6. Der alte Lin Le

Verschiedene Wertung von Leben und Tod

[39] Lin Le (Waldmensch) war wohl hundert Jahre alt. Es war Frühlingszeit, und er war noch in Pelz gehüllt und las zurückgelassene Ähren auf den abgeernteten Feldern auf und sang im Gehen. Meister Kung, auf seiner Reise nach We, erblickte ihn auf dem Feld. Er sah nach seinen Jüngern um und sprach: »Der Alte da ist jemand, mit dem sich's lohnt zu reden. Versuche es doch einer, hinzugehen und ihn zu fragen!« Dsï Gung bat, gehen zu dürfen.

Er holte ihn ein auf einem Hügel, sah ihm gerade ins Gesicht und sagte seufzend: »Alter, tut Euch nichts leid, daß Ihr so singend umhergeht und Ähren leset?« Lin Le hielt nicht ein im Gehen und hörte nicht auf zu singen. Dsï Gung drang unablässig in ihn. Da wandte er sich ihm zu und antwortete: »Was sollte mir denn leid tun?« Dsï Gung sprach: »Ihr wart in der Jugend nicht strebsam; als Ihr erwachsen wart, habt Ihr nicht mit der Zeit gekämpft; jetzt seid Ihr alt und habt nicht Weib noch Kind, und die Zeit des Todes naht[39] heran. Was habt Ihr da noch Grund zur Freude, daß Ihr beim Ährenlesen singt?«

Lin Le lächelte und sprach: »Was ich für Freude achte, können alle Menschen haben, aber sie halten es für Leid. Weil ich in der Jugend nicht gestrebt und als Erwachsener nicht mit der Zeit gekämpft, darum habe ich es auf ein so hohes Alter gebracht. Weil ich im Alter nicht Weib noch Kind habe, und es kommt der Tod heran, darum kann ich so fröhlich sein.«

Dsï Gung sprach: »Hohes Alter ist etwas, das nach dem Gefühl der Menschen gut ist; aber der Tod ist etwas, das die Menschen hassen: wie könnt Ihr denn den Tod für Freude achten?« Lin Le sprach: »Sterben und Leben ist ein Gehen und Zurückkehren. Darum, wer hier stirbt: wer weiß, ob er nicht dort geboren wird? Ich weiß nur, daß beides einander nicht gleich ist. Wie kann ich wissen, ob einer, der mit Müh' und Not sein Leben sucht, nicht am Ende betrogen ist? Wie kann ich wissen, ob heute mein Tod nicht etwas Besseres ist als früher mein Leben?«

Dsï Gung vernahm es, aber verstand nicht, was er meinte. Er ging zurück, um es dem Meister zu sagen. Der Meister sprach: »Ich wußte, daß er einer ist, mit dem sich's lohnt zu reden, und richtig war es so. Wahrlich, er hat es erfaßt, aber nicht erschöpft.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 39-40.
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