IV. Die Physiologie der Sinnesorgane und die Welt als Vorstellung

[850] Wir haben bisher auf allen Gebieten gesehen, wie es die naturwissenschaftliche, die physikalische Betrachtung der Erscheinungen ist, welche auch über den Menschen und sein geistiges Wesen das Licht wirklichen Wissens, wenn auch zunächst noch in spärlichen Strahlen, zu verbreiten vermag. Jetzt gelangen wir zu dem Felde menschlicher Forschung, auf welchem die empirische Methode ihre höchsten Triumphe gefeiert hat, und auf welchem sie dennoch zugleich bis unmittelbar an die Grenzen unsres Wissens führt und uns von dem jenseitigen Gebiete wenigstens so viel verrät, daß wir von dem Vorhandensein eines solchen überzeugt sein müssen. Es ist die Physiologie der Sinnesorgane.

Während die allgemeine Nervensphysiologie von Fortschritt zu Fortschritt das Leben mehr und mehr als ein Produkt mechanischer Vorgänge erscheinen ließ, führte die genauere Betrachtung der Empfindungsprozesse in ihrem Zusammenhang mit der Natur und Wirkungsweise der Sinnesorgane unmittelbar dazu, uns auch zu zeigen, wie mit derselben mechanischen Notwendigkeit, mit welcher sich alles bisher gefügt hat, auch Vorstellungen in uns erzeugt werden, welche ihr eigentümliches Wesen unsrer Organisation verdanken, obwohl sie von der Außenwelt veranlaßt werden. Um die größere oder geringere Tragweite der Konsequenzen dieser Beobachtungen dreht sich die ganze Frage vom Ding an sich und der Erscheinungswelt. Die Physiologie der Sinnesorgane ist der entwickelte oder der berichtigte Kantianismus, und Kants System kann gleichsam als ein Programm zu den neueren Entdeckungen auf diesem Gebiete betrachtet werden. Einer der erfolgreichsten Forscher, Helmholz, hat sich der Anschauungen Kants als eines heuristischen Prinzips bedient und dabei doch nur mit Bewußtsein und Konsequenz denselben Weg verfolgt, auf welchem auch andre dazu gelangten, den Mechanismus der Sinnestätigkeit unserm Verständnis näher zu bringen.

Anscheinend ist die Enthüllung jenes Mechanismus den Theorien der Materialisten nicht ungünstig. Die Erweiterung der Akustik durch Zurückführung der Vokale auf die Wirkung mitschwingender[850] Obertöne ist zugleich eine Ergänzung des mechanischen Prinzips der Naturerklärung. Der Klang als Produkt einer Mehrheit von Tonempfindungen bleibt eben doch eine Wirkung von Bewegungen des Stoffes. Finden wir das Hören bestimmter musikalischer Töne bedingt durch den Resonanzapparat des Cortischen Organs, oder die Lage der Gesichtsbilder im Raume bedingt durch das Muskelgefühl im Bewegungsapparat des Auges, so scheint es nicht, als ob wir diesen Boden verließen. Nun kommt aber weiter das Stereoskop und zerlegt uns die Empfindungen des Körperlichen beim Sehen in die Zusammenwirkung zweier Empfindungen von Flächenbildern. Man macht es uns wahrscheinlich, daß selbst das Wärmegefühl und das Druckgefühl des Tastorganes zusammengesetzte Empfindungen sind, die sich nur durch die Gruppierung der Empfindungselemente unterscheiden. Wir lernen, daß die Farbenempfindung, die Vorstellungen von der Größe und Bewegung eines Gegenstandes, ja selbst das Aussehen einfacher gerader Linien nicht in unveränderter Weise vom gegebnen Objekt bedingt werden, sondern daß das Verhältnis der Empfindungen zueinander die Qualität jeder einzelnen bestimmt; ja, daß Erfahrung und Gewohnheit eben nicht nur auf die Deutung der Sinnesempfindungen Einfluß haben, sondern auf die unmittelbare Erscheinung selbst. Die Tatsachen häufen sich von allen Seiten, und der Induktionsschluß wird unvermeidlich, daß unsre scheinbar einfachsten Empfindungen nicht nur durch einen Naturvorgang veranlaßt werden, der an sich ganz etwas andres ist als Empfindung, sondern daß sie auch unendlich zusammengesetzte Produkte sind; daß ihre Qualität keineswegs nur durch den äußeren Reiz und die stabile Einrichtung eines Organs bedingt ist, sondern durch die Konstellation sämtlicher andrängenden Empfindungen. Wir sehen sogar, wie bei konzentrierter Aufmerksamkeit eine Empfindung von einer andern, disparaten, vollständig verdrängt werden kann.551

Sehen wir nun zu, was sich vom Materialismus noch halten läßt!

Der antike Materialismus mit seinem naiven Glauben an die Sinnenwelt ist weg; auch die materialistische Vorstellungsweise vom Denken, welche das vorige Jahrhundert hegte, kann nicht mehr bestehen. Wenn für jede bestimmte Empfindung eine bestimmte Faser im Hirn vibrieren soll, so kann die Relativität und Solidarität der Empfindungen und ihr Zerfallen in unbekannte Elementarwirkungen nicht bestehen; geschweige denn, daß man gar Gedanken lokalisieren könnte. Was aber sehr wohl mit den Tatsachen bestehen[851] kann, ist die Annahme, daß alle jene Wirkungen der Konstellation einfacher Empfindungen auf mechanischen Bedingungen beruhen, die wir bei hinlänglichem Fortschritt der Physiologie noch zu entdecken vermöchten. Die Empfindung und damit das ganze geistige Dasein kann immer noch das in jeder Sekunde wechselnde Resultat des Zusammenwirkens unendlich vieler unendlich mannigfach verbundner Elementartätigkeiten sein, die an sich lokalisiert sein mögen, etwa wie die Pfeifen einer Orgel lokalisiert sind, aber nicht ihre Melodien.

Wir schreiten nun mitten durch die Konsequenz dieses Materialismus hindurch, indem wir bemerken, daß derselbe Mechanismus, welcher sonach unsre sämtlichen Empfindungen hervorbringt, jedenfalls auch unsre Vorstellung von der Materie erzeugt. Er hat hier aber keine Bürgschaft bereit für einen besonderen Grad von Objektivität. Die Materie im ganzen kann so gut bloß ein Produkt meiner Organisation sein – muß es sogar sein – wie die Farbe oder irgendeine durch Kontrasterscheinungen hervorgebrachte Modifikation der Farbe.

Hier sieht man nun auch, warum es nahezu gleichgültig552 ist, ob man von einer geistigen oder physischen Organisation redet, weshalb wir so oft den neutralen Ausdruck brauchen durften, denn jede physische Organisation, und wenn ich sie unter dem Mikroskop sehen oder mit dem Messer vorzeigen kann, ist eben doch nur meine Vorstellung und kann sich in ihrem Wesen nicht von dem was ich sonst geistig nenne, unterscheiden.

Zur Zeit Kants lag die Erkenntnis der Abhängigkeit unsrer Welt von unsern Organen allgemein in der Luft. Man hatte den Idealismus des Bischofs Berkeley nie recht verwinden können, allein wichtiger und einflußreicher wurde der Idealismus der Naturforscher und Mathematiker. D'Alembert zweifelte entschieden an der Erkennbarkeit der wahren Objekte; Lichtenberg, der Kants System gern widersprach, weil sich seine Natur gegen jeden, auch den verstecktesten Dogmatismus sträubte, hatte den einen Punkt, um den es sich hier handelt, selbständig und unabhängig von Kant klarer erfaßt als irgendein Nachfolger des letzteren. Er, der bei all seinem Philosophieren nie den Physiker verleugnete, erklärt es für unmöglich, den Idealismus zu widerlegen. Äußere Gegenstände zu erkennen, sei ein Widerspruch; es sei dem Menschen unmöglich, aus sich herauszugehen. »Wenn wir glauben, wir sähen Gegenstände, so sehen wir bloß uns. Wir können von Nichts in der[852] Welt Etwas eigentlich erkennen, als uns selbst und die Veränderungen, die in uns vorgehen.« »Wenn etwas auf uns wirkt, so hängt die Wirkung nicht allein von dem wirkenden Dinge ab, sondern auch von dem, auf welches gewirkt wird.«553

Ohne Zweifel wäre gerade Lichtenberg imstande gewesen, uns auch die Mittelglieder zwischen diesen spekulativen Gedanken und den gewöhnlichen physikalischen Theorien darzulegen; allein er fand dazu, wie zu so vielem andern, weder Zeit noch Neigung. Erst geraume Zeit nach Kant geschah in dieser Beziehung in Deutschland der erste Schritt; und so scharf hier auch das Richtige auf der einen und der Irrtum auf der andern Seite liegt, so vermag doch noch heute die stumpfsinnige Tradition den trivialsten Irrtum mit der Glorie des Empirismus zu verklären, während eine faktische Bemerkung, die so einfach und bedeutungsvoll ist, wie das Ei des Kolumbus, als müßige Spekualtion verkannt wird. Es handelt sich um die Theorie der Versetzung der Objekte nach außen in Verbindung mit dem berüchtigten Problem des Aufrechtstehens.

Johannes Müller war es, der die wahre Lösung dieses Problems zuerst, wenn auch noch nicht mit völliger Konsequenz aussprach, indem er darauf hinwies, daß das Bild des eignen Körpers ja durchaus unter denselben Verhältnissen erblickt wird, wie die Bilder der Außendinge.

Wurde es den Menschen einst erstaunlich schwer, sich diese feste Erde, auf der wir stehen, das Urbild der Ruhe und Stetigkeit, bewegt zu denken, so wird es ihnen noch schwerer werden, in ihrem eignen Körper, der ihnen das Urbild aller Wirklichkeit ist, ein bloßes Schema der Vorstellung zu erkennen, ein Produkt unsres optischen Apparates, welches ebensogut von dem Gegenstand unterschieden werden muß, der es veranlaßt, wie jedes andre Vorstellungsbild.

