Die Atome des Geistes

[101] Welcherlei Körper der Geist nun besitzt und aus welchen Atomen

Dieser besteht, soll weiter mein Vers dir näher erläutern.

Erstlich behaupt' ich, er sei aus den allerfeinsten und kleinsten

Urelementen gebildet. Daß dieses sich also verhalte,

Magst du aus folgendem lernen, so daß es dir völlig gewiß wird.

Nichts in der Welt scheint wohl an Geschwindigkeit irgend zu gleichen

Unserem Geist, der im selben Moment, was er denkt, auch schon anfängt.

Also bewegt sich der Geist viel schneller als irgendwas andres

Aus dem Bereiche der Dinge, die unserem Auge sind sichtbar.

Aber nun kann doch ein Ding, das so leicht sich bewegt, nur bestehen

Aus ganz kugelig runden und allerkleinsten Atomen,

Die beim leichtesten Stoß sofort in Bewegung sich setzen.

Denn auch das Wasser bewegt sich und wogt beim leisesten Anstoß,

Da es sein Dasein dankt leicht rollenden kleinen Figuren.

Andererseits hat der Honig die ungleich festere Fügung:

Zäher fließen die Tropfen und zögernder ist die Bewegung.

Denn das Gefüge des Stoffs hängt hier viel fester zusammen

Untereinander. Natürlich; es hat ja weniger glatte,

Weniger feine und auch viel weniger runde Atome.

Nimm nun die Körner des Mohns: das leiseste, schwebende Lüftchen

Läßt auch den stattlichsten Haufen von oben herunter zerrinnen;

Aber bei einem Gehäufe von Steinen oder von Ähren

Ist das unmöglich. Mithin je kleiner und glatter die Körper

Sind von Natur, um so mehr wird ihre Beweglichkeit wirksam.[101]

Alle jedoch, die im Gegenteil recht wuchtig erscheinen,

Und nicht minder die rauhen, sind um so besser gefestigt.

Nunmehr, wo wir erkannt die Beweglichkeit äußersten Grades

Als das Wesen des Geistes, ergibt sich unweigerlich, daß er

Aus ganz winzigen, glatten und runden Atomen bestehe.

Diese Erkenntnis mein Bester, die nun du gewonnen, sie wird sich

Dir noch in mancher Beziehung als nützlich und förderlich zeigen.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 101-102.
Lizenz:
Kategorien: