Zwölftes Kapitel.
Von den zusammengesetzten Vorstellungen

[167] § 1. (Die Seele bildet sie aus den einfachen.) Bisher habe ich die Vorstellungen betrachtet, bei deren Aufnahme die Seele sich nur leidend verhält, und welche in den einfachen, durch die Sinnes- und Selbstwahrnehmung empfangenen Vorstellungen bestehen, die die Seele nicht selbst erzeugen kann, und aus denen jedwede andere Vorstellung besteht. Allein so wie die Seele bei Aufnahme aller einfachen Vorstellungen sich nur leidend verhält, so ist sie doch auch mannichfach thätig und bildet aus diesen einfachen Vorstellungen alle andern, wobei jene ihr als Stoff und Grundlage dienen. Die Thätigkeiten in Bezug auf diese einfachen Vorstellungen sind hauptsächlich dreierlei Art: 1) ein Verbinden mehrerer einfachen zu einer zusammengesetzten Vorstellung; die letztem entstehen nur auf diese Weise; 2) ein Zusammenstellen zweier Vorstellungen, gleichviel ob einfach oder zusammengesetzt, und ein Aneinanderbringen derselben in der Art, dass sie beide mit einem Blick übersehen werden, ohne jedoch sie zu verbinden; auf diese Weise gewinnt die Seele alle Beziehungs-Vorstellungen; 3) ein Abtrennen derselben von allen andern in der Wirklichkeit sie begleitenden Vorstellungen; dies ist das Abtrennen, wodurch die allgemeinen Vorstellungen gebildet werden. Hieraus erhellt, dass die Kraft des Menschen und deren Wirkungsweise in der stofflichen und in der geistigen[167] Welt sich so ziemlich gleich sind. In beiden hat der Mensch keine Macht, den Stoff zu schaffen oder zu vernichten; Alles, was er vermag, ist, diesen Stoff zu verbinden, neben einander zu stellen oder zu trennen. Ich werde mit der ersten Kraft in der Betrachtung der zusammengesetzten Vorstellungen beginnen und die anderen später an ihrem Orte behandeln. Die einfachen Vorstellungen zeigen sich in mannichfacher Weise verbunden, und die Seele hat daher die Kraft, mehrere einfache Vorstellungen durch deren Verbindung als eine aufzufassen, und zwar nicht blos so, wie sie in den äussern Gegenständen verbunden sind, sondern auch, wie sie selbst sie verbunden hat. Solche aus mehreren einfachen Vorstellungen gebildete Vorstellungen nenne ich zusammengesetzte, wie z.B.: Schönheit; Dankbarkeit; ein Mensch; ein Heer; die Welt. Obgleich sie aus mehreren einfachen Vorstellungen gebildet sind, so kann doch die Seele solche aus mehreren einfachen bestehenden Vorstellungen jede für sich als ein ganzes Ding auffassen und mit einem Worte bezeichnen.

§ 2. (Sie werden freiwillig gebildet.) Durch dieses Vermögen der Seele, ihre Vorstellungen herbeizuholen und zu verbinden, vermag sie die Gegenstände ihres Denkens weit über das, was ihr die Selbst- und Sinneswahrnehmung bietet, zu vermehren und zu vermannichfachen; sie bleibt aber dabei immer auf diese zwei Quellen beschränkt, welche ihr zuletzt den Stoff für all ihre Gebilde liefern, da die einfachen Vorstellungen allein den Dingen selbst entlehnt sind, und die Seele davon nicht mehr oder andere haben kann, als ihr zugeführt worden sind. Sie kann weder Vorstellungen von sinnlichen Eigenschaften über die hinaus haben, die ihr durch die Sinne von aussen zugeführt werden, noch andere Arten der Thätigkeit eines denkenden Wesens vorstellen, als die sie in sich selbst findet. Hat sie aber einmal diese Vorstellungen erlangt, so bleibt sie nicht auf die Wahrnehmung und das, was ihr von aussen sich bietet, beschränkt, sondern kann durch ihre eigene Kraft diese Vorstellungen verbinden und dadurch zusammengesetzte bilden, die sie als solche nie empfangen hat.

§ 3. (Sie sind entweder Zustände oder Substanzen oder Beziehungen.) Wie mannichfach auch[168] diese Vorstellungen verbunden und getrennt werden mögen, und wie endlos auch die Zahl und Mannichfaltigkeit sein mag, womit sie das Denken des Menschen erfüllen und ergötzen, so lassen sie sich doch sämmtlich auf die drei Arten der 1) Zustände, 2) der Substanzen und 3) der Beziehungen zurückführen.