Der Körper nur ein optisches Bild? – »Wir sehen ihn ja«, kann man darauf nicht mehr antworten, aber »wir haben ja die unmittelbare Empfindung unsrer Wirklichkeit!« »Weg mit den müßigen Spekulationen! Wer will mir abstreiten, daß dies meine Hand ist, die ich unter meinem Willen bewege, deren Empfindungen mir so unmittelbar zum Bewußtsein kommen?«

Man kann sich diese Expektorationen des natürlichen Vorurteils nach Belieben weiter ausführen. Die entscheidende Gegenbemerkung liegt nicht fern. Unsre Empfindungen müssen nämlich in jedem Falle mit dem optischen Bilde erst verschmelzen, man mag[853] nun zugeben, daß das Bild des Körpers nicht der Körper selbst ist, oder man mag an der naiven Vorstellung seiner Identität mit dem Objekte festhalten. Der operierte Blindgeborne muß die Zusammengehörigkeit seiner Gesichts- und seiner Tastempfindungen erst lernen. Wir haben hier nur eine Ideenassoziation nötig, und diese muß auf alle Fälle dasselbe Resultat ergeben, man möge über die Wirklichkeit des vorgestellten Körpers denken, wie man wolle.

Müller selbst gelangte, wie bereits angedeutet, nicht zur völligen Klarheit, und es will uns bedünken, als sei gerade die Naturphilosophie mit ihrem Begriffsspiel von Subjekt und Objekt, von Ich und Außenwelt ihm noch im Wege gewesen. Statt dessen schob man natürlich die richtige Bemerkung ihrer kolossalen Paradoxie wegen der Philosophie in die Schuhe. Man kann heutzutage vielfach das Urteil hören, daß Müllers Schrift über die Physiologie des Gesichtssinns (1826) eine noch unreife, von naturphilosophischen Ideen getrübte Erstlingsarbeit des berühmten Physiologen gewesen sei. Wir wollen deshalb die entscheidende Stelle über das Geradesehen nach dem Handbuch der Physiologie (2. Bd. 1840) geben:

»Nach optischen Gesetzen werden die Bilder in Beziehung zu den Objekten verkehrt auf der Netzhaut dargestellt.... Es entsteht nun die Frage, ob man die Bilder in der Tat, wie sie sind, verkehrt, oder ob man sie aufrecht, wie im Objekte, sehe. Da Bilder und affizierte Netzhautteilchen eins und dasselbe sind, so ist die Frage physiologisch ausgedrückt: ob die Netzhautteilchen beim Sehen in ihrer naturgemäßen Relation zum Körper empfunden werden.«

»Meine Ansicht der Sache, welche ich bereits in der Schrift über die Physiologie des Gesichtssinnes entwickelte, ist die, daß, wenn wir auch verkehrt sehen, wir niemals als durch optische Untersuchungen zu dem Bewußtsein kommen können, daß wir verkehrt sehen und daß, wenn alles verkehrt gesehen wird, die Ordnung der Gegenstände auch in keiner Weise gestört wird. Es ist, wie mit der täglichen Umkehrung der Gegenstände mit der ganzen Erde, die man nur erkennt, wenn man den Stand der Gestirne beobachtet, und doch ist es gewiß, daß innerhalb 24 Stunden etwas im Verhältnis zu den Gestirnen oben ist, was früher unten war. Daher findet beim Sehen auch keine Disharmonie zwischen Verkehrtsehen und Geradefühlen statt; denn es wird eben alles, und auch die Teile unsres Körpers, verkehrt gesehen und alles behält seine relative Lage. Auch das Bild unsrer tastenden Hand kehrt sich um. Wir nennen daher die Gegenstände aufrecht, wie wir sie eben sehen. Eine bloße[854] Umkehrung der Seiten im Spiegel, wo die rechte Hand den linken Teil des Bildes einnimmt, wird schon kaum bemerkt, und unsre Gefühle treten, wenn wir nach dem Spiegelbilde unsre Bewegungen regulieren, wenig in Widerspruch mit dem, was wir sehen, z.B. wenn wir nach dem Spiegelbilde eine Schleife an der Halsbinde machen« usw.

Diese Entwicklung läßt an Klarheit und Schärfe nichts zu wünschen übrig, und wir heben ausdrücklich hervor, daß sich an der ganzen Stelle keine Spur von jener Begriffsspielerei findet, welche die Naturphilosophie kennzeichnet. Wenn diese Ansicht auf der Naturphilosophie ruht, so ist der Einfluß derselben in diesem Falle zu loben. Möglich immerhin, daß die Beschäftigung mit der abstrakten Philosophie in diesem Falle Müller wenigstens durch die Losreißung von der gedankenlosen Überlieferung gefördert hat. Wo aber bleiben die Konsequenzen?

Wer einmal die einfache Wahrheit erkannt hat, daß das Geradesehen gar kein Problem ist, weil das Gesichtsbild unsres Körpers unter denselben Verhältnissen steht wie alle übrigen Bilder, für den sollte von einer Projektion der Bilder nach außen gar nicht mehr die Rede sein können. Weshalb sollten denn etwa alle übrigen Bilder in dem einzigen Bilde des Körpers stecken, da doch die Gegenstände der Außenwelt keineswegs in dem wirklichen Körper stecken, der ja im Verhältnis zu unsrer Vorstellung auch Außenwelt ist! Von einem Vorstellen der Bilder an der Stelle der vorgestellten Netzhaut kann sonach gar keine Rede sein. Es wäre dies die paradoxeste Annahme, die es gibt. Wie soll denn nun erst ein so fabelhafter Vorgang wie die sogenannte Projektion dazu gehören, um die vorgestellten Außendinge außerhalb des ebenfalls bloß vorgestellten Kopfes erscheinen zu lassen ? Um hier überhaupt ein Erklärungsprinzip zu suchen, muß man über das ganze Verhältnis im unklaren sein. Und Müller, der das Lösungswort des Rätsels in seinem Kapitel über Verkehrtsehen und Geradesehen so bestimmt ausgesprochen, kommt dennoch im folgenden Kapitel (»Richtung des Sehens«) auf die Lehre von der Projektion zurück und meint, die Gesichtsvorstellung könne »gleichsam als eine Versetzung des ganzen Sehfeldes der Netzhaut nach vorwärts gedacht werden.« Darin ist denn wieder die vorgestellte, von Spiegelbildern und von der Erscheinung andrer Personen oder von anatomischen Untersuchungen abstrahierte Netzhaut mit der wirklichen Netzhaut verwechselt. Und nimmermehr hätte Müller in diese Unklarheit zurückfallen[855] können, wenn er nicht in den Begriffen der Naturphilosophie von Subjekt und Objekt befangen gewesen wäre. Sagt er doch an früherer Stelle, das nach außen setzen des Gesehenen sei nichts andres »als ein Unterscheidendes Gesehenen vom Subjekt, ein Unterscheidendes Empfundenen vom empfindenden Ich«.

Ein hohes Verdienst hat sich deshalb Ueberweg erworben, indem er nicht nur Müllers mit Unrecht vernachlässigte Bemerkung über das Geradesehen wieder ans Licht zog, sondern auch das Verhältnis des Körperbildes zu den andern Bildern der Außenwelt vollkommen klar machte (Henle u. Pfeuffer III. V. 268 ff.). Ueberweg bedient sich zu diesem Zweck eines interessanten Vergleichs. Die Platte einer Camera obscura wird, wie die Statue Condillacs, mit Leben und Bewußtsein begabt; ihre Bilder sind ihre Vorstellungen. Ein Bild von sich selbst kann sie an sich so wenig auf ihrer Platte darstellen wie unser Auge sein eignes Bild auf der Netzhaut. Die Kamera könnte aber hervorragende Teile, gliederartige Ansätze haben, die sich auf der Platte abmalten und zu einer Vorstellung würden. Sie kann andre, ähnliche Wesen spiegeln; kann vergleichen, abstrahieren und sich so zuletzt eine Vorstellung von sich selbst bilden. Diese Vorstellung wird dann irgendeinen Ort auf der Platte einnehmen, da, wo diese Glieder auszugehen scheinen. Mit musterhafter Klarheit hat Ueberweg dargetan, daß von einer Projektion nach außen gar keine Rede sein kann, eben weil die Bilder außerhalb des Bildes sind, genau wie wir uns die veranlassenden Gegenstände als außerhalb unsres gegenständlichen Körpers denken müssen.

Eine Konsequenz der Anschauung Ueberwegs ist, daß der ganze Raum, den wir wahrnehmen, eben nur der Raum unsres Bewußtseins ist, wobei es einstweilen dahingestellt bleibt, ob die Netzhaut selbst das Sensorium dieser Gesichtsbilder ist, oder ob ein solches weiter rückwärts im Gehirn zu suchen ist.

Wollte man nun einstweilen annehmen, daß unsre Sinnlichkeit weiter nichts an den Dingen ändert, als was wir aus der Betrachtung des Bildes auf der Netzhaut entnehmen können, so würde sich daraus als wahrscheinliche Ansicht von der Wirklichkeit der Dinge eine fremdartige kolossale Vorstellung ergeben. Die Dinge stehen alle, samt uns selbst, umgekehrt wie sie uns erscheinen, und die ganze Welt, welche ich sehe, liegt innerhalb meines Gehirns. Jenseits desselben dehnen sich in entsprechender Proportion die wirklichen Dinge aus.[856]

Nicht um der Sache ihren abenteuerlichen Anstrich zu nehmen (denn dieser hat mit ihrer logischen Wahrscheinlichkeit nicht das mindeste zu schaffen), sondern nur um das Licht einen Schritt weiter zu tragen, bemerken wir zunächst, daß es eine Übereilung wäre, die Entfernungsmaße des fernsten Sternbildes als Maßstab zur Anmessung unsres Sensoriums zu benutzen. Die Billionen von Meilen, welche sich aus der Rechnung für solche Entfernungen ergeben, sind nicht ein Produkt unsrer Sinnlichkeit, sondern unsres rechnenden Verstandes, und nur die Wirkung der Ideenassoziation läßt die Vorstellung dieser Entfernungsmaße mit dem sinnlichen Bilde der Sterne verschmelzen. Dem operierten Blindgebornen erscheinen die Gegenstände der Gesichtswahrnehmung erdrückend nah; das Kind griff nach dem Monde, und auch dem Erwachsenen liegt das Bild des Mondes oder der Sonne noch nicht eben ferner als das Bild der Hand, die den Mond mit einem Silbergroschen zudeckt. Er deutet dies Bild nur anders, und diese Deutung wirkt allerdings auf den unmittelbaren Eindruck des Gesehenen zurück. Die ganze Ausarbeitung der auf dem Sehen beruhenden Raumvorstellung ist ein ähnlicher Prozeß der Assoziation, wie die Verschmelzung der Tastempfindungen und der Gefühle mit den Gesichtsbildern. Um dies noch klarer zu machen, wollen wir Ueberwegs Vergleich einen andern hinzufügen.

