[104] 6. Das Paradies

Als Yü Land und Wasser ordnete, da verirrte er sich und kam vom Weg ab. Er geriet in ein Land, das am nördlichen Strande des Nordmeeres liegt, niemand weiß, wie viele hunderttausend Meilen von dem Tsi-Lande entfernt. Das Land heißt das Ende des Nordens. Man weiß nicht, wovon sein Gebiet begrenzt wird. Dort gibt es nicht Wind noch Regen, nicht Reif noch Tau. Nicht leben dort die Geschlechter der Tiere und Vögel, der Kerfe und Fische. Ringsum eben steigt es in die Lüfte. In dieses Landes Mitte ist ein Berg. Sein Name heißt Hu Ling (Urnenhals). Seine Gestalt ist wie eine Urne. Auf seinem Gipfel ist eine Öffnung. Ihre Gestalt ist wie ein runder Ring. Ihr Name heißt Wirkung des Feuchten. Wasser strömt daraus hervor, das heißt Götterbrunnen. Sein Duft ist herrlicher als Orchideen und Pfeffer. Sein Geschmack ist lieblicher als Wein und Most. Die eine Quelle teilt sich in vier Bäche, die strömen den Berg hinab und durchfließen das ganze Land nach allen Enden. Der Erde Kraft ist milde: kein giftiger Hauch macht krank. Der Menschen Art ist sanft: sie folgen[104] der Natur ohne Zank und Streit. Ihr Herz ist weich und ihr Leib ist zart: fern ist ihnen Hochmut und Neid. Alte und Junge wohnen friedlich beieinander: nicht haben sie Fürsten und Knechte. Männer und Frauen wandeln zusammen: nicht freien sie und lassen sich freien. Sie wohnen am Ufer des Wassers; nicht pflügen sie noch ernten sie. Die Luft ist weich und lau: nicht weben sie noch kleiden sie sich. Hundertjährig sterben sie: nicht gibt es Krankheit und vorzeitigen Tod. Das Volk lebt in Frieden und Seligkeit ohne Maß. Sie haben Freude und Wonne, sie kennen nicht Verfall und Alter, Trauer und Bitternis. Sie lieben die Töne. Sie fassen sich bei den Händen und singen Wechselgesänge. Den ganzen Tag endet nicht ihr Sang. Sind sie hungrig und müde, so trinken sie aus dem Götterbrunnen, und Kraft und Wille kommt ins Gleiche. Wird's zu viel, so werden sie trunken und wachen nach zehn Tagen wieder auf. Sie baden im Götterbrunnen, und ihre Haut wird feucht und glatt, und nach zehn Tagen erst verliert sich der Duft.

König Mu von Dschou, als er nach Norden wanderte, kam durch ihr Land und vergaß der Heimkehr drei Jahre lang. Als er zum Hause Dschou zurückgekehrt war, da sehnte er sich nach jenem Lande zurück voll Unruhe, also daß er sich selbst verlor. Er nahm nicht Wein noch Speise, er rief nicht seinen Weibern und Dienern. Und erst nach Monaten erholte er sich wieder.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 104-105.
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