine Stütze für die Begriffsbildung, deren Anfänge überhaupt den Tieren keineswegs fremd sind. Die reflektorischen Naturlaute des Staunens, Schreckens usw. mußten ohnehin allen gleichartig organisierten Wesen verständlich sein, da sie ja auch bei den Tieren ein unverkennbares Mittel der Verständigung bilden. Hier haben wir ein subjektives,[769] dort ein objektiv darstellendes Moment der Sprachbildung. Die Verbindung beider mußte dem subjektiven strengere Formen, dem objektiven mehr Inhalt geben.509

Betrachtet man die Geschichte der menschlichen Kultur im Lichte der neuesten Forschungen, so wird man hinsichtlich des Ganges der Errungenschaften an die Linien einer Hyperbel erinnert, deren Ordinaten, die Kulturentwicklung darstellend, anfangs unendlich langsam ansteigen auf ungeheuren Abszissen der Zeit, dann schneller und schneller, und endlich erfolgt in mäßigem Zeitraum ein ungeheurer Fortschritt. Wir brauchen dies Bild, um einen Gedanken vollständig klar zu machen, der uns von Wichtigkeit scheint. Es ist nämlich mit der Entwicklung der physischen und selbst der psychischen Eigenschaften der Völker ganz anders beschaffen. Hier scheint vielmehr der Fortschritt in der Begabung der Individuen und Nationen nur ein ganz langsamer und allmählicher. Dies rührt wohl daher, daß der Mensch mit gleichen Fähigkeiten ein weit höheres Ziel erreicht, wenn er in einer sehr geförderten Umgebung sich befindet, als wenn er unter den rohesten Überlieferungen aufwächst. Es scheint fast, als sei eine sehr mäßige Begabung dazu ausreichend, um sich im Lauf einer etwa zwanzigjährigen Kindheit und Jugend auch in die entwickeltsten Kulturverhältnisse so weit hineinzufinden, daß man selbsttätig mit eingreifen kann. Bedenkt man aber, daß in früheren Jahrhunderten meist bloß Tatsachen und vereinzelte Erfahrungen oder Kunstgriffe überliefert wurden, während die Neuzeit auch Methoden überliefert, mittels welcher ganze Reihen von Entdeckungen und Erfindungen gewonnen werden, so sieht man den Grund des schnellen Steigens der heutigen Kultur leicht ein, ohne deshalb in der Gegenwatt einen plötzlichen Aufschwung der Menschheit zu einem höheren geistigen und leiblichen Dasein erblicken zu müssen. Ja, wie das Individuum oft zu seinen bedeutendsten geistigen Schöpfungen erst in einem Alter gelangt, in welchem die Kräfte des Gehirns bereits in Abnahme sind, so ist es auch an sich nicht undenkbar, daß unserm gegenwärtigen Aufschwung keineswegs jene elastische Jugendkraft der Menschheit zugrunde liegt, welche wir so gern annehmen. Wir sind weit entfernt, in dieser Beziehung irgendeine positive Ansicht hinzustellen, wozu niemand das Zeug haben kann. Wir können aber das Thema der Entwicklung des Menschengeschlechtes nicht verlassen, ohne wenigstens zu zeigen, wie wenig das Dogma von dem stetigen Fortschritt der Menschheit[770] objektiv begründet ist. Die kurze Spanne der Geschichte, die freilich noch nicht genug Fälle bietet, um auch nur einen wahrscheinlichen Erfahrungssatz zuzulassen, geschweige denn ein »Gesetz«, hat uns schon mehrmals gezeigt, wie äußere Entfaltung und inneres Absterben der Nation Hand in Hand gingen, und die Neigung der Menge wie der »Gebildeten«, nur für ihr materielles Wohl zu sorgen und sich dem Despotismus zu unterwerfen, ist im Altertum und vielleicht auch bei mehreren Kulturvölkern des Orients ein Symptom solchen innern Absterbens gewesen. Wir haben damit den theoretischen Ort einer Frage bezeichnet, die wir im letzten Abschnitt von einem ganz andern Gesichtspunkte aus betrachten wollen.