In einem guten Diorama läßt die Täuschung in Beziehung auf die Perspektive des Bildes nichts zu wünschen übrig. Ich sehe den Vierwaldstätter See vor mir und erblicke die wohlbekannten Riesenhäupter der Ufergebirge und die dämmernden Höhen in der Ferne mit dem vollen Gefühl der Weite und Großartigkeit dieser gewaltigen Naturszene, obwohl ich weiß, daß ich mich Wolfstraße 5 in Köln befinde, wo für solche Entfernungen in Wirklichkeit kein Raum ist. Nun läutet das Glöcklein der Kapelle, und ich verbinde den Klang und das Bild zu der Einheit jenes feierlich-friedlichen Eindrucks, den ich in der Natur so oft genossen.

Jetzt nehme ich an, das Ich, das Bewußtsein oder sonst ein fingiertes Wesen sitze im Innern des Schädels und betrachte das Netzhautbild, einerlei durch welches Medium, wie das Bild eines Dioramas mit der herrlichsten Perspektive; zugleich belebt wie das Bild der Camera obscura. Das Wesen, welches ich fingiere, ist sehr hingebend an seine Anschauung: es ist außer dieses Bildes überhaupt keiner Gesichtswahrnehmung fähig; sieht von sich selbst nichts, auch nichts von dem Medium, durch welches es sieht. Wohl[857] aber ist dasselbe fingierte Wesen noch andrer Eindrücke fähig; es hört, es fühlt usw. – Was wird geschehen? – Der Schall wird wohl sehr leicht mit dem Gesichtsbilde verschmelzen. Bewegt sich ein Glöcklein auf dem Bilde in einiger Harmonie mit dem entsprechenden Klang, so ist die Assoziation gleich fertig. Von sich selbst als Zuschauer und Zuhörer kann unser Wesen freilich auch so nichts erfahren.

Wir gehen weiter. Unser Wesen soll auch empfinden, allein auch die Empfindung soll ihm nur peripherische Vorstellungen geben; nichts von seiner eignen Lage und seiner nächsten Umgebung im Hirnschädel. Jetzt soll es in seinem Diorama ein Gebilde erblicken, dessen Bewegungen in vollständiger Harmonie mit seinen Empfindungen stehen, dessen Glieder zusammenfahren, wenn es einen Schmerz empfindet. Dies Gebilde ist ganz im Vordergrund der Szene. Seine sonderbaren, unvollständig zusammenhängenden Teile fahren oft wie riesige Schatten über das ganze Sehfeld.

Andre Gebilde zeigen sich, perspektivisch kleiner, sehr ähnlich, aber vollständiger, zusammenhängender als das große Wesen im Vordergrund, mit welchem die Empfindungen von Schmerz und Lust so unzertrennbar zusammenhängen. Unser Wesen kombiniert, abstrahiert, und da es von sich selbst außer seinen Empfindungen gar nichts weiß, so verschmelzen auch seine Empfindungen mit dem großen unvollständigen Gebilde im Vordergrunde des Sehfeldes; durch die Vergleichung mit andern aber wird dies Gebilde in der Vorstellung rückwärts ergänzt. Nun haben wir Ich, Körper, Außenwelt, Perspektive, alles wie sich's gebührt, vom Standpunkt einer Art von Seele betrachtet, die durch die Ideen-Assoziation zu einem Ich-Begriff kommt, ohne von ihrem wahren Selbst irgend etwas zu wissen. Der Ich-Begriff ist vorläufig, wie dies ursprünglich beim Menschen zu sein pflegt, vom Begriff des Körpers ganz unzertrennlich, und dieser Körper ist der Diorama-Körper, der Netzhautbildkörper, verschmolzen mit dem Körper der Tastempfindungen, der Empfindungen von Schmerz und Lust.

Wer nicht streng den Faden unsres Gedankenganges im Auge hat, könnte glauben, wir wollten uns hier plötzlich zu Lotzes punktueller Seele bekehren; allein man bedenke wohl, daß wir nur eine Fiktion machten. Wir personifizierten einen Vorgang, und dieser Vorgang ist ein andrer als die Verschmelzung der Sinneswahrnehmungen selbst. Die Mittelperson ist überflüssig. Daß sich ein ganzes Seelenleben in dem Sinne, in welchem wir dies Wort zu nehmen[858] pflegen, aus den Empfindungen in ihrer unendlichen Abstufung, Mannigfaltigkeit und Zusammensetzung aufbauen kann, haben wir früher gesehen. Hier genügt es zu bemerken, daß uns nicht einmal ein einheitlicher Verbindungspunkt nötig scheint, um die Funktionen aller Sensorien – falls es deren mehrere gibt – verschmelzen zu lassen. Wenn nur Verbindung überhaupt da ist.

Wären die einzelnen Sensorien im Gehirn ohne Verbindung, so hätten wir nicht nur ein metaphysisches Rätsel vor uns, sondern es würde auch das mechanische Verständnis des Menschen als eines bloßen Naturwesens, wie wir es in dem Abschnitt über »Gehirn und Seele« geschildert haben, zur Unmöglichkeit werden. Ist aber Verbindung überhaupt gegeben, wozu es keines einheitlichen Zentralpunktes, keiner fertigen »Bilder« im Gehirn bedarf, so bleibt allein das metaphysische Rätsel übrig, wie aus der Vielheit der Atombewegungen die Einheit des psychischen Bildes entsteht. Wir halten dies Rätsel, wie schon oft bemerkt, für unlösbar, allein man kann doch so vielleicht einsehen, daß es gleich groß und gleicher Art bleibt, ob man nun eine mechanische Vereinigung der Reize zu einem Bilde in einem materiellen Zentrum annimmt oder nicht. Nennen wir den Akt des Überganges von der physischen Vielheit in die psychische Einheit Synthesis, so bleibt diese Synthesis gleich unerklärlich, ob sie sich nun auf die Vereinigung der vielen diskreten Punkte eines fertigen Bildes bezieht oder auf die bloßen, räumlich zertreuten Bedingungen des Bildes. Die kartesische und spinozistische Anschauung der Gehirnbilder durch die Seele bleibt, wenn man den bekannten Kunstgriff des Vorurteils entfernt, der in den Menschen wieder einen Menschen hineinsteckt durchaus ebenso unerklärlich als die Entstehung des psychischen Bildes direkt aus den physischen Bedingungen desselben.

Freilich, wenn ein Mensch betrachtend vor einem Webstuhle steht und aus dem Mechanismus desselben und der Art, wie die Fäden der Kette eingespannt sind, das Muster des Gewebes zu erraten sucht, so macht ihm dies mehr Mühe, als wenn er das Muster direkt auf dem fertigen Stoffe anschaut. Da nun aber die Anschauung dadurch vermittelt wird, daß die Fläche des Stoffes erst in einer Vielheit von Eindrücken in die einzelnen Nerven aufgelöst wird, und da diese Auflösung notwendig ist, um im Gehirn die größte Mannigfaltigkeit der Verbindungen mit andern Sinneseindrücken zu ermöglichen, so kann es zu gar nichts helfen, wenn irgendwo im Gehirn aus diesen einzelnen Eindrücken wieder ein physisches Bild[859] des Stoffes erzeugt würde. Dasselbe müßte ja doch wieder aufgelöst werden, um in den Mechanismus der Assoziationen eingreifen zu können. Also kann man das Entstehen des psychischen Bildes, der im Subjekt bewußt werdenden Anschauung, ebenso leicht und leichter auf eine direkte Synthesis der einzelnen Eindrücke, wenn diese auch im Gehirn zerstreut sind, zurückführen. Wie eine solche Synthesis möglich sei, bleibt ein Rätsel; ja man hat sogar Grund anzunehmen, daß die ganze Annahme einer Entstehung des einheitlichen psychischen Bildes aus den vielen einzelnen Reizen nur eine unzulängliche Vorstellungsweise sei, mit der wir uns begnügen müssen; allein so viel läßt sich einsehen, daß es einer solchen Synthesis auf alle Fälle bedarf, um das Band zwischen den Atomvorgängen und dem Bewußtsein herzustellen. Gerade deswegen hat es keinen Sinn, die Dinge noch einmal im Gehirn zu wiederholen, oder wie man sich richtiger ausdrücken würde, für das Produkt der Synthesis, für die Vorstellung eines Dinges, noch einmal ein verkleinertes Bild in das vorgestellte Gehirn zu verlegen.

