[94] 12. Beherrschte Kraft

Der Graf Gung I war wegen seiner Stärke berühmt unter den Fürsten. Der Herzog Tang Ki erzählte von ihm dem König Süan vom Hause Dschou. Der König richtete Geschenke zu, um ihn zu Gast zu bitten. Der Graf Gung I kam. Sah man seine Gestalt an, so erschien er wie ein Schwächling. Der König Süan hegte Mißtrauen in seinem Herzen und sprach zweifelnd: »Wie groß ist deine Stärke?« Graf Gung I sprach: »Meine Stärke reicht hin, die Beine einer Frühlingsheuschrecke zu brechen und einer Herbstzikade Flügel zu ertragen.«

Dem König stieg das Blut zu Kopf, und er sprach: »Die Starken unter meinen Leuten können die Haut eines Nashorns zerreißen und neun Stiere am Schwanze schleppen, und doch sind sie mir zu schwach. Du brichst einer Frühlingsheuschrecke die Beine und hältst die Flügel einer Herbstzikade aus, und doch hört man auf der ganzen Welt von deiner Stärke. Wie geht das zu?«

Der Graf Gung I atmete tief, stand von seiner Matte auf und sprach: »Wahrlich, gut ist deine Frage, o König! Ich wage es, der Wirklichkeit entsprechend zu erwidern: Mein Lehrer war ein Mann namens Schang Kiu Dsï, dessen Stärke niemand auf Erden gewachsen war; doch wußten selbst seine Nächsten nichts davon, darum daß er niemals seiner Stärke sich bediente. Ich diente ihm bis zum Tode. Da sagte er mir: ›Wer Außerordentliches sehen will, muß auf das blicken, was die andern nicht beachten. Wer Unerreichtes erreichen will, muß auf das blicken, was die andern nicht beachten. Wer Unerreichtes erreichen will, muß das pflegen, was die andern nicht[94] tun. Darum, wer sich im Schauen übt, mag erst einen Heuwagen ansehen. Wer sich im Hören übt, mag erst auf Glockenschläge horchen. Was leicht geworden ist im Innern, macht im Äußern keine Schwierigkeiten mehr. Wenn man aber im Äußern keine Schwierigkeiten mehr findet, so dringt der Name nicht über das eigne Heim hinaus.‹

Daß nun mein Name unter den Fürsten bekannt geworden ist, zeigt, daß ich meines Meisters Lehren mißachtet und meine Fähigkeiten geoffenbart habe. Aber dennoch beruht mein Name nicht darauf, daß ich meine Stärke mißbrauche, sondern darauf, daß ich meine Stärke zu gebrauchen weiß. Ist das nicht besser, als seine Kraft zu mißbrauchen?«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 94-95.
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