15. Der Mensch inmitten der Natur

[152] Yang Dschu sprach: »Der Mensch ist das Ebenbild von Himmel und Erde und vereinigt in sich die Natur der fünf Elemente. Von allen Lebewesen am meisten Vernunft hat der Mensch, und doch ist der Mensch so beschaffen, daß er sich nicht auf seine Nägel und Zähne verlassen kann zu seiner Verteidigung; Muskeln und Haut sind nicht stark genug, um Widerstand zu leisten; er kann nicht schnell genug laufen, um Schaden zu entgehen; er hat keine Haare oder Federn, um sich vor Kälte und Hitze zu schützen. Zu seiner Ernährung bedarf er der Außenwelt; dabei muß er sich aber seines Verstandes bedienen und kann sich nicht auf seine Kraft verlassen. Darum schätzt er den Verstand hoch, weil ihm die Erhaltung des eignen Ichs wertvoll erscheint, und er schätzt die rohe Kraft gering, weil die Vergewaltigung der Dinge der Außenwelt minderwertig erscheint.

Dennoch ist unser Ich nicht in unserer Hand; einmal geboren, wächst es sich mit Notwendigkeit aus. Ebensowenig ist das Nicht-Ich in unserer Hand; einmal besessen, geht es mit[152] Notwendigkeit wieder verloren. Das Leben hängt allerdings vom Ich ab, aber ebenso hängt die Ernährung vom Nicht-Ich ab. Selbst wenn unser Ich in voller Blüte des Lebens steht, ist es nicht möglich, es in die Hand zu bekommen; selbst wenn wir mit dem Nicht-Ich in Verbindung bleiben, ist es nicht möglich, es in die Hand zu bekommen. Wer das Nicht-Ich in der Gewalt hätte und sein eignes Ich in der Gewalt hätte, der könnte willkürlich verfügen über alles, was in der Welt Ich und Nicht-Ich heißt; dazu aber wäre wohl nur ein Berufener imstande. Wer sich mit jedem Ich in der Welt und mit jedem Nicht-Ich in der Welt in eins zu setzen vermöchte, der wäre der Vollkommene Mensch, – ja das ist die Vollkommenheit der Vollkommenheit.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 152-153.
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