Wie die Frage nach dem Alter des Menschengeschlechtes den Materialismus im Grunde nur als den offensten und handgreiflichsten Opponenten gegen unklare theologische Vorstellungen beschäftigt, während sie mit der innersten Grundlage des spezifischen Materialismus wenig zu schaffen hat, so ist es auch mit der Frage nach der Arteinheit des Menschengeschlechtes. Diese Frage ist eine bloße Umbildung der Frage der Abstammung von einem Paare, wie Cuviers Theorie der Erdrevolutionen eine Umbildung der Sage von den Schöpfungstagen war, und wie die Lehre von der Unveränderlichkeit der Arten sich auf die Arche Noah zurückführen läßt. Ohne die allmähliche Loslösung von diesen Traditionen wäre die angeblich so vorurteilsfreie Wissenschaft gar nicht dahin gekommen, diese Fragen so eifrig zu behandeln, und der Kampf des größeren Irrtums mit dem geringeren ist auch hier eine Quelle mancher förderlichen Erkenntnis geworden. Um etwas zu entscheiden, wovon niemand eine klare Vorstellung hat, nämlich ob die Menschheit eine Einheit bilde, hat man Schädel gemessen, Skelette studiert, Proportionen verglichen und jedenfalls die Ethnographie bereichert, den Gesichtskreis der Physiologie erweitert und zahllose Tatsachen der Geschichte und Anthropologie gesammelt und der Vergessenheit entrissen. In Beziehung auf die Hauptsache aber ist durch all diesen Fleiß nichts entschieden, als etwa dies, daß die innerste Triebfeder dieser Erörterungen nicht in einem rein wissenschaftlichen Interesse liegt, sondern in mächtigen Parteifragen. Die Sache wurde hier dadurch verwickelter, daß außer dem vermeintlichen religiösen Interesse noch die Sklavenfrage von Nordamerika herüber mächtig in diesen Streit eingegriffen hat. In solchen Fällen begnügt sich der Mensch leicht mit den[771] wohlfeilsten und fadenscheinigsten Gründen, denen dann durch den Pomp der Gelehrsamkeit und den Anstrich wissenschaftlicher Form Nachruck gegeben wird. So ist namentlich das Werk der Herren Nott und Gliddon (types of mankind, 1854) ganz von der amerikanischen Tendenz durchdrungen, die Neger als möglichst niedrig und tierähnlich organisierte Wesen erscheinen zu lassen, da aber in der Behandlung dieser Fragen bisher die entgegengesetzte Tendenz vorherrschte, so hat gerade dies Buch viel zu einer schärferen Erfassung der charakteristischen Merkmale der Rassen beigetragen. Die in mancher Beziehung vortreffliche Anthropologie der Naturvölker des für die Wissenschaft zu früh verstorbenen Waitz leidet dagegen wieder ganz an einer durchgehenden Überschätzung der Gründe, welche für die »Einheit« der Menschheit sprechen. Dies geht so weit, daß Waitz sich sogar häufig auf den ganz unzuverlässigen und unwissenschaftlichen Prichard beruft, daß er Blumenbach (1795!) in den Fragen der Art- und Rassenunterschiede noch jetzt als erste Autorität betrachtet, daß er R. Wagners Sammlung von Bastardfällen (zu Prichard) mit dem Beiwort »sorgfältig« beehrt und endlich gar auf den Satz verfällt: »Was sollten in der Tat auch die spezifischen Unterschiede in der Natur noch für eine Bedeutung haben und als wie unzweckmäßig erschiene ihre Festigkeit, wenn ihre Verwischung durch fortlaufende Bastardzeugungen möglich wäre?« Daß auf solchem Standpunkt eine Leistung in der Hauptfrage nicht zu erwarten ist, selbst wenn die Entscheidung an sich möglich wäre, bedarf keines Beweises. Wie es denn überhaupt gehen kann, wo man Dinge auf mühevollen Umwegen zu beweisen sucht, die jeden Augenblick durch die Erfahrung widerlegt werden können, mag nur das eine Beispiel zeigen, daß Waitz noch ruhig Hasen und Kaninchen als Arten anführt, welche jedem Kreuzungsversuche widerstehen, während Herr Roux in Angoulême mit seinen Dreiachtelhasen, einer von ihm erfundenen neuen Tierspezies – oder Rasse wenn man lieber will – schon seit acht Jahren vortreffliche Geschäfte macht.510

Die Idee der Einheit des Menschengeschlechtes bedarf heutzutage der Stütze nicht mehr, die sie in der Lehre von der gemeinsamen Abstammung einst gefunden haben mag; wiewohl man zweifeln kann, ob bei dem Verkehr der Spanier mit den Indianern, der Kreolen mit ihren Negersklaven der Mythus von Adam und Eva mildernd eingewirkt hat. Die wesentlichen Punkte: Ausdehnung[772] des Anspruchs auf Humanität auf Menschen jeder Rasse, Gewährung der Rechtsgleichheit im gemeinsamen Staatenverband, Anwendung der völkerrechtlichen Grundsätze bei nachbarlichem Verkehr lassen sich ganz wohl feststellen und behaupten, ohne deshalb auch die absolute Gleichbefähigung der Rassen mit in den Kauf zu nehmen. Die Abstammung von einem gemeinsamen Urstamme aber verbürgt die Gleichheit der Befähigung durchaus nicht, da ein jahrtausendelanges Zurückbleiben in der Entwicklung schließlich zu jedem beliebigen Grade der Inferiorität führen könnte. Nur so viel scheint die gemeinsame Abstammung allerdings zu verbürgen, daß ein zurückgebliebener und sogar in seinen niedrigen Eigenschaften verhärteter und verkommener Stamm dennoch durch Umstände unberechenbarer Art einer höheren Entwicklung entgegengeführt werden könnte. Das ist aber nach den Grundsätzen der Deszendenzlehre nicht nur für zurückgebliebene Menschenrassen, sondern selbst für Tiergeschlechter als Möglichkeit stets offen zu lassen.

Die »Abstammung vom Affen«, welche von denjenigen am grimmigsten zurückgewiesen wird, die am wenigsten durch innere Würde des Geistes über die sinnliche Grundlage unsres Daseins erhaben sind, ist bekanntlich im eigentlichen Sinne des Wortes keine Konsequenz der Lehre Darwins. Diese geht vielmehr dahin, daß in irgendeinen Zeitpunkt der Vorgeschichte der Menschheit eine gemeinsame Stammform511 verlegt wird, von welcher sich dann nach der einen Seite, aufstrebend, der Mensch abzweigte, nach der andern, in tierischer Bildung verharrend, der Affe. Danach wären die Vorfahren des Menschen als affenähnlich gebildete, aber schon mit der Anlage zur höheren Entwicklung begabte Wesen zu denken, und so ungefähr scheint auch Kant sich die Sache vorgestellt zu haben. Noch günstiger für das Stammbaumvorurteil des Menschen scheint sich die Sache bei der Annahme der polyphyletischen Deszendenztheorie zu gestalten. Hier kann man den Vorsprung des Menschen in der Entwicklungsfähigkeit zurückverlegen bis in die ersten Anfänge des organischen Lebens. Es versteht sich jedoch ganz von selbst, daß dieser Vorteil, der im Grunde nur eine Bequemlichkeit für die Ordnung unsrer Gedanken und Gefühle ist, nicht das mindeste Gewicht zugunsten der polyphyletischen Theorie in die Waagschale werfen darf; denn sonst würden die naturwissenschaftlichen Gründe durch Beimischung subjektiver und ethischer Motive gefälscht. Auch ist in der Tat für den Stolz des[773] Menschen bei näherer Betrachtung mit dieser bloß äußerlichen Entfernung vom Tierstamme nicht viel gewonnen, und es braucht auch nichts für diesen Stolz gewonnen zu werden, denn er ist ja doch nur ein unberechtigter Trotz gegen den Gedanken der Einheit des Alls und der Gleichheit des Bildungsprinzips in dem großen Ganzen des organischen Lebens, von welchem wir nur einen Teil ausmachen. Man beseitige diesen unphilosophischen Trotz und man wird finden, daß der Ursprung aus einem schon hoch organisierten Tierkörper, in welchem das Licht des Gedankens schöpferisch hervorbricht, schicklicher und zusagender ist, als der Ursprung aus einem unorganischen Erdenkloß.

Man entferne immerhin den Menschen aus naturwissenschaftlichen Gründen möglichst weit von den heutigen Affen, so wird man doch nicht umhin können, in seine Vorgeschichte eine Reihe der Eigenschaften zu verlegen, welche uns jetzt am Affen am meisten zuwider sind. Snell, welcher in seiner geistvollen Schrift über die Schöpfung des Menschen (Jena 1863) dem Ziele sehr nahe gekommen ist, die strengsten Forderungen der Wissenschaft mit der Wahrung unsrer sittlichen und religiösen Ideen zu vereinigen, hat jedenfalls darin geirrt, wenn er glaubt, das Menschliche müsse sich in den früheren Tierformen, aus denen es emporstieg, schon durch etwas Ergreifendes und Ahnungsvolles in Blick und Gebärden kundgegeben haben. Wir dürfen in keiner Weise die Bedingungen der Perfektibilität mit einem früheren Hervortreten ihrer Früchte verwechseln. Was uns jetzt das Edelste und Höchste scheint, kann sich sehr wohl erst als letzte Blüte eines still und sicher dahinfließenden, mit bildenden Eindrücken aller Art reich gesättigten Lebens entfalten, während die Möglichkeit eines solchen Lebens durch ganz andre Eigenschaften errungen werden mußte.

Der erste Schritt zur Ermöglichung der Kultur des Menschen ist vermutlich die Erlangung des Übergewichtes über alle andern Tiere gewesen, und es ist nicht wahrscheinlich, daß er sich hierzu wesentlich andrer Mittel bedient habe, als er noch jetzt zum Zweck der Herrschaft über seinesgleichen zu verwenden pflegt. List und Grausamkeit, wilde Gewalttat und lauernde Tücke müssen in jenen Kämpfen eine bedeutende Rolle gespielt haben; ja man kann die Tatsache, daß der Mensch noch heute, wo er es bei einiger Übung seiner Vernunft so leicht besser haben könnte, immer wieder in jene Launen des Räubers und Unterdrückers zurückfällt vielleicht aus der Nachwirkung des jahrtausendelangen Kampfes[774] mit Löwen und Bären, in früheren Zeiten vielleicht mit anthropoiden Affen herleiten. Dabei ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß sich gleichzeitig schon echte Tugenden neben der Intelligenz im Kreise der Stammes- und Familiengemeinschaft entwickelten. Man bedenke nur einmal die ungeheure Kluft, welche noch im gebildeten Altertum obwaltet zwischen dem inneren Leben der einzelnen Staaten und Städte und ihrem oft grenzenlos barbarischen Verhalten gegen überwundene Feinde!

Man kann also auch aus psychologischen Gründen die Stammverwandtschaft des Menschen mit dem Affen nicht verwerfen; es sei denn etwa, daß man wenigstens den Orang und Schimpansen für viel zu sanft und friedfertig ansähe, als daß aus Wesen dieser Art jene Höhlenbewohner hätten hervorgehen können, welche den Riesenlöwen der Vorzeit überwanden und aus dem zerschmetterten Schädel desselben gierig das rauchende Gehirn schlürften.[775]

493

Vgl. u. a. folgende Stellen: Anthropol. § 1: »Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andre auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und, vermöge der Einheit des Bewußtseins, bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen.« – Ferner die »Anmerkung« zu dem Aufsatze: »Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte« (1786), Hartenst. IV, S. 321: »Aus dieser Darstellung der ersten Menschengeschichte ergibt sich, daß der Ausgang des Menschen aus dem ihm durch die Vernunft als erster Aufenthalt seiner Gattung vorgestellten Paradiese nichts andres als der Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte: aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit gewesen sei.« – In der Rezension der Schrift von Moscati (1771), Hartenst. II, S. 429 ff. stimmt Kant den Gründen zu, welche der italienische Anatom für den ursprünglich vierfüßigen Gang des Menschen anführt. Die Schlußworte der Rezension lauten: »Man siehet daraus, daß die erste Vorsorge der Natur sei gewesen, daß der Mensch, als ein Tier, für sich und seine Art erhalten werde, und hierzu war diejenige Stellung, welche seinem inwendigen Bau, der Lage der Frucht und der Erhaltung in Gefahren am gemäßesten ist, die vierfüßige; daß in ihm aber auch ein Keim von Vernunft gelegt sei, wodurch er, wenn sich solche entwickelt, für die Gesellschaft bestimmt ist, und vermittelst deren er für beständig die hierzu geschickteste Stellung, nämlich die zweifüßige, annimmt, wodurch er auf einer Seite unendlich viel über die Tiere gewinnt, aber auch mit Ungemächlichkeiten vorlieb nehmen muß, die ihm daraus entspringen, daß er sein Haupt über seine alten Kameraden so stolz erhoben hat.« Nicht ganz so bestimmt hinsichtlich des vierfüßigen Ganges lautet die Stelle in der Anthropologie II, E »vom Charakter der Gattung«, Hartenst. VII, S. 647, an welcher Kant die vom tierischen Zustande her überkommene »technische Anlage« des Menschen erörtert und schließlich noch die Frage aufwirft: ob er von Natur ein geselliges oder einsiedlerisches und nachbarschaftscheues Tier sei; wovon das letztere wohl das wahrscheinlichste ist.

494

Goethe, in den kleineren Schriften »zur Naturwissenschaft im Allgemeinen«, Principes de philosophie zoologique, par Geoffroyde St. Hilaire, gegen Schluß des ersten Abschnitts.

495

Vogt, Vorlesungen über den Menschen. Gießen 1863, II, S. 269.