§ 4. (Zustände.) Zustände nenne ich jene zusammengesetzten Vorstellungen, welche, wie sie auch verbunden sind, nicht als solche genommen werden, die für sich selbst bestehen; vielmehr gelten sie als von den Substanzen abhängend oder als Erregungen derselben; dahin gehören z.B. die durch die Worte: Dreieck, Dankbarkeit, Mord u.s.w. bezeichneten. Wenn ich hier das Wort Zustand in einer etwas ungewöhnlichen Bedeutung nehme, so möge man es entschuldigen; da bei Untersuchungen, die von den gewöhnlichen Begriffen sich entfernen, es unvermeidlich ist, entweder neue Worte zu machen, oder alte in etwas verändertem Sinne zu gebrauchen, und Letzteres ist hier vielleicht noch das Erträglichere.

§ 5. (Einfache und gemischte Zustände.) Von diesen Zuständen giebt es zwei Arten, die eine besondere Betrachtung verdienen; manche sind nur Abwechslungen oder Verbindungen ein und derselben einfachen Vorstellung, ohne dass eine andere ihr zugemischt wird; z.B. ein Dutzend oder ein Schock; es sind dabei eine gewisse Menge Einheiten nur zusammengerechnet, und ich nenne sie deshalb einfache Zustände, da sie sich innerhalb einer einfachen Vorstellung halten. Andere sind aus einfachen Vorstellungen verschiedener Art gebildet, um eine zusammengesetzte darzustellen; z.B.: Schönheit, die aus einer Verbindung von Farbe und Gestalt besteht, welche den Beschauer ergötzt; Diebstahl, als den heimlichen Wechsel des Besitzes einer Sache ohne Einwilligung des Eigenthümers. Sie enthalten, wie man sieht, eine Verbindung verschiedenartiger Vorstellungen; ich nenne sie gemischte Zustände.

§ 6. (Einzel- und Sammel-Substanzen.) Die Vorstellungen von Substanzen sind solche Verbindungen einfacher Vorstellungen, welche bestimmte einzelne für sich bestehende Dinge bedeuten. Die vermeintliche und verworrene Vorstellung der Substanz bleibt dabei[169] immer die erste und oberste. Verbindet man so mit Substanz die einfache Vorstellung einer trüben weisslichen Farbe, eines gewissen Grades von Gewicht, von Härte, Biegsamkeit und Schmelzbarkeit, so hat man die Vorstellung des Bleies, und ähnlich bildet die Verbindung einer gewissen Gestalt und der Kraft, zu bewegen, zu denken und zu begründen, mit der Substanz die gewöhnliche Vorstellung des Menschen. Es giebt zwei Arten Vorstellungen von der Substanz; die von einzelnen Substanzen, wie sie für sich, als ein einzelner Mensch oder als ein Schaf, bestehen, und die von mehreren solchen zusammen, wie z.B. ein Heer von Männern und eine Heerde Schafe. Diese Sammelvorstellungen mehrerer so zusammengestellter Substanzen sind ebenso eine einzelne Vorstellung, wie die eines Menschen oder einer Einheit.

§ 7. (Beziehung.) Drittens sind die letzte Art der zusammengesetzten Vorstellungen die sogenannten Beziehungen, die in der Betrachtung und Vergleichung einer Vorstellung mit einer andern bestehen. Diese verschiedenen Arten werde ich in dieser Ordnung behandeln.

§ 8. (Die den beiden Quellen fernsten Vorstellungen.) Verfolgt man die Thätigkeit des Verstandes, und betrachtet man aufmerksam, wie er seine von der Sinnes- und Selbstwahrnehmung empfangenen einfachen Vorstellungen wiederholt, zusammenstellt oder zu einer verknüpft, so führt dies weiter, als man anfänglich erwartet hat. Verfolgt man sorgfältig den Ursprung der Begriffe, so wird man finden, dass selbst die schwerfasslichsten Vorstellungen, wenn sie auch unsern Sinnen und Geistesthätigkeiten noch so fern zu stehen scheinen, doch nur Gebilde des eigenen Denkens sind, wobei sinnliche Vorstellungen oder Vorstellungen von den inneren Thätigkeiten aufgenommen und verbunden worden sind. Deshalb leiten sich selbst diese umfassenden und höchsten Vorstellungen von der Sinnes- und Selbstwahrnehmung ab und sind nur das Werk des Verstandes im Gebrauche seiner eigenen Vermögen und in Anwendung auf Vorstellungen von sinnlichen Gegenständen oder von ihm selbst wahrgenommenen Thätigkeiten. Ich werde versuchen, dies: an den Vorstellungen des Raumes, der Zeit, der[170] Unendlichkeit und einigen andern darzulegen, welche von diesem Ursprünge am weitesten entfernt zu sein scheinen.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 167-171.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1

Buchempfehlung

Aristophanes

Lysistrate. (Lysistrata)

Lysistrate. (Lysistrata)

Nach zwanzig Jahren Krieg mit Sparta treten die Athenerinnen unter Frührung Lysistrates in den sexuellen Generalstreik, um ihre kriegswütigen Männer endlich zur Räson bringen. Als Lampito die Damen von Sparta zu ebensolcher Verweigerung bringen kann, geht der Plan schließlich auf.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon