Form der Atome

[70] Doch jetzt höre von mir, wie die Grundelemente der Dinge

Alle sich mannigfaltig in ihren Gestalten erweisen.

Nicht als ob gar viele zu wenig sich ähneln im Aussehn:

Nein, in der Regel ist alles von allem in allem verschieden.

Dies darf Wunder nicht nehmen. Die Fülle der Urelemente

Ist ja so groß, wie gesagt, daß sie zahllos scheint und unendlich;

Denn nicht sämtlich dürfen sie sämtlichen ähnlich gezwirnt sein,

Noch auch selbstverständlich in ähnlichen Formen erscheinen.


* * *


Sieh auch das Menschengeschlecht und die schwimmenden, schuppigen, stummen

Tiere des Meers und das Wild und die fröhlichen Rinder der Herde,

Ferner das bunte Gevögel, das bald die erfrischenden Küsten

Um die Buchten des Meeres, bald Quellen und Seen bevölkert,

Oder die einsamen Haine in dichtem Geschwader durchflieget:

Nimm dir nach Gattungen einzeln sie vor, stets wirst du erkennen,

Daß sie in ihrer Gestalt doch sehr voneinander sich scheiden.

Anders könnten ja auch die Kinder die Mutter nicht kennen,

Oder die Mutter die Kinder. Das können sie aber bekanntlich.

Denn so gut wie die Menschen erkennen einander die Tiere.

Vor dem Tempel der Götter, dem festlich geschmückten, wird oftmals

Wohl ein Kälbchen geschlachtet, am weihrauchduftenden Altar,

Wo aus röchelnder Brust sich ergießt sein glühender Blutstrom,

Aber die Mutter durchwandert verwaist die ergrünenden Täler,

Sie erkennt auf dem Boden die Spur der gespaltenen Füße

Und durchsucht ringsum das Gefild, ob sie irgendwo könnte

Ihr verlorenes Junge erblicken. Sie füllt mit Gejammer

Ständig den grünenden Hain und kehrt dann wieder und wieder

Zu dem Stalle zurück, von der Liebe zum Kinde getrieben;

Weder die Schossen der Weide, noch taufrisch lockender Rasen,

Noch der vertraute Strom, der in ragenden Ufern dahinfließt,

Können das Herz ihr erfreun und den nagenden Kummer ihr bannen;

Auch die heiteren Sprünge der übrigen Kälber im Grase

Können den Sinn ihr nicht wenden, nicht ihre Bekümmernis heben:

So sehr sehnt sich das Tier nach etwas Bekanntem und Eignem.[71]

Auch die Böckchen erkennen die hörnertragenden Mütter

Jung schon mit zitternden Stimmen, nicht minder die stößigen Lämmer

Ihre blökenden Mütter. So eilt denn ein jedes der Jungen,

Wie die Natur es verlangt, zu der Mutter milchenden Eutern.

Endlich wirst du wohl nie bei der Feldfrucht jegliches Körnchen

Untereinander so ähnlich erblicken in jeglicher Gattung,

Daß sich nicht Unterschiede der Formen dazwischen ergäben.

Auch das Muschelgeschlecht malt so mit bunten Gestalten

Unseren Erdenschoß, wo das Meer mit dem weichen Gewoge

An dem gewundenen Strande den gierig schlürfenden Sand schlägt.

Deshalb müssen genauso (ich sag' es dir wieder und wieder)

Alle die Urelemente gewisse Verschiedenheit zeigen

Untereinander in ihrer Gestalt, da sie Werk der Natur sind,

Nicht nach einer Schablone von Menschenhänden gebildet.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 70-72.
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