496

Vierteljahrs-Revue der Fortschr. der Naturw. hg. von d. Red. d. Gäa (Dr. H. Klein) I. Bd., Leipzig und Köln 1873, S. 77 u. f.: »Wenn auch die von Desnoyers im tertiären Sande des Sommetales aufgefundenen Knochen von Elephas meridionalis mit deutlichen Einschnitten nur eine zweifelhafte Bedeutung beanspruchen können, weil Lyell überzeugend nachgewiesen hat, daß ähnliche Einschnitte auch von gewissen Nagetieren in den Ablagerungen der dortigen Gegend hervorgebracht werden, so lassen doch die Einschnitte, welche Delaunay auf zwei Rippen des Halitheriums, einer ausgestorbenen Seekuh der jüngeren Tertiärformation, nachgewiesen hat, sich nicht auf spätere Anbringung zurückführen, sondern stammen offenbar aus einer Zeit, in welcher die Knochen noch nicht versteinert waren. Abbé Bourgeois hat bei Pont-Leroy unter dem mergeligen Kalk von Beauce eine Schicht mit Kieseln gefunden, die unzweifelhaft von Menschenhand bearbeitet worden sind (zit.: Mort. Matériaux II. Ser. V. p. 297). Es ist bekannt, wie schwierig es unter Umständen ist, zu entscheiden, ob man es mit Natur- oder Kunstprodukten zu tun hat. Im vorliegenden Falle sind aber Lartet, Mortillet, Worsae und andere erfahrene Forscher übereinstimmend der Ansicht, daß die Feuersteine von Thenay bei Pont-Leroy von Menschen bearbeitet wurden, und daß sie aus einer ungestörten, der mittleren Tertiärzeit angehörigen Lage herstammen.« – Vgl. ebendas. S. 81 über den merkwürdigen Fund Tardys »der bei Aurillac zusammen mit fossilen Überresten des Dinotherium ein roh zugehauenes Steinmesser entdeckte welches in der miozenen Zeit angefertigt sein muß.«

497

Vierteljahrs-Revue I, S. 99 u. ff.

498

Vierteljahrs-Revue I, S. 102 u. ff.

499

Vgl. Lubbock, die vorgeschichtl. Zeit, erläutert durch die Überreste des Altertums und die Sitten und Gebräuche der jetzigen Wilden, übers. v. Passow, mit Vorw. von R. Virchow, Jena 1874. Daselbst II, S. 110 u. ff. über die Theorie Adhémars, nach welcher die nördliche und südliche Hemisphäre zwar gleich viel Wärme von der Sonne empfangen, aber nicht gleich viel zurückbehalten, wegen der größeren Zahl der (mit Ausstrahlung verbundenen) Nachtstunden auf der südlichen Hemisphäre. Ist diese Differenz einmal zugestanden, so ergibt sich auch der Wechsel im Zustande beider Hemisphären in der bekannten Periode von etwa 21000 Jahren. – Über die klimatischen Wirkungen der Veränderungen in der Exzentrizität der Erdbahn s.a.a.O.S. 116 eine Tabelle, welche bis auf eine Million Jahre zurückgeht und in welcher zwei Perioden der größten Kälte besonders hervortreten, von denen die eine (von Lyell bevorzugt!) etwa 800000 Jahre die andre dagegen nur etwa 200000 Jahre vor unsrer Zeit muß stattgefunden haben.

500

Darwin, die Abstammung des Menschen u. d. geschl. Zuchtwahl, Stuttg. 1871, I, S. 175.

501

Ein ganz ähnliches Werkzeug fand Professor Fraas in Hohlenfels: »Dem Unterkiefer« (des Bären) »wurde sein Condylus und sein Processus coronoideus abgeschlagen, um das Stück handlich zu machen und so ein Werkzeug hergestellt, das mit dem scharfen Eckzahn an der Spitze die Stelle eines Fleischerbeils zu vertreten hatte. Der Fund eines einzigen derartig zugestutzten Unterkiefers würde natürlich als nichtssagend anzusehen sein; sobald aber eine größere Anzahl ganz gleich behandelter Stücke gefunden wurde, erkannte man die absichtliche Bearbeitung in dieser Form.« »Nach genauester Prüfung aller an den Knochen der Bären sichtbaren Hiebspuren überzeugte ich mich vollständig, daß es bräuchlich war unter jenem Stamme, mit dem ausgelösten Bärenkiefer die Knochen des Wildes aus dem Fleisch zu schlagen.« »Ich habe es versucht, auf frische Knochen mit dem alten tausendjährigen Bärenkiefer zu schlagen und habe z.B. in frische harte Hirschknochen mit großer Leichtigkeit ganz dieselben Löcher eingeschlagen, welche wir an den Bärenknochen beobachten.« (Arch. f. Anthrop. V. 2, S. 184, zit. in d. Vierteljahrs-Revue I, S. 104 u. ff.)