Ueberweg freilich half sich hier anders. Er war Gegner des Atomismus, und die Kontinuität der Materie schien ihm auch ein genügendes Band der Einheit für die Vorstellungen. Er brauchte keinen Menschen im Menschen, um die Hirnbilder anzuschauen. Er verlieh diesen Bildern »Bewußtheit«, und damit waren die Vorstellungen fertig. Freilich bedurfte er dafür einer Voraussetzung, welcher sich die Anatomie nun einmal nicht fügen will. Er mußte irgendwo im Gehirn eine »strukturlose Substanz« annehmen, in welcher die Vorstellungsbilder eingebettet liegen, und durch deren allseitiges Leitungsvermögen sie mit allen übrigen Empfindungen in Verbindung gesetzt werden können. An diesem Postulat scheitert die ganze Theorie, welche übrigens noch von vielen Punkten angreifbar ist. Wir werden daher auch Ueberweg darin nicht folgen, wenn er, getreu seinem Prinzip, eine Welt der Dinge an sich annimmt, welche drei räumliche Dimensionen hat, welche ganz von einer empfindungsfähigen Materie erfüllt ist, und deren Dinge man sich von den Dingen unsrer Vorstellung nur mäßig verschieden denken muß. Darin aber muß man Ueberweg notwendig beistimmen – die Metaphysiker mögen sich noch so sehr dagegen sträuben – daß unsre Vorstellungen, sobald man das Wort nicht im Sinne des »actus purus« nimmt, Ausdehnung haben, denn die erscheinenden Dinge sind ja eben unsre Vorstellungen. Daß sie deswegen materiell seien, darf man wieder nicht behaupten, denn[860] allein die Erscheinungen sind uns unmittelbar gegeben; die Materie, einerlei ob atomistisch gedacht oder als Kontinuum, ist schon ein fingiertes Hilfsprinzip, um die Erscheinungen in einen durchgehenden Zusammenhang von Ursache und Wirkung zubringen.

Bringt man nun die metaphysische Kritik an das Weltbild Ueberwegs heran, so verschwindet freilich jene fremdartige Kolossalwelt der Dinge an sich wie ein Nebelbild; denn wenn der Raum nur unsre Form der Anschauung ist, so sind und bleiben die Dinge an sich schlechthin unerkennbar. Sobald man aber zur materialistischen Vorstellungsweise von Dingen außer uns zurückkehrt, kehrt auch Ueberwegs Kolossalwelt von umgekehrter Stellung mit voller Berechtigung wieder. Da nun aber wohl kein Zug des Materialismus so allgemein verbreitet ist als der Glaube an die materiellen für sich bestehenden Dinge und die Gewohnheit, diese Dinge vorauszusetzen, auch wenn man nicht an sie glaubt, so kommt der paradoxen Lehre Ueberwegs außer ihrem metaphysischen Werte auch noch ein didaktischer zu. Der metaphysische beschränkt sich auf Ueberwegs System; der didaktische dient auch bei jedem andern Systeme, soweit man die Annahme einer materiellen und für sich bestehenden Welt der Dinge wenigstens als Hilfsvorstellung zur Zusammenfassung der Erscheinungen zuläßt. Hier wird in jedem Falle die falsche Projektionslehre an der Wurzel abgeschnitten.

Helmholtz bemerkt, daß der Streit über den Grund des Aufrechtsehens nur das psychologische Interesse habe, »zu zeigen, wie schwer selbst Männer von bedeutender wissenschaftlicher Befähigung sich dazu verstehen, das subjektive Moment in unsren Sinneswahrnehmungen wirklich und wesentlich anzuerkennen und in ihnen Wirkungen der Objekte zu sehen, statt unveränderter Abbilder (sit venia verbo) der Objekte, welcher letztere Begriff sich durchaus widerspricht.« Die Müller-Ueberwegsche Theorie lehnt Helmholtz ab, ohne ihre Konsequenz und relative Korrektheit anzufechten.554 Man bedarf derselben freilich nicht mehr, sobald man sich gewöhnt hat, die Erscheinungen als bloße Wirkungen der Objekte (d.h. der unbekannten Dinge an sich!) auf unsre Sinnlichkeit zu betrachten; allein weitaus die große Mehrzahl unsrer heutigen Physiker und Physiologen kann sich nicht nur nicht auf diesen Standpunkt erheben, sondern steckt auch noch tief in der falschen Projektionslehre, welche ihre Wurzel eben darin hat, daß der eigne Körper zum Ding an sich erhoben wird. Um diesen Irrtum an der[861] Wurzel abzuschneiden, gibt es nichts Besseres als die Müller-Ueberwegsche Theorie, die dann freilich von dem höheren Standpunkte der kritischen Erkenntnislehre wiederaufgehoben wird.555

Nicht minder gründlich als durch die Beseitigung der alten Projektionslehre wird der Glaube an die materiellen Dinge erschüttert durch eine Untersuchung über den Stoff, aus welchem unsre Sinne die Welt dieser Dinge aufbauen. Wer nicht etwa mit Czolbe die extremsten Konsequenzen des Glaubens an die Erscheinungswelt zu ziehen wagt, wird heutzutage leicht zugeben, daß die Farben, Klänge, Gerüche usw. nicht den Dingen an sich zukommen, sondern daß sie eigentümliche Erregungsformen unsrer Sinnlichkeit sind, welche durch entsprechende aber qualitativ sehr verschiedene Vorgänge in der Außenwelt hervorgerufen werden. Es würde zu weit führen, an die zahllosen Tatsachen hier zu erinnern, welche diese Lehre bestätigen; nur wenige Umstände müssen wir hervorheben, welche ihr Licht weiter werfen als die große Masse der physikalischen und physiologischen Beobachtungen.

Zunächst bemerken wir, daß das Grundprinzip der Sinnesapparate, namentlich von Auge und Ohr, darin besteht, daß aus dem Chaos von Vibrationen und Bewegungen jeder Art, von welchen wir uns die umgebenden Media erfüllt denken müssen, gewisse Formen einer in bestimmten Zahlenverhältnissen wiederholten Bewegung herausgehoben, relativ verstärkt und so zur Perzeption gebracht werden, während alle übrigen Formen der Bewegung, ohne irgendeinen Eindruck auf die Empfindung zu machen, vorübergehen. Es ist also zunächst nicht nur auszusagen, daß Farbe, Klang, usw. Vorgänge im Subjekt sind, sondern auch, daß die veranlassenden Bewegungen in der Außenwelt durchaus nicht die Rolle spielen, welche sie für uns infolge ihrer Wirkung auf die Sinne haben müssen.

Der verschwindend hohe Ton und die gar nicht mehr hörbare Luftvibration sind im Objekt nicht durch eine solche Kluft geschieden, wie sie zwischen Hörbarkeit und Unhörbarkeit besteht. Die ultravioletten Strahlen haben nur für uns eine verschwindende Bedeutung, und alle die zahlreichen Vorgänge in der Materie, von denen wir nur indirekt Kenntnis erhalten, die Elektrizität, der der Magnetismus, die Schwerkraft, die Spannungen der Affinität, Kohäsion usw. üben ihren Einfluß auf das Verhalten der Materie so gut wie die direkt wahrnehmbaren Schwingungen. Denkt man sich Atome, so können diese nicht nur nicht leuchten, klingen usw.,[862] sondern sie haben tatsächlich nicht einmal die Bewegungsformen, welche den Farben und Tönen entsprechen, die wir wahrnehmen. Vielmehr haben sie notwendig irgendwelche höchst verwickelte Bewegungsformen, die aus unzähligen andern resultieren. Unsre Sinnesapparate sind Abstraktionsapparate; sie zeigen uns irgendeine bedeutende Wirkung einer Bewegungsform, die im Objekt an sich gar nicht einmal vorhanden ist.

Sagt man uns, die Abstraktion führe ja auch im Denken zur Erkenntnis der Wahrheit, so bemerken wir, daß dies nur eine relative Richtigkeit hat, sofern nämlich eben von derjenigen Erkenntnis die Rede ist, die mit Notwendigkeit aus unsrer Organisation hervorgeht und sich deshalb niemals widerspricht. Wir kehren den Spieß um, indem wir hier noch nach materialistischer Methode das angebliche Übersinnliche, das Denken, aus dem Sinnlichen erklären. Ist die Abstraktion, welche unsre Sinnesapparate mit ihren Stäbchen, Zapfen, Cortischen Fasern usw. zustande bringen, nachweisbar eine Tätigkeit, welche durch Beseitigung der großen Masse aller Einwirkungen ein ganz einseitiges, von der Struktur der Organe bedingtes Weltbild schafft, so wird es sich vermutlich mit der Abstraktion im Denken ebenso verhalten.

Die neuere Beobachtung hat sehr interessante Beziehungen zwischen der Vorstellung und der scheinbar unmittelbaren Sinneswahrnehmung entdeckt, und es ist bisweilen ein ziemlich unfruchtbarer Streit darüber geführt worden, ob ein beobachtetes Faktum physiologisch oder psychologisch zu erklären sei. So bei der Erscheinung des stereoskopischen Sehens. Für die Grundfragen, mit denen wir es zu tun haben, ist es sehr gleichgültig, ob z.B. die Lehre von den identischen Stellen der Netzhaut in der Erklärung der Erscheinungen ihren Platz behauptet oder nicht. Forschern von rein physikalischer, wenn auch nicht eben materialistischer Richtung ist es unangenehm, auf ein so scheinbar vages Ding wie die »Vorstellung« eine Tatsache der anscheinend unmittelbaren Sinnestätigkeit zurückzuführen. Sie überlassen dergleichen Theorien lieber den Philosophen und suchen selbst einen Mechanismus zu finden, der die Sache mit Notwendigkeit hervorbringt. Angenommen aber, sie hätten diesen gefunden, so würde damit keineswegs bewiesen sein, daß die Sache mit der »Vorstellung« nichts zu tun hätte, sondern es würde vielmehr zugleich ein wichtiger Schritt geschehen sein, um das Vorstellen selbst mechanisch zu erklären. Ob diese Erklärung etwas weiter zurückliegt oder nicht,[863] ist vorläufig gleichgültig; ebenso, ob der Mechanismus, der noch zu entdecken ist, angeboren oder durch die Erfahrung entstanden und mit ihr wieder veränderlich ist. Ungemein wichtig ist dagegen, daß solche Fundamente der Sinnlichkeit, wie das körperliche Sehen, die Erscheinung des Glanzes, die Konsonanz und Dissonanz der Töne u. dgl. in ihre Bedingungen zerlegt und als Produkt verschiedner Umstände nachgewiesen werden. Damit muß allmählich die bisherige Auffassung des Körperlichen und Sinnlichen selbst eine andre werden. Es ist einstweilen ganz gleichgültig, ob die Erscheinungen der Sinnenwelt auf die Vorstellung oder auf den Mechanismus der Organe zurückgeführt werden, wenn sie sich nur als Produkte unsrer Organisation im weitesten Sinne des Wortes erweisen. Sobald dies nicht nur in Beziehung auf einzelne Erscheinungen, sondern mit genügender Allgemeinheit erwiesen ist, ergibt sich folgende Reihe von Schlüssen:

1. Die Sinnenwelt ist ein Produkt unsrer Organisation.

2. Unsre sichtbaren (körperlichen) Organe sind gleich allen andern Teilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes.

