[127] 6. Die drei Doktoren und das Geheimnis des Lebens

Yang Dschu hatte einen Freund namens Gi Liang. Gi Liang wurde krank, und nach sieben Tagen war es sehr schlimm mit ihm geworden. Sein Sohn umarmte ihn schluchzend. Er wollte einen Arzt rufen. Gi Liang sagte zu Yang Dschu und sprach: »So weit also treibt mein Sohn seine Dummheit! Willst du mir nicht den Gefallen tun und ein Lied singen, um ihn zur Besinnung zu bringen?« Yang Dschu sang darauf also:


»Was kein Gott im Himmel weiß,

Soll der Mensch es merken?

Keine Hilfe kommt vom Himmel,

Keine Schuld des Menschen gibt es.

Wahrlich ich und wahrlich du

Können es nicht wissen;

Ärzte wohl und Zaubrer wohl:

Sollten die es wissen?«


Aber der Sohn wurde nicht zur Besinnung gebracht und rief schließlich drei Ärzte. Der eine hieß Eisenbart (Kiau), der zweite hieß Einverstanden (Yü), und der dritte hieß Schwarz (Lu). Sie untersuchten sein Leiden.

Herr Eisenbart sagte zu Gi Liang und sprach: »Wärme und Kälte stehen nicht im Einklang. Geist und Leib haben nicht das rechte Verhältnis. Die Krankheit kommt von Hunger und Sättigung, Genuß und Begierde, Sorgen des Geistes und zerstreuenden Beschäftigungen. Sie kommt nicht vom Himmel und nicht von Geistern; obwohl es schlimm steht, kann man[127] dagegen angehen.« Gi Liang sprach: »Ein ganz gewöhnlicher Doktor!« Und er trieb ihn hinaus.

Herr Einverstanden sprach nun: »Bei dir war von Anfang an die Kraft des Mutterleibes nicht ausreichend, die Milch war zu reichlich. Die Krankheit ist nicht von gestern und heute, ihre Ursachen haben sich allmählich entwickelt. Sie ist unheilbar.« Gi Liang sprach: »Ein guter Arzt.« Und er gab ihm zu essen.

Herr Schwarz sprach: »Deine Krankheit kommt nicht vom Himmel noch von Menschen noch von Geistern. Als du mit dem Leben deine körperliche Gestalt erhieltest, da hat sie sich gebildet. Der sie gemacht hat, kennt sie auch wohl. Was sollen die Arzneien und Pulver nützen?« Gi Liang sprach: »Ein göttlicher Arzt.« Und er entließ ihn reich beschenkt. Plötzlich wurde dann die Krankheit Gi Liang's von selber wieder gut.

Nicht durch sorgfältige Pflege kann man das Leben verlängern, nicht durch Liebe zum Leben kann man Fülle gewinnen. Ebensowenig kann man durch Verachtung des Leibes ein frühes Ende herbeiführen, durch Vernachlässigung des Lebens es dürftiger machen.

Darum kommt es vor, daß wer sein Leben wert hält, es verliert; wer es verachtet, doch nicht stirbt; wer es liebt, nicht seine Fülle gewinnt; wer es unwichtig nimmt, es doch nicht dürftiger macht. Das scheint verkehrt, es ist aber nicht verkehrt, sondern es kommt davon her, daß Leben und Tod, Fülle und Dürftigkeit auf sich selber beruhen.

Es kommt auch vor, daß einer sein Leben wert hält und es behält; daß einer es verachtet und stirbt; daß einer es liebt und seine Fülle gewinnt; daß einer es unwichtig nimmt und in Dürftigkeit kommt. Das scheint der gerade Lauf zu sein, es ist aber nicht der gerade Lauf, sondern auch das kommt davon, daß Leben und Tod, Fülle und Dürftigkeit auf sich selber beruhen.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 127-128.
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