502

Ob sämtliche Stämme, von deren Existenz in sehr alter Zeit wir Spuren finden, das Feuer schon kannten, bleibt freilich zweifelhaft, da man ja auch in neuerer Zeit noch wilde Stämme gefunden hat, welche das Feuer nicht kannten (vgl. Lubbock, vorgesch. Zeit, II, S. 256 u. f.) In Europa aber finden wir die Spuren des Feuers nicht nur bei den ältesten Pfahlbauten und bei den als »Küchenabfälle« bezeichneten dänischen Muschelhaufen, sondern auch in einzelnen Höhlen, so z.B. in der Höhle von Aurignac (vgl. Lyell, das Alter des Menschengeschlechts, übers. v. Büchner, Leipz. 1864, S. 132), wo man neben Kohlen und Asche von Hitze gerötete Sandsteine fand, die einen Herd gebildet haben müssen. – Bei Pasly untersuchte Colland eine Diluvialschicht von sehr hohem Alter, in welcher sich neben Überresten von Kohle und Asche sehr viele Knochen vom Mammut, dem Höhlenbären, dem Riesenhirsche usw. vorfanden. (Vierteljahrs-Revue I, S. 94; vgl. ebendas. S. 99 u. f. über Kohlenfragmente in der Höhle von Cro-Magnon.)

503

Kant macht in der Anthropologie II, E, der Charakter der Gattung VII, S. 652 u. ff. die Bemerkung, daß kein Tier, außer dem jetzigen Menschen, die Gewohnheit habe, bei seiner Geburt mit Geschrei in das Leben einzutreten. Er glaubt, auch beim Menschen könne dies verräterische und Feinde herbeilockende Geschrei ursprünglich nicht stattgefunden haben; es gehöre erst der Periode des häuslichen Lebens an, ohne daß wir wüßten, durch welche mitwirkenden Ursachen die Natur eine solche Entwicklung veranstaltet habe. »Diese Bemerkung,« fährt Kant fort, »führt weit; z.B. auf den Gedanken, ob nicht auf dieselbe zweite Epoche, bei großen Naturrevolutionen, noch eine dritte folgen dürfte, da ein Orang-Utan oder ein Schimpanse die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zum Sprechen dienen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildete, deren Innerstes ein Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche Kultur sich allmählich entwickelte.«

504

Lyell, Alter des Menschengeschl., übers. von Büchner, S. 132/142 u. f.

505

Lubbock, die vorgeschichtl. Zeit, II, S. 47 u. ff.; Vierteljahrs-Revue, I, S. 101 u. f.