3. Die transzendente Grundlage unsrer Organisation bleibt uns daher ebenso unbekannt, wie die Dinge, welche auf dieselbe einwirken. Wir haben stets nur das Produkt von beiden vor uns.

Wir gelangen gleich zu einer weiteren Reihe von Schlüssen. Zunächst noch einige Bemerkungen über den Zusammenhang von Sinneseindruck und Vorstellung. – Beim stereoskopischen Sehen ließen wir es dahingestellt, wo die Mechanik der hierher gehörigen Erscheinungen eigentlich liege. Wir haben aber eine Gruppe höchst merkwürdiger Erscheinungen, bei denen das Eingreifen eines Schlusses, und zwar eines Fehlschlusses, in die unmittelbare Gesichtsempfindung unverkennbar scheint. Bekanntlich ist die Eintrittsstelle des Sehnerven im Auge unempfindlich gegen das Licht; sie bildet einen blinden Fleck auf der Netzhaut, dessen wir uns übrigens nicht bewußt sind. Nicht nur ergänzt ein Auge das, was dem andern fehlt – sonst müßte jeder Einäugige den blinden Fleck kennen, – sondern es tritt noch eine Ergänzung von wesentlich andrer Art hinzu.

Eine gleichförmig gefärbte Fläche, auf der man einen Fleck von irgendeiner andern Farbe anbringt, erscheint ununterbrochen in der Grundfarbe, sobald man diesen Fleck durch richtige Einstellung der Augenachse auf den blinden Fleck der Netzhaut fallen läßt. Die[864] Gewohnheit der Ergänzung einer Fläche stellt sich also hier unmittelbar als sinnliche Farbenempfindung dar. Ist die Grundfarbe rot, so wird auch an der blinden Stelle rot – wenn der Ausdruck richtig verstanden wird – gesehen. Diese Empfindung läßt sich nicht auf die abstrakte Annahme zurückführen, daß dieser Punkt sich von der übrigen Fläche nicht unterscheiden werde, auch nicht auf die leicht unterscheidbare Natur eines Phantasiebildes; sondern man sieht, so deutlich wie man überhaupt mit einer vom gelben Fleck ziemlich weit entfernten Stelle der Netzhaut zu sehen pflegt, die Farbe, die nach der bloßen Einrichtung des äußeren Organs an der betreffenden Stelle durchaus nicht erscheinen könnte.

Man hat nun dies Experiment durch viele Variationen verfolgt. Man bringt auf der weißen Fläche einen schwarzen Stab an und läßt die Mitte desselben auf den blinden Fleck fallen. Der Stab erscheint vollständig, einerlei, ob er vollständig ist, oder ob er an der blinden Stelle unterbrochen ist. Das Auge macht gleichsam einen Wahrscheinlichkeitsschluß, einen Schluß aus der Erfahrung, eine unvollständige Induktion. Wir sagen: das Auge macht diesen Schluß. Der Ausdruck ist absichtlich nicht bestimmter, weil wir damit nur jenen gesamten Kreis der Einrichtungen und Vorgänge vom Zentralorgan bis zur Netzhaut kurz bezeichnen wollen, dem man auch die Tätigkeit des Sehens zuschreibt. Wir halten es für methodisch unzulässig, in diesem Falle das Schließen und das Sehen als zwei gesonderte Akte voneinander zu trennen. Dies kann man nur in der Abstraktion tun. Wenn man an dem wirklichen Vorgang nicht künstlich deutet, so ist in diesem Falle das Sehen selbst ein Schließen, und der Schluß vollzieht sich in Form einer Gesichtsvorstellung, wie er sich in andern Fällen in der Form sprachlich ausgedrückter Begriffe vollzieht.

Daß hier wirklich Sehen und Schließen eins sind, zeigt schon die bloße Erwägung, daß man ja gleichzeitig durch Vermittlung von Begriffen mit vollkommner Sicherheit das Gegenteil von demjenigen schließt, was die unmittelbare Sinneserscheinung gibt. Gehörte dem Organe des Sehens bloß die sinnliche Empfindung als solche an; geschähe alles Schließen in einem besondern Organ des Denkens, so könnte man diesen Widerspruch zwischen Schließen und Schließen schwerlich erklären, ganz abgesehen von der besondren Schwierigkeit des unbewußten Denkens. Diese letztere ist sogar einer allgemeinen Lösung näher gebracht, wenn wir annehmen, daß Operationen, die mit dem Schließen in ihren Bedingungen[865] und in ihrem Resultat identisch sind, mit der bloßen Sinnestätigkeit einheitlich verschmolzen sein können.

Wie groß in der Tat die Einheit des Schließens und des Sehens in diesen Erscheinungen ist, zeigt der Erfolg einer Variation des Experimentes, durch welche gleichsam das Auge auf die Mangelhaftigkeit seiner Prämissen aufmerksam gemacht wird. Man stellt ein Kreuz aus verschiednen Farben her und läßt die Stelle, auf welcher die beiden Stäbe sich decken, den Kreuzungspunkt, auf den blinden Fleck fallen. Welchen Arm soll die Vorstellung nun ergänzen, da beide gleiches Anrecht geltend machen? Man nimmt gewöhnlich an, daß in diesem Falle die Farbe, welche den lebhaftesten psychischen Eindruck macht, durchdringe, daß auch wohl ein Wechsel eintrete, indem bald der eine, bald der andre Stab durchgezogen erscheint. Allerdings kommen diese Erscheinungen vor, allein sie sind schon von Anfang an weniger deutlich als bei dem einfachen Experiment, und bei häufiger Wiederholung und Änderung des Versuches hört zuletzt das Sehen an dieser Stelle ganz auf. Es gelingt nicht mehr, weder den einen noch den andern Arm durchgezogen zu sehen. Das Auge kommt gleichsam zu dem Bewußtsein, daß an dieser Stelle nichts zu sehen ist und korrigiert seinen ursprünglichen Trugschluß.

Ich will nicht unterlassen hier zu bemerken, daß ich nach sehr langer Beschäftigung mit diesen Versuchen überhaupt die ursprüngliche Frische der ergänzten Farben und Formen abnehmen sah; das Auge schien auch bei den einfacheren Experimenten mißtrauisch geworden zu sein. Nach längerer Unterbrechung der Versuche fand sich die ursprüngliche Sicherheit der Ergänzung wieder ein.

Drobisch (Zeitschr. f. ex. Phil. IV., 334 ff.) hat geglaubt, Wert darauf legen zu dürfen, daß Helmholtz die Sinneswahrnehmungen aus psychischen Tätigkeiten ableitet; es liege darin nichts Geringeres als eine »Zurückweisung des Materialismus«. Allein wenn Helmholtz uns zeigt, daß die Wahrnehmungen so zustande kommen, als wenn sie durch Schlüsse gebildet wären, so können darauf folgende zwei Sätze angewandt werden:

1. Wir haben bisher für die Eigentümlichkeiten der Wahrnehmung stets physische Bedingungen gefunden; also müssen wir vermuten, daß auch die Analogie mit Schlüssen auf physischen Bedingungen beruhe.

2. Gibt es im rein sinnlichen Gebiet, wo für alle Erscheinungen organische Bedingungen anzunehmen sind, Vorgänge, welche mit[866] den Verstandesschlüssen wesensverwandt sind, so wird es dadurch bedeutend wahrscheinlicher, daß auch die letzteren auf einem physischen Mechanismus beruhen.

Hätte die Sache nicht noch eine ganz andre Seite, so, würde der Materialismus in den hierher gehörigen Untersuchungen nur eine neue Stütze finden. Die Zeit, wo man sich einen Gedanken als Sekret eines besondern Gehirnteils oder als Schwingung einer bestimmten Faser denken könnte, ist freilich vorüber. Man wird sich heute schon daran gewöhnen müssen, die verschiednen Gedanken als verschiedne Tätigkeitsformen derselben mannigfach zusammenwirkenden Organe aufzufassen. Was könnte nun dem Materialismus willkommener sein als der Nachweis, daß bei Gelegenheit der Sinneswahrnehmungen in unserm Körper sich ganz unbewußt Vorgänge ereignen, welche in ihrem Resultat vollständig mit den Schlüssen übereinstimmen? Sind nicht dadurch die höchsten Funktionen der Vernunft einer wenigstens teilweise materiellen Erklärung um einen bedeutenden Schritt näher geführt? Wenn man den Materialisten mit dem unbewußten Denken kommt, so haben sie dagegen nicht nur die Waffe des gesunden Menschenverstandes, der in einer unbewußten Funktion der »Seele« einen Widerspruch findet, sondern sie können sofort so schließen: Was unbewußt ist, muß körperlicher Natur sein, da man ja die ganze Annahme einer Seele nur auf das Bewußtsein gründet. Kann der Körper ohne das Bewußtsein logische Operationen vollziehen, die man bisher nur dem Bewußtsein glaubte zuschreiben zu dürfen, dann kann er das Schwierigste, was die Seele leisten soll. Es hindert uns dann nichts mehr, auch das Bewußtsein dem Körper als Eigenschaft zuzuschreiben.

