[132] 12. Der Nutzen des Todes

Herzog Ging von Tsi wanderte auf dem Kuhberg. Als er von Norden der Hauptstadt seines Landes nahte, da vergoß er Tränen und rief aus: »Wie schön bist du, o Land! So üppig, so prächtig, glitzernd im Tau! Muß ich dies Land verlassen und sterben? O, gäbe es doch keinen Tod in der Welt! Wenn ich von hier scheide, wohin werde ich dann kommen?« Der Geschichtsschreiber Kung und Liang Kiu Gü taten es ihm beide nach und sprachen schluchzend: »Wir hängen von des Fürsten Gnade ab, und unsere Speise ist einfaches Gemüse und geringes[132] Fleisch. Wir fahren mit alten Mähren und Rumpelwagen und möchten dennoch nicht sterben. Wieviel mehr (Grund zur Klage) hat da erst unser Fürst!«

Nur Meister Yän lächelte für sich. Der Herzog wischte seine Tränen ab, wandte sich an Meister Yän und sprach: »Der Spaziergang hat Uns traurig gemacht, und Kung und Gü haben es Uns beide nachgetan und auch geweint. Warum lachst du allein?« Meister Yän erwiderte und sprach: »Wenn die Würdigen ewig dauerten, so wäre der Große Herzog und der Herzog Huan ewig am Leben geblieben. Wenn die Mutigen ewig dauerten, so wären die Herzöge Dschuang und Ling ewig am Leben geblieben. Wenn nun alle diese Fürsten heute noch lebten, so könnten Eure Hoheit im Schilfmantel und Strohhut auf den Feldern stehen. In diesem bemitleidenswerten Zustand hättet Ihr keine Muße gehabt, ans Sterben zu denken, und wie wäre es dann überhaupt möglich geworden, daß Eure Hoheit auf den Thron gekommen wären? Dadurch, daß in beständigem Wechsel jeder weilte und dann wieder ging, kam die Reihe an Eure Hoheit. Darüber nun aber Tränen zu vergießen, ist nicht wahre Seelengröße. Ich habe einen Fürsten gesehen ohne wahre Seelengröße und habe Diener gesehen, die ihm schmeichelnd nach dem Munde redeten. Als ich dies beides sah, da habe ich mir erlaubt, heimlich für mich zu lächeln.«

Der Herzog Ging schämte sich. Er erhob den Becher sich selbst zur Strafe, und er bestrafte seine beiden Diener, jeden mit zwei Bechern Weins.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 132-133.
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