506

Man kann die Frage aufwerfen, wozu bei einem so niedrigen Stande der Kultur ein voll entwickeltes Menschengehirn habe dienen können, oder wozu es gegenwärtig dem Australier oder Feuerländer diene? Wallace hat diesen Gedanken benutzt, um für die Entwicklung des Menschen besondre Bedingungen im Unterschied von der ganzen Tierreihe wahrscheinlich zu machen. Er behauptet geradezu, daß das große Gehirn des Wilden viel über den tatsächlichen Bedürfnissen seines Zustandes ist; wonach also völlig unbegreiflich würde, wie sich ein solches Gehirn durch den Kampf um das Dasein und auf dem Wege der natürlichen Zuchtwahl sollte gebildet haben (vgl. Wallace, Beitr. zur Theorie der natürl. Zuchtwahl, deutsch von A. B. Meyer, Erlangen 1870; das. den Aufsatz: die Grenzen der natürl. Zuchtwahl in ihrer Anwendung auf den Menschen, S. 380 u. ff.). Allein Wallace stellt einerseits den Wilden hier viel zu niedrig gegenüber dem Tiere; anderseits geht er von einer unrichtigen Ansicht von der Natur des Gehirnes aus. Das große Gehirn dient nicht etwa, wie man früher Glauben konnte, einseitig den höheren Geistesfunktionen, sondern es ist ein Koordinationsapparat für die mannigfaltigsten Bewegungen. Man bedenke nur, welch eine Masse von Koordinationszentren und Verbindungswesen schon allein die Sprache und die Assoziation der Sprachlaute mit den verschiedenartigsten Empfindungen erfordert! Ist dieser verwickelte Apparat einmal gegeben, so kann der Unterschied zwischen den höchsten Denkfunktionen des Philosophen oder Dichters und dem Denken des Wilden auf sehr feinen Unterschieden beruhen, die zum Teil im Gehirn niemals werden nachzuweisen sein, weil sie eben mehr funktioneller als substantieller Natur sind (vgl. hierüber das Kapitel: »Gehirn und Seele«). Wie wollte auch sonst – von Wilden und Urmenschen gar nicht zu reden – der in den groben Grundzügen gleiche Gehirnbau eines armen und ungebildeten Landmannes und seines talentvollen und wissenschaftlich gebildeten Sohnes zu erklären sein? Überhaupt fragt es sich noch sehr, ob die große Masse der heutigen Menschheit so sehr viel kompliziertere Geistesfunktionen übt als die Wilden. Diejenigen, welche nichts erfinden, nichts bessern und auf ihr Gewerbe beschränkt nachahmend im großen Strome dahinschwimmen, lernen von dem mannigfaltigen Getriebe der heutigen Kulturwelt nur einen kleinen Teil kennen. Die Lokomotive und der Telegraph, die Vorherbestimmung der Sonnenfinsternis im Kalender und die Existenz großer Bibliotheken mit hunderttausenden von Büchern sind ihnen gegebene Dinge, über die sie nicht weiter nachdenken. Ob dann, bei strengster Teilung der Arbeit, selbst bis in höhere soziale Stellungen hinein, die Funktionen eines solchen passiven Mitgliedes der heutigen Gesellschaft viel höher sind als diejenigen des Eingebornen von Australien, ist noch sehr in Zweifel zu ziehen, zumal die letzteren nicht nur von Wallace, sondern auch im allgemeinen in Europa noch unterschätzt werden. Die »Australische deutsche Zeitung« in Tamunda (reprod. in der Köln. Zeit.) bemerkt anläßlich einer Besprechung der neuesten Karte Petermanns vom Südosten Australiens in dieser Hinsicht folgendes: »Das außerordentlich günstige Klima Australiens erspart dem vielleicht glücklichsten aller wilden Menschenstämme die Sorge für die Errichtung von bergenden und schützenden festen Wohnungen; und die geographischen Gestaltungen und die große Mannigfaltigkeit und der Wechsel der ländlichen Szenerien gestatten ihm nicht, sich feste Wohnplätze anzulegen: die Natur des Landes zwingt ihn zu einem festen Wanderleben. Überall ist er zu Hause und überall findet er seinen Tisch gedeckt, den er sich aber mit anstrengendster Mühe unter Anwendung der höchsten Schlauheit füllen muß. Er kennt aufs genaueste, wann diese und jene Beere, Frucht oder Wurzel in dieser Gegend gereift, wann die Ente oder die Schildkröte dort legt, wann dieser oder jener Wandervogel hier oder da sich einstellt; wann und wo diese und jene Larve, Puppe etc. zum leckern Genuß ladet, wann und wo das Opossum am fettesten, wann dieser oder jener Fisch da oder dort streicht, wo die Trinkquellen der Kängeruh und Emu sind usw. Und gerade dieses ihm aufgedrängte Leben wird ihm lieb und zur zweiten Natur und macht ihn in einem gewissen Sinne intelligenter als irgendein andres wildes Volk. Die Kinder dieser Wilden in Schulen bei gutem Unterricht stehen den europäischen Kindern kaum nach, ja überflügeln sie in einzelnen Fächern. Es ist durchaus unrichtig, sich die australischen Schwarzen als auf der tiefsten Rassenstufe stehend zu denken. In gewissem Sinne gibt es kein schlaueres Volk als sie.«

507

Eine gute Zusammenstellung der hierher gehörigen Tatsachen findet sich bei Baer, der vorgeschichtliche Mensch, S. 133 u. ff.; vgl. ferner Naturforscher 1874, Nr. 17 über den Fund von Thaingen (an der Linie Schaffhausen-Konstanz), der u. a. auf einem Rentiergeweih die Zeichnung eines Rentiers enthält, welche »an Feinheit und Charakter in der Form und an Detail in der Ausführung« bei weitem alle bis jetzt bekannt gewordenen Zeichnungen aus den südfranzösischen Höhlen übertreffen soll. Der Berichterstatter (A. Heim, in d. Mitteil. der antiquar. Gesellsch. in Zürich, Bd. XVIII, S. 125) hebt hervor, daß diese Tierzeichnungen sich stets in Verbindung mit lauter ungeschliffenen Feuersteinwerkzeugen finden; er nimmt an, daß sie erheblich älter sind als die ältesten Pfahlbauten der Schweiz, in denen sich nichts dergleichen findet. Es hätte also ein älterer Stamm von weit geringerer Kulturentwicklung sich hier schon zu einer Kunstleistung erhoben, welche später wieder verloren ging.

508

Darwin, Abstamm. des Menschen, übers. von Carus, I. S. 47.