Der einzige Weg, welcher sicher über die Einseitigkeit des Materialismus hinausführt, geht mitten durch seine Konsequenzen hindurch. Es sei denn also, daß es im Körper einen physischen Mechanismus gibt, welcher die Schlüsse des Verstandes und der Sinne hervorbringt: dann stehen wir unmittelbar vor den Fragen: Was ist der Körper? Was ist der Stoff? Was ist das Physische? Und die heutige Physiologie muß uns, so gut wie die Philosophie, auf diese Fragen antworten, daß dies alles nur unsre Vorstellungen sind; notwendige Vorstellungen, nach Naturgesetzen erfolgende Vorstellungen, aber immerhin nicht die Dinge selbst.

Die konsequent materialistische Betrachtung schlägt dadurch sofort um in eine konsequent idealistische. Es ist keine Kluft in unsrem[867] Wesen anzunehmen. Wir haben nicht einzelne Funktionen unsres Wesens einer physischen, andre einer geistigen Natur zuzuschreiben, sondern wir sind in unserm Recht, wenn wir für alles, auch für den Mechanismus des Denkens, physische Bedingungen voraussetzen und nicht rasten, bis wir sie gefunden haben. Wir sind aber nicht minder in unserm Recht, wenn wir nicht nur die uns erscheinende Außenwelt, sondern auch die Organe, mit denen wir diese auffassen, als bloße Bilder des wahrhaft Vorhandenen betrachten. Das Auge, mit dem wir zu sehen Glauben, ist selbst nur ein Produkt unsrer Vorstellung, und wenn wir finden, daß unsre Gesichtsbilder durch die Einrichtungen des Auges hervorgerufen werden, so dürfen wir nie vergessen, daß auch das Auge samt seinen Einrichtungen, der Sehnerv samt dem Hirn und all den Strukturen, die wir dort noch etwa als Ursachen des Denkens entdecken möchten, nur Vorstellungen sind, die zwar eine in sich selbst zusammenhängende Welt bilden, jedoch eine Welt, die über sich selbst hinausweist. Dabei ist freilich noch zu untersuchen, inwiefern es wahrscheinlich ist, daß sich die Erscheinungswelt von der Welt der veranlassenden Dinge so total unterscheidet, wie etwa Kant es wollte, indem er Raum und Zeit als bloß menschliche Formen der Anschauung ansah, oder ob wir denken dürfen, daß wenigstens die Materie mit ihrer Bewegung objektiv vorhanden und Grund aller übrigen Erscheinungen ist, wie sehr auch diese Erscheinungen von den wirklichen Formen der Dinge abweichen mögen. Ohne Objektivität von Raum und Zeit kann in keinem Falle etwas unsrer Materie und der Bewegung Ähnliches gedacht werden. Sonach bleibt es die letzte Zuflucht des Materialismus, zu behaupten, daß die räumliche und zeitliche Ordnung den Dingen an sich zukomme.

Sehen wir von dem sittlichen Beweis für die Wirklichkeit der Erscheinungswelt, wie wir ihn bei Czolbe finden, hier ab, so hat keiner unsrer Materialisten diesen Beweis zu führen versucht; dagegen finden wir einen beachtenswerten, aber nach unsrer Überzeugung nicht stichhaltigen Versuch in Ueberwegs Logik, §§ 38 bis 44. Ueberweg bestreitet mit Recht die Art, in welcher Kant Raum und Zeit als Form der Wahrnehmung von dem Stoff derselben unterschied. Er geht sodann von dem Satze aus, daß die innere Wahrnehmung ihre Objekte so, wie sie an sich sind, mit materieller Wahrheit aufzufassen vermöge. Mit musterhafter Klarheit unterscheidet er das Wesen der Empfindung von dem Wesen der Dinge,[868] durch welche dieselbe veranlaßt wird. Nur das Wesen der psychischen Gebilde in unserm eignen Bewußtsein, glaubt Ueberweg, vermöchten wir genau so zu erkennen, wie es ist. Da nun unsre innere Erfahrung zeitlich verläuft, so hält er die Wirklichkeit der Zeit für erwiesen. Die Zeitordnung setzt aber die Gesetze der Mathematik voraus, und diese setzen den Raum von drei Dimensionen voraus, womit der Gang des Beweises abschließt.

Abgesehen davon, daß der Fundamentalsatz wenigstens hinsichtlich der Reproduktion gerechten Bedenken unterliegt, scheint mir ein ganz bestimmter Fehler darin zu liegen, daß die Realität der Zeit in uns auf die Realität der Zeit außer uns übertragen wird. In uns hat nicht nur die Zeit Realität, sondern auch der Raum, ohne daß dazu eine Vermittlung durch den Zusammenhang der mathematischen Gesetze nötig wäre. Nun müssen wir allerdings aus dem Zusammenhang der Dinge in uns mit Notwendigkeit auf einen korrespondierenden Zusammenhang der Dinge außer uns schließen; allein dieser Zusammenhang braucht eben keineswegs Übereinstimmung zu sein. Wie sich die Vibrationen der berechneten Erscheinungswelt zu den Farben der unmittelbar gesehenen verhalten, so könnte sich auch eine für uns ganz unfaßbare Ordnung der Dinge zu der räumlich-zeitlichen Ordnung verhalten, die in unsern Wahrnehmungen herrscht.556

Sonne, Mond und Sterne samt ihren regelmäßigen Bewegungen und samt dem ganzen Universum sind ja nach Ueberwegs eigner genialer Bemerkung nicht nach außen reflektierte Bilder, sondern Elemente, gleichsam Teile unsres Innern. Wenn Ueberweg sagt, sie seien Bilder in unserm Gehirn, so darf man dabei nicht vergessen, daß unser Gehirn auch nur ein Bild oder die Abstraktion eines Bildes ist, nach den Gesetzen entstanden, welche unser Vorstellen beherrschen. Es ist ganz in der Ordnung, wenn man zur Vereinfachung der wissenschaftlichen Reflexion in der Regel bei diesem Bilde stehen bleibt; allein man darf nie vergessen, daß man damit nur eine Relation zwischen den übrigen Vorstellungen und der Gehirnvorstellung hat, aber keinen festen Punkt außerhalb dieses subjektiven Gebietes. Es läßt sich über diesen Kreis durchaus nicht anders hinauskommen, als durch Vermutungen, die sich denn auch den gewöhnlichen Regeln der Logik des Wahrscheinlichen unterwerfen müssen.

Nun sehen wir schon, wie groß der Unterschied zwischen einem unmittelbar gesehenen Objekt und einem nach den Lehren der[869] Physik gedachten Objekt ist, wir sehen schon auf dem engen Gebiet, innerhalb dessen eine Erscheinung die andre korrigieren und ergänzen kann, wie ungeheuren Veränderungen das Objekt unterliegt, wenn es von einem Medium mit seinen Wirkungen in ein andres übertritt: müssen wir da nicht schließen, daß der Übertritt von Wirkungen eines Dinges an sich in das Medium unsres Seins mutmaßlich ebenfalls mit bedeutenden, vielleicht noch ungleich bedeutenderen Umgestaltungen verbunden ist?

Die mathematischen Gesetze können hieran nichts ändern.

Denken wir uns, um dies zu sehen, einen Augenblick ein Wesen, welches sich den Raum nur in zwei Dimensionen vorstellen kann. Es möge ganz nach der Analogie von Ueberwegs beseelter Kamera-Platte gedacht werden. Würde nicht für dies Wesen auch ein mathematischer Zusammenhang der Erscheinungen gegeben sein, obwohl es niemals den Gedanken unsrer Stereometrie fassen könnte? Der relativ wirkliche Raum, d.h. unser Raum mit seinen drei Dimensionen, kann seiner Erscheinungswelt gegenüber als »Ding an sich« gedacht werden. Dann ist der mathematische Zusammenhang zwischen der veranlassenden Welt und der Erscheinungswelt dieses Wesens ganz ungestört, und doch kann aus der Flächen-Projektion im Bewußtsein des letzteren kein Schluß auf die Natur der veranlassenden Dinge gezogen werden.

Man wird leicht sehen, daß hiernach auch Wesen denkbar sind mit raumähnlichen Anschauungen von mehr als drei Dimensionen, obwohl wir uns dergleichen schlechterdings nicht anschaulich vorstellen können.557 – Es ist überflüssig, solche Möglichkeiten weiter aufzuzählen; vielmehr genügt es vollständig zu konstatieren, daß ihrer unendlich viele sind und daß die Gültigkeit unsrer Anschauung von Raum und Zeit für das Ding an sich daher äußerst zweifelhaft erscheint. Damit ist nun freilich kein Materialismus irgendwelcher Art mehr zu behaupten; denn wenn auch unsre auf sinnliche Anschauungen angewiesene Forschung mit unvermeidlicher Konsequenz darauf ausgehen muß, für jede geistige Regung entsprechende Vorgänge im Stoff nachzuweisen, so ist doch dieser Stoff selbst mit allem, was aus ihm gebildet ist, nur eine Abstraktion von unsern Vorstellungsbildern. Der Streit zwischen Körper und Geist ist zugunsten des letzteren geschlichtet, und damit erst ist die wahre Einheit des Bestehenden gesichert. Denn während es stets eine unüberwindliche Klippe für den Materialismus blieb, zu erklären, wie aus stofflicher Bewegung eine bewußte Empfindung[870] werden könnte, so ist es dagegen keineswegs schwer zu denken, daß unsre ganze Vorstellung von einem Stoff und seinen Bewegungen das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungsanlagen ist.

Sonach hat Helmholtz vollkommen recht, wenn er die Sinnestätigkeit auf eine Art von Schluß zurückführt.

Wir haben wiederum recht, wenn wir bemerken, daß dadurch die Forschung nach einem physikalischen Mechanismus des Empfindens wie des Denkens nicht überflüssig oder unzulässig wird.558

Endlich aber sehen wir ein, daß ein solcher Mechanismus gleich jedem andern vorgestellten Mechanismus doch selbst wieder nur ein mit Notwendigkeit auftauchendes Bild eines unbekannten Sachverhaltes sein muß.

