Entstehung der Empfindung

[86] Ferner, so frag' ich, was ist's, das den Geist in dem Glauben erschüttert,

Daß aus Empfindungslosem empfindendes Wesen sich bilde,[86]

Das ihn selbst doch erregt und ihn zwingt zu verschiedenem Fühlen?

Selbstverständlich weil niemals die Erde, die Hölzer und Steine,

Wenn auch gemischt, ein Lebensgefühl zu wecken vermögen.

Aber man darf hierbei nicht diese Beschränkung vergessen,

Daß ich nicht ausnahmslos aus allen erzeugenden Stoffen

Lasse sofort auch die Sinne und sinnenbegabten Geschöpfe

Leben gewinnen. Vielmehr kommt viel auf die Kleinheit der Körper

An, die Empfindung wecken, und welche Gestalt sie besitzen,

Endlich auch, welche Bewegung und Ordnung und Lage sie haben.

Davon sehn wir wohl nichts bei den Hölzern und Schollen der Erde,

Und doch bringen auch diese, sobald sie der Regen durchfeuchtet,

Lebende Würmer hervor, weil des Grundstoffs Urelemente

Aus den bisherigen Bahnen durch neue Gewalten gerissen

Sich, wie es nötig, vereinen zur Schöpfung lebender Wesen.

Wenn dann einige, die das Empfindende lassen entstehen

Nur aus Empfindendem, weiter aus ändern empfindenden [Teilchen

Dies herleiten, so nehmen sie einen vergänglichen Urstoff

An,] da sie weich ihn sich denken. Der Sinn bleibt immer gebunden

An die Geweide, die Adern und Nerven, die alle vergänglich,

Da sie ja doch, wie man sieht, aus weichen Gebilden bestehen.

Aber gesetzt auch den Fall, sie könnten von ew'gem Bestand sein,

Müßten sie doch entweder den Sinn des Organes behalten

Oder es müßten die Teile wie ganze Geschöpfe empfinden.

Doch kein Einzelorgan besitzt selbständiges Fühlen;

Denn auf die ändern muß achten ein jedes der Einzelgefühle,

Und unmöglich vermag getrennt von dem übrigen Körper

Weder die Hand noch ein anderes Glied für sich zu empfinden.

So bleibt übrig allein, daß die Glieder dem ganzen Geschöpfe

Gleichen und gleiches Gefühl wie wir selbst notwendig entwickeln,

Um zusammenzustimmen in gleichem Lebensgefühle.

Also wie können Gebilde, wie diese, Prinzipien heißen?

Wie als lebende Wesen die Pfade des Todes vermeiden,

Da lebendiges Wesen soviel wie sterblich bedeutet?

Ja, entrannen sie ihm, so würde durch ihre Verbindung

Nur ein gemeines Gewirre von zahllosen Wesen entstehen,

Wie ja auch klärlich, wenn Menschen mit Zugvieh oder mit Bestien

Umgang pflögen, kein Wesen aus dieser Verbindung entstünde.

Wenn nun jene Gebilde die eig'ne Empfindung verlören

Und sie andre bekämen, wozu denn gibt man dem einen,[87]

Um es dem ändern zu rauben? Zudem läßt, was ich schon angab,

(Insofern wir ja sehen, wie Eier in lebende Küken

Sich verwandeln, wie Würmer dem Boden entwimmeln, sobald er

Durch unzeitigen Regen die nötige Fäulnis erhalten)

Jetzt sich wirklich erkennen, daß Sinne sich bilden aus Nichtsinn.

Sollte nun einer behaupten, allein die Veränderung könne

Aus Empfindungslosem empfindende Wesen erzeugen

Oder auch gleichsam ein Akt der Geburt, durch den man hervortritt:

Wird es genügen, ihm dies zu beweisen und deutlich zu machen.

Daß nur nach der Vereinigung erst die Geburten erfolgen,

Und daß auch die Verändrung nur nach Vereinigung statthat.

Erstlich kann es bei keinem der Körper Empfindungen geben,

Ehe das lebende Wesen noch selber ins Leben getreten.

Denn zerstreut ist der Bildungsstoff (dies ist ja kein Wunder)

Über die Luft und das Wasser, die Erd' und der Erde Gewächse,

Und er vereinigt noch nicht zusammengeschart zueinander

Passende Lebenskräfte, von deren Strahlen entzündet

Jedes Geschöpf sich erhält durch die alles gewahrenden Sinne.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 86-88.
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