509

Es würde uns zu weit führen, auf die neuerdings so lebhaft erörterte Frage der Entstehung der Sprache hier näher einzugehen. Nur so viel sei bemerkt, daß der Versuch, in irgendeinem Faktor der Sprache, z.B. in der Bildung signifikativer Wurzeln, einen »absoluten« Unterschied zwischen Mensch und Tier zu finden, ebenso vollständig scheitern muß als jeder andre Nachweis solcher vermeintlich absoluten Unterschiede. Alle einzelnen Faktoren des Menschendaseins und der menschlichen Kultur sind allgemeiner Art; sofern aber jede echt ausgeprägte Eigentümlichkeit in ihrem Bestande etwas Absolutes hat, kann man sagen, daß ein absoluter Unterschied des Menschen von den Tieren in der eigentümlichen Art liegt, in welcher hier alle relativen Unterschiede zusammenwirken, um eine besondere Form hervorzubringen. Die gleiche absolute Eigentümlichkeit der Form kommt in diesem Sinne natürlich auch den Tiergeschlechtern zu und schließt keineswegs etwa Unveränderlichkeit in sich. Beim Menschen gewinnt sie jedoch eine höhere Bedeutung; nicht für die naturgeschichtliche, aber für die ethische Betrachtung, und hier reicht sie vollkommen aus, um z.B. den Unterschied des Geistigen vom »Tierischen« zu begründen.

510

Man hat gerade diesen Fall einer gelungenen Artkreuzung später zu einem Zeugnis für die Unveränderlichkeit der Arten machen wollen, indem man behauptete, daß die Dreiachtel-Hasen des Herrn Roux bei fortgesetzter Inzucht ganz auf den mütterlichen Kaninchenentypus zurückkehren. (Vgl. Revue des deux mondes, 1869, 15. März, 2. livr. p. 413 ff.) Dadurch wird aber vor allen Dingen die Beständigkeit der gekreuzten Rasse gar nicht bestritten, und ebensowenig kann behauptet werden, daß die neuen »Kaninchen« sich nicht sehr wesentlich und dauernd vom ursprünglichen mütterlichen Stamm unterscheiden; denn sonst hätte die Züchtung derselben keinen Zweck. Über die Hauptsache ist gegenwärtig, wo diese Tiere nebst ähnlichen Züchtungen einen namhaften Handelsartikel bilden, kein Wort mehr zu verlieren. Was aber die Hinneigung der Zwischenform zu einem der beiden durch Jahrtausende bewährten und befestigten Typen betrifft, so ist dieselbe mit den oben S. 698 ff. entwickelten Anschauungen im besten Einklang.

511

Die »Abstammung vom Affen« erhält ihre Gehässigkeit für die populäre Bekämpfung des Darwinismus natürlich nur durch den Vergleich mit den jetzt lebenden Affenarten, nach welchen allein die populäre Vorstellung vom Wesen des Affen gebildet wird. Es kann daher hier gleichgültig sein, ob jene untergegangene Stammform in zoologischem Sinne auch schon als »Affe« bezeichnet wird oder nicht, da sie jedenfalls von den heutigen Affen sehr verschiedene Eigenschaften hatte. Oskar Schmidt (Deszendenzlehre und Darwinismus, S. 272 u. f.) sagt darüber: »Die Entwicklung der menschenähnlichen Affen hat einen Gang genommen abseits von den nächsten menschlichen Vorfahren, und der Mensch kann ebensowenig sich in einen Gorilla umformen, als ein Eichhörnchen sich in eine Ratte verwandeln wird.«... »Der knöcherne Schädel jener Affen ist bei einem Extrem angelangt, vergleichbar dem des Hausrindes. Dieses Extrem tritt aber erst nach und nach im Verlaufe des Wachstums hervor, und das Kalb weiß davon noch wenig, sondern besitzt die Schädelgestalt der antilopenartigen Vorfahren.«... »Indem nun der jugendliche Schädel der anthropomorphen Affen unwiderleglich deutlich die Abkunft von Vorfahren mit einem wohlgeformteren, noch bildsamen Schädel, und einem dem menschlichen ganz nahestehenden Gebiß zeigt, so hat bei ihnen die Umformung dieser Teile mit dem Gehirn, letzteres wegen des stabil gebliebenen geringeren Volumens, einen sozusagen verhängnisvollen Weg eingeschlagen, während in dem menschlichen Zweige die Selektion in der größeren Konservierung jener Schädeleigenschaften wirkte.« – Vgl. auch den Vortrag desselben Verf.: Die Anwendung der Deszendenzlehre auf den Menschen, Leipz. 1873, S. 16-18. – Häckel, natürl. Schöpfungsgesch., 4. Aufl. S. 577.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 753-776.
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