[157] 1. Was man vom Schatten lernen kann

Meister Liä Dsï lernte bei Hu Kiu Dsï Lin.

Hu Kiu Dsï Lin sprach: »Wißt Ihr, daß, wer sich hinten hält, dadurch sein Selbst behalten mag?«

Liä Dsï sprach: »Ich möchte erfahren, was es heißt, sich hinten zu halten.« Er sprach: »Blickt auf Euren Schatten, so wißt ihr es!«

Liä Dsï wandte sich und betrachtete seinen Schatten. Krümmte er seinen Körper, so war sein Schatten krumm, richtete er seinen Körper auf, so war sein Schatten gerade. Ob der Schatten krumm war oder gerade, wurde von dem Körper bestimmt und nicht von ihm selber. Sich beugen und sich ausdehnen, wie es den Verhältnissen entspricht, und es nicht selber bestimmen, das heißt sich hinten halten und dadurch vorne weilen.

Guan Yin redete mit Meister Liä Dsï und sprach: »Sind die Worte schön, ist auch das Echo schön; sind die Worte häßlich, ist auch das Echo häßlich. Ist der Leib lang, so ist auch der Schatten lang; ist der Leib kurz, so ist auch der Schatten kurz. Der Name (der uns zuteil wird) ist wie ein Echo (unserer Reden). Unser eignes Ergehen ist der Schatten (unserer Taten). So heißt es: Achte auf deine Worte, so wirst du[157] Übereinstimmung finden! Achte auf deine Taten, so wirst du Nachfolger finden! Darum sieht der Berufene auf das, was von einem Menschen ausgeht, und erkennt daraus das, was ihm zuteil wird; er betrachtet das Vergangene und erkennt daraus das Kommende. Das ist der Grund seines Vorherwissens.

Das Maß liegt im eignen Selbst; das Richten liegt bei den Menschen. Wenn die Menschen mich lieben, so habe ich sie sicher (erst) geliebt; wenn die Menschen mich hassen, so habe ich sie sicher (erst) gehaßt. Tang und Wu haben die Welt geliebt, darum wurden sie Könige. Giä und Dschou Sin haben die Welt gehaßt, darum gingen sie zugrunde. So wurden sie gerichtet.

Wer Messen und Richten beides versteht, aber ohne den SINN, der gleicht einem Menschen, der hinausgehen wollte, aber nicht durch die Tür; der wandeln wollte, aber nicht auf dem Weg. Schwerlich wird es ihm gelingen, sich Nutzen zu schaffen. Betrachte Schen Nungs und Fu Hi's (Yu Yän's) geistige Kräfte! Forsche nach in den Büchern der Könige von Yü, Hia, Schang und Dschou! Überlege die Worte der Weisen und Würdigen: Bestand und Untergang, Blüte und Vernichtung ward niemals anders gewirkt als auf diesem Wege.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 157-158.
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