Einundzwanzigstes Kapitel.
Von der Eintheilung der Wissenschaften

[352] § 1. (Drei Klassen.) Alles, was in den Bereich des menschlichen Verstandes fallen kann, betrifft entweder 1) die Natur der Dinge an sich, ihre Beziehungen und Wirksamkeit; oder 2) das, was der Mensch als ein vernünftiges und freies Wesen für seine Zwecke, insbesondere für sein Glück, zu thun hat; oder 3) die Mittel und Wege, wodurch die Erkenntniss eines von beiden erlangt und mitgetheilt wird; deshalb werden die Wissenschaften hiernach in drei Klassen zerfallen.

§ 2. (Die Physik.) Die erste umfasst also das Wissen der Dinge, wie sie in ihrer eignen Natur sind, ihre Verfassung, Eigenschaften und Wirkungen; worunter ich nicht blos die Körper, sondern auch die Geister verstehe, die, ebenso wie die Körper, ihre eignen Naturen, Verfassungen und Wirksamkeiten haben. Dies nenne ich in einem etwas weitem Sinne des Wortes die Physik oder die Naturwissenschaft. Ihr Zweck ist nur die Erkenntniss der Wahrheit; und Alles, was dazu beiträgt, fällt darunter, also auch Gott, die Engel, die Geister, wie die Körper und deren Eigenschaften, als die Zahl, Gestalt u.s.w.

§ 3. (Die praktische Wissenschaft.) Die zweite ist die praktische, oder die Kunst, die eignen Kräfte und das Handeln so auszuüben, dass man das Gute und Nützliche erreicht. Die wichtigste unter diesen Wissenschaften ist die Ethik, welche die Regeln und den Anhalt für die menschlichen Handlungen, die zu der Glückseligkeit führen, und die Mittel, sie zu erlangen, aufsucht. Das Ziel ist hier nicht ein blosses Wissen und die blosse Erkenntniss der Wahrheit; sondern das Recht und ein dem entsprechendes Verhalten.[352]

§ 4. (Die bezeichnende Wissenschaft.) Die dritte Klasse kann sêmeiotikê oder die Lehre von den Zeichen genannt werden. Da die Worte die gebräuchlichsten Zeichen sind, so heisst sie auch passend logikê oder die Logik. Sie beschäftigt sich mit Betrachtung der Zeichen für das Verständniss der Dinge oder für die Mittheilung des Wissens an Andere. Denn die Dinge sind dem Verstande, mit Ausnahme seiner selbst, nicht gegenwärtig; deshalb bedarf es eines Andern, was das Zeichen oder die Darstellung des betrachteten Dinges ist und ihm gegenwärtig ist; dies sind die Vorstellungen. Allein die Scene dieser Vorstellungen, welche das Denken ausmachen, kann dem unmittelbaren Blick Anderer nicht offengelegt werden; sie kann auch nur als solche in dem Gedächtniss aufbewahrt werden, was kein sehr sicheres Behältniss ist; deshalb bedarf es der Zeichen für die Vorstellungen, theils um die Gedanken einander mitzutheilen, theils um sich ihrer zu seinen eignen Zwecken erinnern zu können. Die artikulirten Laute haben sich dazu am zweckmässigsten erwiesen und sind deshalb im allgemeinen Gebrauche. Deshalb bildet die Betrachtung der Vorstellungen und Worte, welche die grossen Werkzeuge des Wissens sind, keinen geringen Theil des menschlichen Wissens, wenn man dasselbe in seiner ganzen Ausdehnung betrachtet. Würden diese Werkzeuge genau erwogen und gehörig untersucht, so gäbe dies vielleicht eine andere Art von Logik und Kritik, als die bis jetzt bekannte.

§ 5. (Dies ist die oberste Eintheilung der Gegenstände des Wissens.) Dies scheint mir die oberste und allgemeinste und zugleich natürlichste Eintheilung der Gegenstände des Wissens zu sein; denn man kann seine Gedanken nur richten entweder auf die Betrachtung der Dinge selbst, zur Entdeckung der Wahrheit; oder auf die Dinge innerhalb seiner Macht, d.h. auf sein Handeln zur Erreichung seiner Absichten; oder auf die Zeichen, deren man sich für jene beiden bedient, und auf deren richtige Ordnung zur bessern Belehrung. Diese drei, nämlich die Dinge, so weit sie in sich selbst Gegenstände des Wissens sind, die Handlungen, so weit sie von uns abhängen und auf das Glück abzielen, und[353] der richtige Gebrauch der Zeichen für das Wissen, sind durchaus verschieden und stellen sich deshalb als die drei grossen Gebiete der geistigen Welt dar, von denen jedes für sich besteht und von dem andern ganz getrennt ist.


Ende.[354]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872.
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Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1