»Wenn wir auch das Gewebe der atomistischen Welt nicht mit den leiblichen Sinnen anschauen, so denken wir dasselbe doch unter dem Typus der anschaulichen Vorstellung, konstruieren die Vorgänge in anschaulicher Weise; denn was ist es andres, wenn wir die mit Notwendigkeit statuierten Atome in Zeit und Raum versetzen und uns das Verhalten der Massen aus deren Gleichgewichtslage und verschiedenartiger Bewegung erklären?«

»Wie die Materie überhaupt, so sind auch die konstituierenden Atome Erscheinung, Vorstellung, und wie die Frage an die anschauliche Materie, so ist nicht minder die an die Atome berechtigt, was sie außer der Erscheinung, außer der Vorstellung, was sie an sich seien – was in ihnen von Ewigkeit her zum Ausdruck gelangt sei.«

Mir diesen Worten bereitet Rokitansky559 die Erklärung vor, daß gerade die atomistische Theorie es ist, welche eine idealistische Weltanschauung stützt; und wir können hinzufügen, daß gerade die Zurückführung alles Psychischen auf Hirn- und Nervenmechanismus der sicherste Weg ist zu der Erkenntnis, daß sich hier der Bogen unsres Erkennens schließt, ohne das, was der Geist an sich ist, zu berühren. Die Sinne geben uns, wie Helmholtz sagt, Wirkungen der Dinge, nicht getreue Bilder, oder gar die Dinge selbst. Zu diesen bloßen Wirkungen gehören aber auch die Sinne selbst samt dem Hirn und den in ihm gedachten Molekularbewegungen. Wir müssen also den Bestand einer transzendenten Weltordnung anerkennen, möge diese nun auf »Dingen an sich selbst« beruhen, oder möge sie, da ja auch das »Ding an sich« noch eine letzte Anwendung unsres anschauenden Denkens ist, auf lauter[871] Relationen beruhen, die in verschiedenen Geistern sich als verschiedne Arten und Stufen des Sinnlichen darstellen, ohne daß eine adäquate Erscheinung des Absoluten in einem erkennenden Geiste überhaupt denkbar wäre.[872]

551

Daß es nicht gänzlich gleichgültig ist, wie es in der 1. Aufl. hieß, hat mir namentlich die Art gezeigt, in welcher neuere Kantianer beharrlich von der geistigen Organisation reden, wodurch die Vorstellung veranlaßt wird, als sei diese etwas ganz Besonderes. Gewiß ist es dagegen nicht nur an sich richtiger, sondern auch Kants Ansicht entsprechend, in dieser »geistigen« Organisation nur die transzendente Seite der erscheinenden physischen zu sehen; das »Ding an sich des Gehirns«, wie Ueberweg sich auszudrücken pflegte. Vgl. übr. oben Anm. 25 zum 1. Abschn., S. 166 u. ff.

552

Lichtenbergs vermischte Schriften hg. v. Kries, II, S. 31 und S. 44.

553

Helmholtz, Handbuch d. physiol. Optik, § 29, S. 606 u. f. und S. 594.

554

An dem hier geschilderten relativen und didaktischen Verdienst der Müller-Ueberwegschen Theorie vermag auch die neueste Wendung, welche Stumpf (Über den psychol. Urspr. der Raumvorstellung, Leipz. 1873) der Projektionslehre zu geben versucht hat, nichts zu ändern. Mit Unrecht läßt Stumpf meine Zustimmung zu Ueberwegs Theorie als eine unbedingte erscheinen (Anm. zu S. 190), während die Differenz der Standpunkte, die mir diesmal ausführlicher hervorgehoben haben, doch schon in der 1. Aufl. hinlänglich angedeutet ist und sich auch als selbstverständliche Konsequenz meines Standpunktes in der Erkenntnistheorie ergibt. Ueberweg gegenüber beginnt Stumpf mit der Unterstellung, derselbe habe den Unterschied nicht beachtet zwischen: »etwas als in einer Entfernung befindlich vorstellen« und »seine Vorstellung in dieser Entfernung haben oder sie als in derselben befindlich vorstellen.« So leicht darf man Ueberweg nicht nehmen, dessen Weltanschauung bei aller Sonderbarkeit des Ganzen eine in allen Teilen sehr durchdachte ist. Gerade die Frage: was heißt es eigentlich, etwas als in einer Entfernung befindlich vorstellen? kann man als Ausgangspunkt seiner psychologischen Konstruktion ansehen; denn Ueberweg fand, daß diese Worte keinen Sinn haben, wenn nicht die Entfernung selbst ebenfalls sinnlich angeschaut wird. Nur der zweite Satz ist daher nach seiner Auffassung klar und sachgemäß; der erste beruht auf dem scholastisch-kartesischen Trugbilde eines von seinem Inhalt abtrennbaren Vorstellens. Auch die Art, wie Stumpf Ueberwegs Bild von der Platte einer Camera obscura behandelt (S. 191), beruht auf einem totalen Mißverständnisse. Das Bild der Platte befaßt natürlich nur ihre äußere Erscheinung, ohne das, was auf ihr gezeichnet ist, wie wir einen Menschen von außen anschauen, dem wir nicht ins Gehirn sehen können. Das Bild vollends mit dem eigentlichen »Selbst« der Platte zu identifizieren, darauf kann wohl niemand verfallen, der Ueberwegs Ansicht ernstlich gerecht zu werden sucht. – Die scharfsinnige, aber gewagte Deduktion Stumpfs, daß die Gesichtsvorstellung ursprünglich drei Dimensionen haben müsse, lassen wir hier dahingestellt. Wenn er aber zur Vereinfachung des Problems der Tiefenwahrnehmung den Begriff des »außer uns« vermeidet und statt dessen nur vom Sehen der Dinge »in einer Entfernung« handelt, so wird damit eben auch über den Kern der Projektionsfrage nicht entschieden; denn dieser dreht sich immer um die Entfernung der Dinge von unserm Körper und der vorgestellten Dinge vom vorgestellten Körper.

555

Ueberweg hat gegen diese Kritik in den späteren Auflagen seiner Logik und im Grundriß der Gesch. d. Phil. III, § 27 repliziert. Die Realität der Zeit betreffend bemerkt er (vgl. zu § 44 in der 4. Aufl. der Logik, hg. v. J. B. Meyer, S. 85, Anm.), es würde (im Sinne unsrer Kritik) unberechtigt sein, die Zeit auf andre Wesen zu übertragen, wenn sie eine bloße Anschauungsform wäre; sie sei aber eine »psychische Realität«, weil wir (was in § 40 bewiesen sein soll) die gegenwärtig in uns vorhandnen psychischen Gebilde notwendig genau so auffassen, wie sie sind. Allein »Auffassung« ist schon ein neuer psychischer Prozeß, in welchem das Aufgefaßte nicht unverändert bleiben kann. Die Zeitvorstellung scheint aber überhaupt erst in solchen sekundären psychischen Gebilden zum Vorschein zu kommen. In der einfachen, ganz hingebenden Anschauung, selbstbewegter Gegenstände, wie z.B. ziehender Wolken, eines fließenden Stromes usw., finde ich nicht das mindeste Bewußtsein von Zeit. Hält man sich aber an die einfache Tatsache, daß wir, wie immer, Zeit vorstellen, also die Zeitvorstellung in uns wirklich ist, so hat die Zeit in dieser Beziehung nicht das mindeste vor dem Raume voraus, und es ist kein Analogieschluß möglich auf andre Wesen überhaupt, sondern nur, wie schon Kant zugab, auf andre Wesen, welche ähnlich wie wir zur Erkenntnis ausgerüstet sind. – Ueberwegs Beweis für die transzendente Realität des Raumes von drei Dimensionen beruht aber ganz auf der Behauptung, daß eine mathematische Erkenntnis der Objekte nicht in dem Maße möglich sein würde, wie sie es für uns ist (z.B. in der Astronomie), wenn nicht die Anzahl der Dimensionen der an sich bestehenden Welt mit derjenigen der Erscheinungswelt übereinstimmte. Daß auch ohne die Erfüllung dieser Bedingung irgendeine mathematische Ordnung der Erscheinungen möglich sein würde, leugnet Ueberweg gar nicht. Aber in welchem Maße ist uns denn die Welt verständlich? Die Astronomie ist doch nur ein Spezialfall, an dessen Stelle unter andern Bedingungen andres treten könnte. Im übrigen fehlt uns jeder absolute Maßstab für das, was man von Verständlichkeit der Welt etwa überhaupt verlangen könnte, und schon deshalb läuft Ueberwegs Standpunkt auf eine versteckte petitio principii hinaus.

