Die Atome der Seele

[102] Auch das folgende wird dir das Wesen der Seele erläutern,

Wie so fein ihr Gewebe und wie sie mit winzigem Raume

Auskommt, falls ein Zusammenschluß sich nur irgend ermöglicht.

Nämlich sobald nur den Menschen die friedliche Ruhe des Todes

Überwältigt, sobald mit dem Geiste die Seele geschieden,

Siehst du doch keinen Verlust an der ganzen Gestaltung des Körpers

Weder nach Form noch Gewicht. Der Tod zeigt alles wie vordem,

Nur fehlt jetzt ihm das Lebensgefühl und die feurige Wärme.

Also muß doch die Seele in Adern, Geweiden und Sehnen

Nur durch die kleinsten Atome sich ganz mit dem Leibe verknüpfen.

Denn selbst wenn sie vom Körper nun ganz und gar sich getrennt hat,

Bleibt ihm doch völlig erhalten der äußere Umriß der Glieder,

Und an dem alten Gewicht fehlt auch kein einziges Quäntchen.

Ähnlich verflüchtigt sich auch die Blume des Weines, und wenn sich

Lieblicher Duft in die Lüfte dem Salbölfläschchen entwindet,

Oder wenn irgendein Saft aus anderem Körper entweichet,

Ohne daß dieser nun selbst deswegen für unsere Augen

Kleiner erschien' und ohne daß irgendwas fehlt' am Gewichte.

Wunderbar ist dies nicht. Denn viele winzige Keime

Bildenden Saft und Geruch in dem ganzen Körper der Dinge.

Darum präge dir ein (ich verkünd' es dir wieder und wieder),

Daß die Natur wie den Geist so die Seele aus winzigen Keimen

Schuf, weil, wenn sie entweichen, sich nichts im Gewichte verändert.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 102.
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