6. Das Werden der Formen[7] 1

Der Geist der Tiefe stirbt nicht.

Das ist das Ewig-Weibliche.

Des Ewig-Weiblichen Ausgangspforte

Ist die Wurzel von Himmel und Erde.

Endlos drängt sich's und ist doch wie beharrend.

In seinem Wirken bleibt es mühelos.


Erklärung

1 Der Abschnitt ist in Lië Dsï zitiert als aus dem Buche des »Gelben Kaisers« stammend.

Die »Tiefe«, wörtlich das »Tal«, ist ein Ausdruck, der mehrfach vorkommt; vgl. bes. No. 28, 39. Der Kern der Bedeutung ist der leere Raum zwischen den Bergwänden, nicht das, was wir unter Tal zu denken pflegen. In der übertragenen Bedeutung wie hier und in No. 39 kann man es fast gleichsetzen mit »Materie« als der noch ungestalteten, unsichtbaren, bloßen Möglichkeit zum Sein. »Geist« ist dann das Aktive, Gestaltende. Komm. II bemerkt dazu: »Tiefe heißt es, weil es kein Dasein hat, Geist heißt es, weil es darum doch nicht nicht ist«. Man könnte beinahe übersetzen: »Geist und Materie in ihrer Einheit sind ewig«.

Es ist zu der Stelle übrigens zu bedenken, daß die Geister (Schen) im alten China sehr häufig bei Bergen lokalisiert sind (cfr. Schan-Hai-Ging). Der Brauch, die Opferspenden zu vergraben, läßt auf chthonischen Kult schließen. Heranzuziehen sind hier die grundlegenden Untersuchungen von Chavannes (Le dieu du sol dans l'ancienne religion chinoise). Nach ihm hat im 7. Jahrhundert die Vereinigung der Gottheiten des Bodens (schê) und der Ernte (dsi) zu der weiblich gedachten Erdgottheit (di) stattgefunden. In der vorliegenden Stelle leuchtet diese Herkunft des Begriffs noch deutlich durch. Nur scheint der Umstand, daß der Begriff hier schon philosophisch vertieft ist, auf einen weiteren Abstand von jenen ursprünglichen Anschauungen hinzudeuten. Vgl. übrigens die Aufregung Kungs in Betreff gewisser alter Bräuche, die mit dem Dienst der chthonischen Götter verbunden waren. Gespräche, Buch III, 21 (pag. 27).

Der »Ausgang« des Ewig-Weiblichen ist analog zu verstehen wie in Abschnitt 1. Zu der Anschauung von Zeile 5 ist das heraklitische πάντα ῥει als Parallele heranzuziehen. Auch Kung hat einmal einen in ähnliche Richtung weisenden Ausspruch getan (vgl. Gespräche IX, 16, pag. 92).

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 7-8.