556

Die hier gegebenen Äußerungen über die Denkbarkeit von Raumvorstellungen mit mehr oder weniger als drei Dimensionen sind unverändert aus der 1. Aufl. entnommen und also älter als die bekannten »metamathematischen« Spekulationen von Helmholtz und Riemann, welche seitdem so viel Aufsehen gemacht haben. Es muß daher hier, um keine Verwechslung der Ansichten aufkommen zu lassen, zunächst hervorgehoben werden, daß im Text nur von der Denkbarkeit räumlicher oder raumähnlicher Anschauungen in weniger oder mehr als drei Dimensionen die Rede ist; letzteres namentlich mit Beziehung auf Anschauungen im mehr als drei Dimensionen, für welche wir in demjenigen, was wir Raum nennen, allerdings keinerlei Analogie finden können. Wir könnten daher den scharfen Tadel ablehnen, den neuerdings Lotze in seiner Logik (Leipz. 1874), S. 217 gegen den Mißbrauch des Raumbegriffes für »logische Spielereien« mit vier oder fünf Dimensionen ausgesprochen hat. Es ist jedoch viel zu weit gegangen, wenn Lotze ausruft: »Gegen alle solche Versuche muß man sich wehren; es sind Grimassen der Wissenschaft, die durch völlig nutzlose Paradoxien das gewöhnliche Bewußtsein einschüchtern und über sein gutes Recht in der Begrenzung der Begriffe täuschen«. Ein solches Recht des gewöhnlichen Bewußtseins gegenüber der Wissenschaft existiert nicht; am wenigsten für die Mathematiker, die längst gewohnt sind, durch die verwegensten Generalisationen zu ihren schönsten Resultaten zu gelangen. Vgl. die negativen, die inkommensurablen, die imaginären und komplexen Zahlen, die gebrochenen und negativen Exponenten usw. – Auch das Verwerfungsurteil Dührings, Prinz. der Mechanik, S. 488 u. f. ist nicht genügend motiviert, wiewohl es sich auf einen scharfsinnigen Versuch des Verfassers stützt (in der »Natürl. Dialektik«, Berlin 1865 und zuerst in der beachtenswerten Dissertation »de tempore, spatio, causalitate atque de analysis infinitesimalis logica« Berol. 1861) das Mystische aus der Mathematik durch schärfere Fassung der Begriffe zu entfernen. Es ist des »Mystischen« in der neueren Mathematik so viel geworden, daß man mit der Kritik einzelner Begriffe nicht mehr ausreicht. Die Frage muß einmal in einer Philosophie der Mathematik im Zusammenhang erfaßt werden, wie es möglich ist, daß die generalisierende Durchbrechung aller Schranken der Anschauung und der realen Möglichkeit gerade zu den einfachsten Formeln führt, welche sich in ihrer Anwendung auf das Reale durchaus bewähren. Was Dühring, natürl. Dial. S. 162 u. 163 über die »Durchführung durch das Unmögliche« sagt, streift das wahre Problem kaum. – Auf der andern Seite erscheint es aber auch als voreilig, mit Liebmann (vgl. insbes. dessen Aufs. in den Phil. Monatsh. VII. Bd. 2. Hälfte, 8. H. S. 337 u. ff.: »Über die Phänomenalität des Raumes«) diese mathematischen Spekulationen als positive Argumente für die Phänomenalität des Raumes zu verwerten, da sie bis jetzt nichts weiter sind als mathematische Ausführungen der bloßen Denkbarkeit eines generellen Raumbegriffes, der unsern euklidischen Raum als Spezialität in sich begreift.

557

Brentano, Psychol. 1. S. 144 bemerkt in Beziehung auf die obige Äußerung betr. den Schluß des Auges in den Erscheinungen des blinden Flecks, es sei nicht ganz klar, ob ich wirklich einen »vermittelnden Vorgang«, ähnlich dem bewußten Schließen, anerkennen wolle. Die Sache scheint mir ziemlich einfach zu sein. Es handelt sich um eine Subsumtion unter einen induktiv gewonnenen Obersatz. Das bewußte Verfahren würde also sagen: So oft ich die Partialerscheinungen X1, X2, X3..... habe, muß eine gleichmäßige Fläche vorliegen. Nun sind die Erscheinungen X1, X2, X3 gegeben; also liegt eine gleichmäßige Fläche vor. Der entsprechende physiologische Vorgang wäre sehr einfach der, daß sich gewohnheitsmäßig (durch erworbene Leitungsbahnen bedingt) aus der Reizung gewisser Hirnteile durch X1, X2, X3, allemal die Vorstellung der Flächen ergibt (d.h. die mechanischen Bedingungen zur Synthesis in der Flächenvorstellung). Wenn nun die Erscheinungen X1, X2, X3 usw. auftreten, so folgt, wenn man will, unmittelbar die Flächenvorstellung im konkreten Falle. D.h. die »Vermittlung« liegt einfach darin, daß der Spezialfall des Untersatzes auf den schon ausgebildeten Mechanismus des Obersatzes stößt, wodurch der Schlußsatz, das Flächensehen, sich von selbst ergibt. Eine andre »Vermittlung« scheint mir aber auch beim sonstigen Schlußverfahren nicht stattzufinden; es sei denn, daß man das Aufsuchen des Mittelbegriffs, d.h. des in diesem Falle Anwendung findenden Obersatzes, mit in das Schlußverfahren hineinzieht. Dies Aufsuchen des Mittelbegriffs fällt in unserm Falle natürlich hinweg. Die beiden Prämissen finden sich sofort und mit Naturnotwendigkeit zusammen.

Was den auch auf Helmholtz, Zöllner u. a. ausgedehnten Vorwurf betrifft, man habe sich nicht versichert, ob die Erklärung aus unbewußten Schlüssen auch die einzig mögliche sei und insbesondere hätte ein Versuch nicht unterlassen werden sollen, mit den Assoziationsgesetzen die Erscheinungen zu erklären, so ist darauf zu entgegnen, daß die allerdings sehr leichte und naheliegende Erklärung aus Assoziationen derjenigen aus einem unbewußten Schlusse gar nicht widerspricht. Soll nämlich, um bei der obigen Bezeichnung zu bleiben, auf die Erscheinungen X1, X2, X3, das Bild der Fläche nach Assoziationsgesetzen hervortreten, so muß dasselbe auch schon oft mit jenen Erscheinungen verbunden gewesen sein, und dies ist identisch mit dem Bestand des induktiven Obersatzes, unter welchem der neue Spezialfall subsumiert wird. Erklären ja doch die konsequenten Assoziations-Psychologen auch den gewöhnlichen, bewußten Schluß aus Assoziationen! Daß sich aber die exaktere Naturforschung mit diesen Erklärungsweisen nicht gerne befaßt, ist sehr natürlich, da sie ja eigentlich gar nicht Erklärungen sind, sondern nur Lückenbüßer für fehlende Erklärungen.

558

Vgl. Rokitansky, der selbständige Wert des Wissens, Wien 1869, S. 35.

559

Mit Unrecht hat man oft die beiden Hauptwerke Adam Smiths auseinandergerissen und dabei meist die Moraltheorie als eine verhältnismäßig unbedeutende Erstlingsproduktion behandelt, welche neben dem »Reichtum der Nationen« gar nicht mehr in Betracht komme. Daß Smith die Grundgedanken beider Werke gleichzeitig in sich zur Reife gebracht, ist von Buckle (hist. of civil. c. XX) zur Evidenz bewiesen, und überdies erklärt Smith selbst im Vorwort zu einer der späteren Auflagen der Moraltheorie, daß beide Werke einem gemeinsamen Plane entsprungen seien; so jedoch, daß der »Reichtum der Nationen« nur ein Bruchstück bildet von einem umfassenden sozialpolitischen Werke, welches auf die Moraltheorie folgen sollte. Gleichwohl kann man mit Lexis (franz. Ausfuhrprämien S. 5) bezweifeln, ob Adam Smith die Methode der Abstraktion mit Bewußtsein so angewendet habe, daß er in dem einen Werke den Menschen nur vom Egoismus, in dem andern nur von der Sympathie ausgehen lasse. Buckle, der diese Ansicht ausführlich zu begründen sucht, findet in diesem Verfahren einen Vorzug vor dem induktiven, welches von den Tatsachen ausgeht. Durch Vereinfachung der Prinzipien wird die Anwendung des deduktiven Verfahrens möglich gemacht, und der Fehler der Einseitigkeit soll durch das Ausgehen von verschiednen Prinzipien korrigiert werden, so daß also die Wirklichkeit sich zusammensetzen würde aus denjenigen Einflüssen, welche vermöge der Moraltheorie aus der Sympathie folgen und denen, welche vermöge des »Nationalreichtums« aus dem Egoismus folgen. Dieser Ansicht Buckles gegenüber macht Lexis mit Recht darauf aufmerksam, daß menschliche Motive sich nicht addieren und subtrahieren lassen, sondern schon durch ihr Zusammenwirken anders werden, als sie für sich sind. In der Tat hat aber auch Smith sich mit dieser methodologischen Frage gar nicht befaßt. Vielmehr kann man schon in der Moraltheorie überall zwischen den Zeilen lesen, daß die Handlungen des Menschen der wesentlichen Grundlage nach egoistisch sind und nur durch den Einfluß der Sympathie modifiziert werden. Im »Natioalreichtum« behandelt sodann Smith ein solches Gebiet, auf welchem nach seiner Ansicht die direkten Wirkungen der Sympathie gleich Null sind, und nur die indirekten in Betracht kommen, d.h. der Schutz des Rechtes durch den Staat. Vgl. z.B. folgende Äußerung in Part. II. sect. II. chap. II der Moraltheorie: »In the race for wealth and honours, and preferments, he may run as hard as he can, and strain every nerve and every muscle, in order to outstrip all his competitors. But if he should justle, or throw down any of them, the indulgence of the spectators is entirely at an end.« Hiermit vereinigt sich der Gedanke ganz gut, daß im Jagen aller einzelnen nach Reichtum, solange nur das Recht gewahrt bleibt, sich zugleich die Gesamtheit dem Ziele des Reichtums am meisten nähert. Die sozialen Übelstände, welche aus diesem Wettbewerb um den Reichtum hervorgehen, hat Smith in ihrer vollen Entwicklung (zu der seine eigne Theorie nicht wenig beitrug) noch nicht gekannt, und soweit er sie kannte, hielt er sie für unabänderlich. Er kannte keine Form der Sympathie, welche mit Erfolg diesen Übelständen entgegenwirken würde, und also hatte er auch in diesem Abschnitte seines sozialpolitischen Werkes von der Sympathie nicht weiter zu reden. Hätten wir das ganze Werk, so würden wir dies vielleicht in andern Abschnitten anders finden.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 850-873.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Geschichte des Materialismus
Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart: Buch 2: Geschichte des Materialismus seit Kant
Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart: Buch 1: Geschichte des Materialismus bis auf Kant
Geschichte Des Materialismus Und Kritik Seiner Bedeutung in Der Gegenwart, Volume 2 (German Edition)
Geschichte Des Materialismus Und Kritik Seiner Bedeutung in Der Gegenwart (German Edition)
Geschichte Des Materialismus (2); Buch. Geschichte Des Materialismus Seit Kant. Und Kritik Seiner Bedeutung in Der Gegenwart

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Drei Erzählungen aus den »Neuen Dorf- und Schloßgeschichten«, die 1886 erschienen.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon