77. Des Himmels Sinn[81] 1

Des Himmels SINN, wie gleicht er dem Bogenspannen!

Das Hohe drückt er nieder,

das Niedrige macht er hoch.

Was Fülle hat, verringert er,

was Mangel hat, das ergänzt er.

Des Himmels SINN ist es,

die Fülle zu verringern, den Mangel zu ergänzen.

Des Menschen Sinn ist nicht also.

Er verringert, was Mangel hat,

um es darzubringen dem, das Fülle hat.

Wer aber ist imstande, seine Fülle der Welt darzubringen?

Nur der, so den SINN hat.

Also auch der Berufene:

Er wirkt und behält nicht.

Ist das Werk vollbracht, so verharrt er nicht dabei.

Er wünscht nicht, seine Bedeutung vor andern zu zeigen.


Erklärung

1 Der chinesische Bogen ist, wenn abgespannt, nach der innern Seite gebogen und muß beim Spannen durchgedrückt werden. Vgl. Abbildung.

Abgespannter Bogen:


77. Des Himmels Sinn

Gespannter Bogen:


77. Des Himmels Sinn

Zur Sache vgl. Nr. 22 und Jes. 40, 4.

Daß Carus einen Gegensatz zu Matth. 13, 12 (Wer da hat, dem wird gegeben ...) herauskonstruiert, beruht auf Mißverständnis. Heranzuziehen wären Stellen wie Matth. 20, 16 (Also werden die letzten die ersten ...).

Zum Schlusse vgl. Abschn. Nr. 2. Doch ist der Text etwas abweichend.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 81-82.