Poetische Einlage. Die Phrygische Göttermutter

[78] Deshalb nennt man die Erde die große Mutter der Götter,

Mutter des Wilds und zugleich auch die Schöpferin unseres Leibes.

Diese Göttin, so singen gelehrte hellenische Dichter,

[Komme aus Phrygiens Bergen und luftigen] Sitzen [hernieder]

Hoch zu Wagen und lenke die Löwen im Doppelgespanne.

Damit lehren sie uns, daß die mächtige Erde im Luftraum

Schwebe. Denn Erde vermag sich nicht wieder zu stützen auf Erde.

Bestien fügten sie zu, weil selbst der verwildertste Nachwuchs

Sanfterem Dienste sich weiht, wenn Mutterliebe ihn zügelt.

Auch umgaben sie ihr mit der Mauerkrone den Scheitel,

Weil mit dem Schutze der ragenden Höhn sie die Städte beschirmet.

Drum schmückt dies Diadem ihr Haupt, wenn der göttlichen Mutter

Bildnis zieht durch die Lande und überall schaudernde Scheu weckt.

Als Idäische Mutter verehren sie mancherlei Völker

Heiligem, altem Gebrauche getreu, und die phrygischen Diener

Geben sie ihr zum Geleit, weil dort auf jenen Gefilden,[78]

Wie man berichtet, der Weizen zuerst auf Erden gebaut ward.

Auch die verschnittenen Gallen, erklärt man uns, seien ihr Anhang,

Weil die Verächter der Mutter und die sich den Eltern nicht immer

Dankbar hätten erzeigt, nicht wert mehr seien zu achten,

Lebende Nachkommenschaft in des Lichtes Gefilde zu führen.

Donnernd erdröhnt in den Händen die Pauke, die Cymbeln erschallen

Hohl, und mit rauhem Getön schallt drohend das schmetternde Hifthorn,

Während das flötende Rohr durch phrygische Rhythmen den Sinn peitscht.

Schwerter stürmen hervor als Zeichen wildesten Wahnsinns,

Die in den undankbaren und gottlosen Herzen des Volkes

Schrecken erregen und Angst vor der Göttin geheiligtem Namen.

Wenn nun die Göttin so in die größeren Städte den Einzug

Hält und mit stummem Gruß die Sterblichen schweigend beglücket,

Decken sie ihren Weg ganz zu mit dem Silber und Kupfer,

Das sie in reichlichen Spenden ihr weihn, und schneen mit Rosen

Völlig sie ein, daß die Mutter mit ihren Begleitern verhüllt ist.

Hier erscheinen bisweilen Gewappnete, welche Kureten

Griechische Zunge benennt, die, wenn sie im phrygischen Haufen

Scheinkampf spielen und blutüberströmt im Takte sich schwingen,

Während vom Haupt ihr Helmbusch nickt, ein schrecklicher Anblick,

Uns in Erinnerung rufen die kretischen Dikte-Kureten,

Die einst kindliches Wimmern des Zeus nach der Sage verbargen;

Denn in hurtigem Reigen umgaben die Knaben das Knäblein,

Während sie waffenbewehrt nach dem Takte das Erz mit dem Erze

Schlugen, damit nicht Saturn den Ertappten zum Rachen befördre

Und dem Herzen der Mutter die ewige Wunde nicht schlage.

Drum sind gewappnete Scharen der großen Göttin Begleiter,

Oder sie deuten darauf, daß die Göttin befehle, mit Waffen

Und mit tapferem Mut das Vaterland zu beschützen,

Wie sie bereit sein sollen zum Schutz und zur Zierde der Eltern.

All dies, mag es auch noch so schön und trefflich erdacht sein,

Weicht doch weit, weit ab von dem richtigen Wege der Wahrheit,

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 78-79.
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